Recherchen 159
Inne halten: Chronik einer Krise
Jenaer Corona-Gespräche
von Aleida Assmann, Klaus Dörre, Ayşe Güleç, Volkhard Knigge, Stephan Lessenich, Bernhard Maaz, Thomas Oberender und Hartmut Rosa
Herausgegeben von Birgit Liebold und Jonas Zipf
Paperback mit 158 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-95749-317-0
Lockdown, Kurzarbeit, Reproduktionsfaktor, Neuinfektion, Kontaktsperre, Veranstaltungsverbot, Social Distancing ... das sind die neuen Schlagworte und Realitäten der Corona-Pandemie, die auch zu einer weltweiten Wirtschaftskrise avancierte.
Liegt aber in dieser globalen Corona-Krise, in diesem erzwungenen Innehaltenmüssen auch eine Chance?
Das liegt an uns, »was wir jetzt daraus machen«. Dieser Überzeugung ist Jonas Zipf, Theatermann und Werkleiter von JenaKultur. Er suchte sich in der gesamten Bundesrepublik hochkarätige Gesprächspartner*innen, um dies auszuloten: Hartmut Rosa, Thomas Oberender, Bernhard Maaz, Aleida Assmann, Stephan Lessenich und Volkhard Knigge. Ein wiederkehrendes Motiv dieser CHRONIK EINER KRISE sind dabei Feiertage oder Jahrestage.
So entspinnen sich aus der Krise laute Gedanken und Impulse der Transformation: Was können wir, was werden wir aus Corona gelernt haben, wenn die Pandemie eines Tages vorbeigegangen sein sollte?
Hier ist ein Lied, das uns verbindet
Und verkündet: Bleib nicht stumm
Ein kleines Stück Lyrics and Music
Gegen die Vereinzelung
In jedem Ton liegt eine Hoffnung
Eine Aktion in jedem Klang
In jedem Ton liegt eine Hoffnung
Auf einen neuen Zusammenhang
Hier ist ein Lied, das uns verbindet
Und es fliegt durchs Treppenhaus
Ich hab den Boden schwarz gestrichen
Wie komm ich aus der Ecke raus?
Aus jedem Ton spricht eine Hoffnung
Transformation aus jedem Klang
Aus jedem Ton spricht eine Hoffnung
Auf einen Neuanfang
Und wenn ich dann schweigen müsste
Bei der Gefahr, die mich umgibt
Und wenn ich dann schweigen müsste
Dann hätte ich umsonst gelebt
Und wenn ich dann schweigen müsste
Bei all der Angst, die mich umgibt
Und wenn ich dann schweigen müsste
Hätte ich umsonst gelebt
Wenn ich dich nicht bei mir wüsste
Hätte ich umsonst gelebt
Wenn ich dich nicht bei mir wüsste
Hätte ich umsonst gelebt
(Tocotronic: »Hoffnung«)
Fast auf den Tag genau vor einem dreiviertel Jahr erreichte das SARSCoV2- Virus Europa, einen knappen Monat später war der erste Todesfall in Frankreich zu beklagen. Und wiederum einen Monat später kam das gesamte Leben, wie wir es kannten, durch einen flächendeckenden Lockdown zum Erliegen. Was unsere hektische, hochzivilisierte Welt bisher auf keinem anderen Wege geschafft hatte, schaffte das unsichtbare Virus in wenigen Wochen: unser bisheriges Leben und zwar weltweit – abgeschaltet. Wirtschaft, Geldflüsse, Mobilität, soziale Begegnung – alles auf Null!
Die Rasanz und Wucht der Ereignisse traf uns als Kulturschaffende in verantwortlicher Position, deren täglich Brot im Stiften von Begegnung besteht, hart und unvorbereitet. Wir wurden gezwungen, von Jetzt auf Gleich aus dem Hamsterrad unserer Umtriebigkeit auszusteigen und still zu halten. Zunächst schüttelten wir verwirrt unsere Köpfe. Das kann doch nicht wahr sein. Dann, ganz langsam lernten wir, was wir schon beinahe komplett verlernt hatten, nämlich einfach mal inne zu halten.
Von all dem handelt dieses Büchlein. Es war lange Zeit keineswegs als ein solches geplant. Vielmehr ging es zunächst um das Anstossen eines Diskurses im kleineren Rahmen. Unser städtischer Eigenbetrieb JenaKultur, hundertprozentige Tochter der Stadt, verantwortet die gesamte städtische Kultur und kulturelle Bildung sowie das Tourismus- und Teile des Stadtmarketings. Seit zwei Jahren betreiben wir neben regelmäßigen kulturpolitischen Podiumsdiskussionen einen Blog, der ebenfalls den Blick hinter die Kulissen zu vielen laufenden Prozessen und offenen Fragestellungen gewähren und zum Dialog mit der Bürgerschaft anregen soll.
