Spielräume produzieren - Sophiensaele
Herausgegeben von Amelie Deuflhard
Paperback mit 144 Seiten, Format: 230 x 270 mm
ISBN 978-3-934344-78-5
Die Sophiensaele sind seit zehn Jahren mehr als eine Spielstätte der Freien Szene. Sie sind eines der wichtigsten kulturellen Zentren in Berlin und eine der zentralen internationalen Plattformen für Theater-, Tanz-, Performance- und Musikprojekte. Seit ihrer Gründung im Jahr 1996 haben sie sich zum stilbildenden Modell entwickelt - ästhetisch wie organisatorisch. Das Buch stellt in Texten und Fotografien nicht nur die einzigartige Geschichte der Sophiensaele vor, sondern fragt in verschiedenen Essays von Amelie Deuflhard, Adrienne Goehler, Carl Hegemann und in Gesprächen u. a. mit Jochen Sandig und Sasha Waltz nach dem exemplarischen Charakter der an den Sophiensaelen entwickelten Denk- und Arbeitsweisen. Mit einem Fotoessay von Holger Herschel.
Runde Geburtstage werden gern zum Anlass für ein rauschendes Fest genommen. In ruhigen Momenten bieten sie aber auch die Gelegenheit, auf die vergangenen Jahre zurückzublicken. Ein Nachdenken über die Sophiensæle ist dabei untrennbar verbunden mit einem Nachdenken über Strukturen und Produktionsweisen des Theaters und der Freien Szene in Berlin und anderswo. „Spielräume produzieren" zeichnet deshalb zehn Jahre Sophiensæle in Wort und Bild nach, unternimmt aber gleichzeitig eine Bestandsaufnahme der Freien Szene und ihrer Potenziale. Da sich die Produktionen der Freien Szene über ästhetische Kategorien allein nicht beschreiben lassen, werden genauso ihre Strukturmechanismen untersucht: Wie konstituiert sich die Freie Szene? Inwiefern unterscheidet sich ihre Arbeit von der an Staats- und Stadttheatern? Welche Produktionsmodelle gibt es? Wie entsteht der Dialog mit dem Publikum, mit welchen Strategien von Seiten der entsprechenden Häuser wird er aufgenommen? Welche Rolle spielt die Politik? Und welche Funktion hat kooperatives Arbeiten? Welche gesellschaftliche Relevanz geht von der Szene aus und wie vernetzt sie sich untereinander, in die Stadt, überregional und international?
Zeitgenössisches Theater kann nicht losgelöst von andern künstlerischen und gesellschaftlichen Entwicklungen betrachtet werden, wenn es für sich einen anderen Anspruch erhebt, als dem Kino und Fernsehen Unterhaltungskonkurrenz zu machen. Es hat die Möglichkeit, sich brennenden gesellschaftlichen Themen zuzuwenden und neue Darstellungsweisen zu erproben. Auch auf den institutionellen Bühnen wissen alle Beteiligten längst, dass Repräsentation von Wirklichkeit heute nicht allein mit psychologischem Naturalismus zu bewerkstelligen ist. Die Freie Szene versucht mit anderen Formen als der möglichst echten Reproduktion menschlicher Affekte oder dem verfremdeten Zeigen äußerer Zusammenhänge zu spielen.
In Deutschland ist das Stadttheatersystem aber so dominierend, dass es freiproduzierende Einheiten lange schwer hatten, sich als wirkliche Alternative durchzusetzen. Allerdings haben die letzten Jahre gezeigt, dass die Arbeit in der Freien Szene zu einer ernstzunehmenden Alternative und zu einem Motor künstlerischer Entwicklungen geworden ist. Die Chance der Freien Szene liegt dabei in der autonomen Produktionsweise, die es ermöglicht, Sparten- und Ländergrenzen zu verflüssigen und andere Erfahrungsräume zu kreieren.
