Arbeitsbuch 30
transformers
digitalität inklusion nachhaltigkeit
Herausgegeben von Marcus Lobbes, Juliane Zellner und Jonas Zipf
Paperback mit 168 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISBN 978-3-95749-364-4
Corona führt uns vor Augen, mit welchen schwelenden gesellschaftlichen Konflikten wir zu kämpfen haben. Die gewohnte Wachstumslogik des „Weiter so“ und „Mehr vom Gleichen“ stößt an absehbare Grenzen. Spätestens jetzt ist allen klar, dass mit dem Weg aus der Pandemie eine große Transformation auf den Feldern Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Inklusion einhergehen muss. Auch dem Theaterbetrieb stellen sich Fragen nach Öffnung und Teilhabe, nach Klimawandel und Organisationsentwicklung sowie nach den sich stark verändernden Kommunikations- und Interaktionsmustern. Das vorliegende Arbeitsbuch versammelt Texte und Thesen, bietet Ansätze und Ausblicke und skizziert Prozessdesigns der Veränderung.
Denn nur wenn es dem Theater gelingt, sich den Fragen der Zeit radikal zu stellen, sich inhaltlich und strukturell grundlegend zu wandeln, wird es ein Theater der Zukunft geben.
Mit Beiträgen von Bruno Latour, Silke van Dyk, Friedrich von Borries, Amelie Deuflhard, Katharina Warda, Adrienne Goehler, Tina Lorenz, Berthold Schneider, Uwe Schneidewind, Nicola Bramkamp, Anta Helena Recke, Helgard Haug, Alexander Giesche, Hortensia Völckers, u. a.
Solange die Erde noch stabil schien, konnte man von Raum sprechen und sich darin und auf einem Stück Territorium, das wir angeblich besetzt hatten, platzieren. Was aber soll man tun, wenn das Territorium selbst an der Geschichte teilzunehmen beginnt, Schlag auf Schlag zurückgibt, kurzum: sich mit uns beschäftigt? Die Bedeutung des Ausdrucks »Ich gehöre (zu) einem Territorium« hat sich gewandelt: Er bezeichnet jetzt die Instanz, die den Eigentümer in Besitz hat!
Das TERRESTRISCHE stellt nicht länger allein den Rahmen menschlichen Handelns dar, es ist vielmehr Teil davon. Der Raum ist nicht mehr der mit ihrem Raster aus Längen- und Breitengraden erfasste der Kartografie, sondern ist zu einer bewegten Geschichte geworden, in der wir selbst nur Beteiligte unter anderen sind, die auf Reaktionen anderer reagieren. Augenscheinlich landen wir mitten in der Geogeschichte.
Sich in Richtung des GLOBALEN aufmachen hieß, auf einen unendlichen Horizont zu immer weiter fortschreiten, eine endlose Grenze vor sich hertreiben; wandte man sich dagegen der anderen Seite zu, hin zum LOKALEN, dann in der Hoffnung, die Sicherheit einer stabilen Grenze und die Geborgenheit einer festen Identität wiederzufinden.
Dass es uns heute so schwerfällt zu erkennen, welcher Epoche wir angehören, rührt daher, dass dieser dritte Attraktor allen bekannt und zugleich vollkommen fremd ist.
Das TERRESTRISCHE ist zweifellos eine NEUE WELT, ähnelt aber keineswegs der einst von den Modernen »entdeckten«, dann aber entvölkerten. Das ist keine neue Terra incognita für Forscher mit Kolonialhelm. Keinesfalls handelt es sich um eine res nullius, bereit zur Appropriation.
Im Gegenteil, die Modernen migrieren auf eine Erde zu, ein Terroir, einen Boden, einen Landstrich, ein Gelände, egal, wie man es nennen will, das bereits besetzt, seit je bevölkert ist. Und das, seit Kurzem, von einer Vielzahl derer wiederbevölkert wird, die lange vor den anderen gespürt haben, wie notwendig es war, sich schleunigst dem Gebot der Modernisierung zu entziehen.