Die Theater in Europa, selbst die konventionellen Repertoirebühnen, sind außerhalb der deutschsprachigen Länder nahezu überall strukturell wie die Freie Szene organisiert. Während das Stadttheater eher insular arbeitet, hat die Freie Szene die Möglichkeit, in andere Zusammenhänge auszugreifen, sich in bestimmte Szenen zu vernetzen, Produktionen für verschiedene Städte oder in internationalen Zusammenhängen zu erarbeiten. Es gibt keine festgelegte Struktur, auch kein Ensemble, das die Arbeitszusammenhänge vorab bestimmt; die Strukturen sind offene, flexible Gefäße, die sich je nach Bedürfnissen in sehr unterschiedliche Richtungen bewegen können.
Vor zehn Jahren wurden die Sophiensæle von Jochen Sandig, Sasha Waltz, Lubricat und Jo Fabian gegründet. Und wie so oft in diesen Jahren war es Jutta Weitz von der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte, die sich dafür einsetzte, das leerstehende Gebäude an Kulturschaffende zu vermieten. Ohne einen Pfennig öffentliches Geld wurde das Konzept für einen Produktionsort für Künstler geschaffen. Ein Raum, in dem Produktionen erarbeitet und präsentiert werden sollten, Probenräume und Management vor Ort. Sandig brachte seine Programmerfahrungen vom Tacheles mit, plante aber von Anfang einen neuen Schritt: ein Produktionshaus, das national wie international produzieren sollte. Ein Haus, das nicht auf sonst übliche Konkurrenzen oder Abgrenzungen setzte, sondern stets kooperativ in die Stadt arbeitete. Ohne Partner wie die Berliner Festwochen oder Tanz im August wären internationale Produktionen längst nicht in dem Umfang möglich gewesen wie sie von Anfang an stattfanden. Auch kuratierte Programmreihen wie Ultraschall oder Tanztage wurden frühzeitig wichtiger Bestandteil des Programms.
Sasha Waltz machte bereits mit der Eröffnungsproduktion „Allee der Kosmonauten" Furore und die Sophiensæle in Berlin wie anderswo bekannt. Ohne Sasha Waltz, die nicht nur all ihre Arbeiten bis Ende 1999 in den Sophiensælen produzierte und zeigte, sondern das Haus auch finanziell erheblich unterstützte und sich mit ihrer ganzen Person und Company für diesen Raum einsetzte, wären die ersten Jahre nicht denkbar gewesen. Lubricat produzierte von Anfang an und über zehn Jahre vor Ort. Lászlo Hudi zeigte in den Sophiensælen seine „Beckett Songs" erstmals außerhalb von Ungarn, erarbeitete danach mehrere Inszenierungen und startete von den Sophiensælen aus seine internationale Karriere. Jérôme Bel, tg STAN, Elevator Repair Services, Árpád Schilling - die Liste der Künstler, die schon früh ihre Arbeiten hier zeigten, ist lang. Und viele Berliner Künstler starteten in den Sophiensælen: Nico and the Navigators mit ihrem sehr eigenständigen Bildertheater, das vor allem die Verlorenheit des Einzelnen thematisiert, Constanza Macras mit ihrem eindrucksvollen Tanztheater, Holger Friedrich, der vornehmlich mit dem Projekt „Schlafsaal. Mittagsruhe in Berlin" Aufsehen erregte, Ivan Stanev, Christiane Pohle, Uli Rasche, Christian von Borries und so viele mehr.
Nach zehn Jahren bildet ein Stamm von Künstlern, Tänzern, Schauspielern, Performern, die regelmäßig an den Sophiensælen arbeiten, ein virtuelles Kernensemble. Die Berliner Szene, längst international geworden, ist die Basis - aus ihr wird geschöpft. Und ihr bieten die Sophiensæle einen Freiraum, der ihre Arbeiten überhaupt erst mit ermöglicht. Für die Sophiensæle ist Vernetzung dabei kein Abstraktum, sondern entsteht aus mehreren Notwendigkeiten, vor allem aus künstlerischen. Die Vernetzung in die Stadt hat viele Facetten. Eine davon ist das Publikum. Die Vermittlung, gerade auch schwieriger oder neuer Arbeiten, ist existenzieller Teil der Arbeit. Theater machen heißt immer auch, Dialoge aufzunehmen. Das Publikum ist ein Partner, der ernstgenommen wird. Kooperationen mit anderen Institutionen der Stadt, mit Kuratoren oder Produzenten sind selbstverständlich, begründen sich aber stets in gemeinsamen künstlerischen Absichten. Die Grenzen sind ohnehin durchlässig geworden, die ehemals strikte Trennlinie zwischen Stadttheater und Freier Szene hat sich längst aufgelöst.
Offen sind auch die Grenzen von den Theaterräumen in die Stadt. Nicht selten wird der Stadtraum zur Bühne. Über Jahre eigneten sich die Sophiensæle-Künstler städtische Räume an, unternahmen Zwischennutzungen mit sehr unterschiedlichen Zielen und sind damit einer der Protagonisten der kulturellen Entwicklung der Nachwendezeit. Pionier unter den Raumaneignern ist Christian von Borries. Er war es auch, der mich zum Abenteuer der Bespielung des Palastes der Republik verführte. Dort begann die Zusammenarbeit mit Benjamin Foerster-Baldenius von raumlabor-berlin. Er transformierte den Palast der Republik zu einem Berg (VOLKSPALAST - DER BERG). Stets verweist die Arbeit von raumlabor-berlin auf Potenziale scheinbar verlorener Areale, so dass Leerstände zu sozialen Skulpturen mutieren, mit Verweis auf die Zukunft. Oder Constanza Macras, die im Sommer 2000 mit „Dolce Vita" eine Fleischerei in Prenzlauer Berg mit großen Teilen der Tanzszene zum Kultort Berlin verwandelte und einen ähnlichen Geniestreich mit „Back to the Present" wiederholte. Angela Schubot (Two Fish) machte in Berlin die ersten Wohnungsprojekte, Tobias Rausch 2006 einen ersten Vorschlag für eine kulturelle Umnutzung des Flughafens Tempelhof. Alles Interventionen in den städtischen Raum auf der Suche nach Reibungsflächen und Authentizität, erstellt von Künstlern, die Lust haben, ihre Projekte sehr konkret für bestimmte Räume zu entwickeln.
Die Entwicklung der Freien Szene in Berlin wäre dabei ohne jene veränderten Rahmenbedingungen undenkbar, die in den letzten Jahren entstanden sind. Mit dem Hauptstadtkulturfonds und der Bundeskulturstiftung wurden zwei Förderinstrumente geschaffen, durch die vieles nicht nur in Berlin möglich wurde. Seit einigen Jahren herrscht mit den Fördereinrichtungen eine erstaunlich kooperative Atmosphäre, ein Klima des Austausches und der Kommunikation.
Und last, but not least: Dank an Jochen Sandig und Sasha Waltz, die mir die Sophiensæle Anfang 2000 anvertraut haben, an Jutta Weitz von der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte, die so viele Freiräume in Berlin geöffnet hat, den fünf Berliner KultursenatorInnen, die die Potenziale der Sophiensæle erkannt und gefördert haben, allen MitarbeiterInnen der Senatsverwaltung und des Hauptstadtkulturfonds für ihre Unterstützung, der Bundeskulturstiftung und ihren MitarbeiterInnnen, allen Freunden, Kollegen und Förderern; Dank an Michael Mans, Christian Holtzhauer und Thomas Frank, die über Jahre das Programm mitgeprägt haben. Besonders danken möchte ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Sophiensæle für ihren engagierten Einsatz, unseren beiden technischen Leitern Jörg Bittner und Stefan Neumann und dem gesamten technischen Team. Ohne euch wäre der ganze Wahnsinn nicht möglich gewesen! Im Zentrum des Hauses stehen die Künstlerinnen und Künstler, die die Sophiensæle über Jahre gestaltet haben. Danke für eure Arbeit, die vielen anregenden Gespräche und erstaunlichen Theater/Tanz/Musikerlebnisse!