In dieser Welt befindet sich der moderne Geist gleichsam im Exil. Er wird lernen müssen, mit jenen zusammenzuleben, die er bisher als Altvordere, Traditionalisten, Reaktionäre oder schlicht als Lokalpatrioten betitelte. Doch so alt dieser Raum auch sein mag, er ist für alle neu, da es, verfolgt man die Diskussionen der Klimaspezialisten, für die gegenwärtige Situation schlicht keinen Präzedenzfall gibt. Da haben wir die wicked universality, den universellen Mangel an Erde.
Was wir Zivilisation, Kultur nennen, sagen wir die im Laufe der letzten zehn Jahrtausende angenommenen Gewohnheiten, hat sich, so erklären die Geologen, innerhalb eines erstaunlich stabilen geografischen Raums und Zeitabschnitts vollzogen. Das – von ihnen so bezeichnete – Holozän wies alle Merkmale eines »Rahmens« auf, innerhalb dessen man mühelos das Handeln der Menschen unterscheiden konnte – so wie man im Theater Räumlichkeit und Kulissen vergessen und sich auf die Handlung konzentrieren kann.
Das trifft auf das Anthropozän nicht mehr zu, diesen umstrittenen Terminus, mit dem einige Experten gerne den gegenwärtigen Zeitabschnitt bezeichnen würden. Hier geht es nicht mehr um kleine klimatische Schwankungen, sondern um eine das gesamte Erdsystem tangierende Erschütterung.
Natürlich haben die Menschen schon immer ihre Umwelt verändert, aber dieser Begriff bezeichnete nur ihr Umfeld, das, was sie im präzisen Sinne umgab. Sie selbst bildeten weiterhin die Hauptfiguren, veränderten lediglich am Rande das Dekor ihrer Dramen.
Heute sind alle: Dekor, Kulissen, Hinterbühne, das gesamte Gebäude, auf die Bühnenbretter gestiegen und machen den Schauspielern die Hauptrolle streitig. Das schlägt sich in den Textbüchern nieder, legt andere Ausgänge der Intrigen nahe. Die Menschen sind nicht mehr die einzigen Akteure, sehen sich zugleich aber mit einer Rolle betraut, die viel zu groß für sie ist.
Dass man sich nicht mehr dieselben Geschichten erzählen kann, steht jedenfalls fest. Die Spannung ist auf dem Höhepunkt.
Also zurück? Nochmals die alten Rezepte lernen? Mit einem veränderten Blick die tausendjährigen Weisheiten anschauen? Von den wenigen Kulturen lernen, die noch nicht modernisiert wurden? Ja, sicher, aber ohne sich dabei in Illusionen zu wiegen: Auch für sie gibt es keinen Präzedenzfall.
Keine menschliche Gesellschaft, wie weise, subtil, achtsam, vorsichtig wir sie uns auch vorstellen, musste sich bisher mit den Reaktionen des Systems Erde auf das Handeln von acht bis neun Milliarden Menschen befassen. Die in zehntausend Jahren akkumulierte Weisheit, selbst wenn wir wieder zu ihr vordringen sollten, hat nie mehr als ein paar hundert oder tausend, bestenfalls ein paar Millionen Menschen auf einer eher stabil bleibenden Bühne Nutzen gebracht.
Die Leere der gegenwärtigen Politik bleibt ein Rätsel, wenn man sich nicht klarmacht, wie beispiellos die jetzige Situation ist. Das kann einen wahrlich in Schockstarre versetzen.
Zumindest können wir jetzt die Reaktion derer besser nachvollziehen, die sich zur Flucht entschlossen. Warum sollte man sich freiwillig diesem Attraktor zuwenden, wenn man gerade dem Horizont der universellen Modernisierung entgegensegelte?