Für die Buchproduktion gilt mein Dank dem Fotografen Holger Herschel, der exklusiv für diesen Band einen Fotoessay geschaffen hat, er gilt den Autoren und Autorinnen, Anna Poeschel und Thomas Frank, die das Buch konzeptionell mit entwickelt haben, der Grafikerin Sibyll Wahrig, dem Redakteur Dirk Pilz für viele Anmahnungen und hervorragende redaktionelle Arbeit und Harald Müller, dem Geschäftsführer im Verlag Theater der Zeit.
Amelie Deuflhard, August 2006
Kapitel | Seite |
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Grusswortvon Thomas Flierl | Seite 6 |
Fotoessayvon Holger Herschel | Seite 10 |
Eine ganz eigene EnergieEin Gespräch mit Sasha Waltz und Jochen Sandig über die Gründung der Sophiensæle, die Magie der Räume und die Suche nach neuen Wegen.von Renate Klett | Seite 35 |
Sophie träumtÜber die Anfänge. Von Jochen Sandigvon Jochen Sandig | Seite 40 |
Neunzehnhundertsechsundneunzig im Dritten StockÜber das Arbeiten in den Sophiensælen, die Anfänge vor zehn Jahren und das Stück „Durchgehend geöffnet“.von Dirk Cieslak | Seite 45 |
WiderspruchsvervielfältigungZehn Jahre Sophiensæle als zehn Jahre Arbeit an der Nicht-Vereinigung von Ästhetiken, Spielweisen und Inszenierungsstilenvon Dirk Pilz | Seite 49 |
Lass uns Komplizen findenEin Gespräch mit Amelie Deuflhard, Christine Peters, Res Bosshart und Matthias Lilienthal über das Publikum, die Arbeit und die Entwicklungen in der Freien Szene.von Nikolaus Merck und Nina Peters | Seite 55 |
Ideengenerator Freie SzeneEine Zwischenbilanz für die Sophiensæle.von Amelie Deuflhard | Seite 66 |
Cross the border, close the gapÜber internationale Produktion interdisziplinärer Kunst.von Thomas Frank | Seite 72 |
Durch Leiden lernenBausteine für eine Dramaturgie der Gegenwart.von Carl Hegemann | Seite 76 |
Diesseits von Eigentlichkeit und IdentitätÜber die Verschiebung und Auflösung der Genregrenzen zwischen Theater, Tanz und bildender Kunst.von Gerald Siegmund | Seite 83 |
Urbane PerformanceZu einigen Aspekten Berliner Zwischennutzungen.von Benjamin Foerster-Baldenius und Nikolai Franke | Seite 89 |
Eröffnung eines unheimlichen RaumesInterventionen in den Öffentlichen Raum mit dem Radio.von Gruppe Ligna | Seite 95 |
GoldgräberstückÜber Berlin als Laboratorium und die Sophiensæle als Prototyp für gesellschaftliche Veränderung.von Adrienne Goehler | Seite 101 |
Kulturelle AllianzenÜber die Anforderungen an eine zukunftsfähige Kulturpolitikvon Oliver Scheytt | Seite 105 |
Grusswort aus Parisvon Jérôme Bel | Seite 109 |
Chronik | Seite 134 |
Autorinnen und Autoren | Seite 139 |
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Zur Herausgeberin
Amelie Deuflhard
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Bibliographie
Beiträge von Amelie Deuflhard finden Sie in folgenden Publikationen:
Heft 10/2022
Der Untergang des russischen Theaters
Arbeitsbuch 30
transformers
digitalität inklusion nachhaltigkeit
Masters of the Universe
Theater der neuen Generation
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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