Sich aus freien Stücken einer solchen Situation zu stellen, gemahnt an den Helden aus Edgar Allan Poes Novelle Sturz in den Mahlstrom. Was den einzigen Überlebenden, den alten Seemann von den Lofoten, von den Ertrunkenen unterscheidet, ist die kaltblütige Aufmerksamkeit, mit der er die Bewegung der Bruchstücke, die der Strudel um ihn herumwirbelt, beobachtet. Als das Schiff in den Schlund getrieben wird, klammert sich der Erzähler an ein leeres Fass und überlebt.
Es gilt, so listenreich zu sein wie dieser alte Seemann: nicht daran glauben, dass man sich entziehen kann; nicht aufhören, mit wachen Sinnen zu beobachten, wohin die Trümmer treiben; so lässt sich möglicherweise blitzartig erfassen, warum einige Trümmerstücke in die Tiefe gezogen werden, andere Teile aufgrund ihrer Form dagegen als Rettungsringe dienen könnten. »Mein Königreich für eine Tonne!«
Textauszug aus: Bruno Latour, Das terrestrische Manifest. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs.
© La Découverte, 2017. © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
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prologvon Bruno Latour | Seite 10 |
indikatorische notationen (von s. 14 bis 125)von Michaela Rotsch | Seite 14 |
design und desastervorrede zur transformation des theaters. ein gesprächvon Jonas Zipf, Friedrich von Borries und Silke van Dyk | Seite 15 |
wann, wenn nicht jetzt?ein zwischenrufvon Adrienne Goehler | Seite 25 |
endlich.von Tina Lorenz | Seite 30 |
save the world with this melody?wie wir theater und nachhaltigkeit zusammendenken könnenvon Nicola Bramkamp | Seite 36 |
„das ist alles von der kunstfreiheit gedeckt …“gesprächvon Nicola Bramkamp, Alexander Giesche, Helgard Haug, Anta Helena Recke und Jean Peters | Seite 39 |
wir, die unsichtbarenostdeutsche of color zwischen marginalisierung und regimen der sichtbarkeitvon Katharina Warda | Seite 47 |
gegen die türtheater, inklusion und architektur – eine bestandsaufnahmevon Juliane Zellner | Seite 52 |
die katze der inklusiongesprächvon Amelie Deuflhard und Jonas Zipf | Seite 57 |
Strange Foreign Bodiesvon Zufit Simon | Seite 65 |
digitale erschließungeneine utopie der zugänge, digitalität, diversität und theatervon Miriam Michel | Seite 66 |
krumme rücken oder offene augengespräch über plattformkapitalismus und inklusionvon Joseph Vogl und Jonas Zipf | Seite 72 |
parasitenvon Marc Sinan | Seite 80 |
von heute auf morgenwas bedeutet diversität und wie setzen wir sie im theater um? ein Gesprächvon Juliane Zellner, Kate Brehme und Lisa Scheibner | Seite 88 |
ich, ein*e transformer*invon Nenad Čupić | Seite 94 |
beyond digitalüber (post-)digitale bühnenvon Birgit Wiens | Seite 100 |
oper, klima und der wandel„Wechsel/Wirkung“von Berthold Schneider, Carolin Baedecker, Manfred Fischedick und Uwe Schneidewind | Seite 108 |
von der pflflicht zur kürnachhaltigkeitsmanagement an der oper göteborgvon Annett Baumast | Seite 113 |
empathische feedbackschleifenfür ein postdigitales theatervon Judith Ackermann und Benjamin Egger | Seite 120 |
über transformation und das muffelnim gesprächvon Hortensia Völckers und Juliane Zellner | Seite 126 |
digitaler humusvon Bettina Milz | Seite 129 |
la forza del destinooder: die vernetzung der theaterlandschaftvon Marcus Lobbes | Seite 133 |
für einen fonds ästhetik und nachhaltigkeit | FÄNraus aus den echokammern – aufruf zur kompliz:innenschaft!von Adrienne Goehler und Manuel Rivera | Seite 144 |
eskalation und enttäuschungtransformation zwischen bottom up und top down. im gesprächvon Jonas Zipf, Carsten Brosda und Rahel Jaeggi | Seite 147 |
biografien | Seite 162 |
Impressum | Seite 168 |
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