In diesem erzwungenen Moment des Innehaltens wollten wir weiter – und nun eben »Corona-konform« – unserem starken Bedürfnis nach Austausch, nach (Selbst-)Vergewisserung, nach Bilanzierung nachgehen. Läge in der globalen Krise ja vielleicht auch eine Chance? Das fragten wir uns. Lägen, wenn vielleicht doch nicht im ganz Großen und Ganzen, zumindest Chancen in eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, im Lokalen, Regionalen? Wohin müsste die Reise nach Corona gehen? Was ist wirklich wert und wichtig? Was sollte man überprüfen, aufgeben, neu anpacken? Welche Rolle können Kunst und Kultur spielen? Und wie sehen all das diejenigen, für die wir schlussendlich (Veranstaltungs-)Angebote machen?
Wir wollten unsere eigenen Gedanken und Überlegungen teilen. Und so suchten wir für den nötigen fachlichen Input in Jena und der gesamten Bundesrepublik kunst- und kulturaffine Gesprächspartner*innen, allesamt Geisteswissenschaftler*innen oder Künstler*innen, um dies mit ihnen auszuloten. Keine/r gab uns einen Korb, denn: auch sie waren momentan aus ihren gewohnten Arbeitszusammenhängen herausgerissen und mehr oder weniger auf sich selbst zurückgeworfen wie wir, hatten Lust auf und vor allem auch Zeit für das Gespräch. Einzig mögliche Form dafür in Zeiten des Shutdowns: Telefonate, über einen Zeitraum von einem knappen halben Jahr geführt, im Nachhinein transkribiert und veröffentlicht.
Der besondere Charme der so entstandenen Texte: das Teilhabenkönnen am gemeinsamen lauten Denken kluger Köpfe, mit Wort und Widerwort, mit ungewisser Quintessenz, mit ungeahnten sich öffnenden Assoziationsräumen. Tastend, suchend, redundant gelegentlich, unfertig … Und genau deshalb so unglaublich berührend und vor allem inspirierend. Schnell wurde klar, die Antwort auf unsere anfangs gestellte Grundsatzfrage ist durchaus eine positive: ja, die Krise ist auch eine Chance, denn es liegt an uns, »was wir jetzt daraus machen«. Ob über Corona als Motivationsschub gesprochen wird, mal wieder über unsere wenig nachhaltige Lebensweise nachzudenken, über Corona als mögliches Sujet, Corona und die Rolle des Staates, Corona und Verschwörungstheorien oder auch Corona und der Blick auf unsere Arbeitswelt – immer spiegelt sich in den Texten auch der jeweilige Stand des Krisenverlaufs, so dass sie neben der Tatsache, dass sie zugleich Handlungsoptionen für die Zeit nach Corona aufzeigen bzw. beraten, auch dokumentarischen Charakter besitzen. Zu einem wiederkehrenden Motiv in den Reflexionen wurden, den Setzungen des Jahreskreises folgend, Feiertage oder Jahrestage: Nach Ostern und dem Tag der Arbeit geht es um Pfingsten, den 8. Mai und um die Jahresdaten der Opfer rechter Gewalt. Dies dezent und eher unterschwellig.
Bald ergriff uns das Gefühl, dass das, was hier besprochen wird, ein größeres Publikum verdient. Die sich unterhalten, haben ja durchaus auch etwas zu sagen: Hartmut Rosa, Klaus Dörre und Stephan Lessenich, Soziologen, Aleida Assmann, Anglistin, Ägyptologin und Literatur- und Kunstwissenschaftlerin, Bernhard Maaz, Kunsthistoriker und Generaldirektor der Bayrischen Staatsgemäldesammlungen, Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, Ays¸ e Güleç, Sozialpädagogin und Leiterin des Bildungs- und Beratungsbereiches im Kulturzentrum Schlachthof in Kassel, und last but not least Volkhard Knigge, Historiker und Leiter der Stiftung »Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora«.
Es lohnt, ihnen zuzuhören. Manchmal geraten sie auf wundersame Weise untereinander in eine fiktive Kontroverse, indem zu den geäußerten Thesen von anderer Seite Antithesen vertreten werden, wenn etwa Volkhard Knigge Erinnerungskultur im Gegensatz zu Aleida Assmann ausschließlich von den herrschenden Verhältnissen bestimmt sieht oder Thomas Oberender und Stephan Lessenich die Voraussetzungen für ein Bedingungsloses Grundeinkommen verschieden setzen. Ist dafür jetzt die Zeit oder gerade eben nicht? Worin liegen die Sinuskurven, Kipppunkte und Zerreißproben dieser Krise? Gibt es eine Kunst der Pandemie, fragt sich Bernhard Maaz? Und wer spricht eigentlich, wenn wir in unser kulturelles Gedächtnis hineinhören, möchte Aleida Assmann wissen. Am weitesten liegen freilich Hartmut Rosa und Klaus Dörre auseinander. Der eine will, dass sich durch die und mit der Krise »utopische Potentiale entfalten«, der andere meint, Corona sei kein Sprungbrett in die Postwachstumsgesellschaft. Neben all diesen schwergewichtigen Fragestellungen und Positionen wird auch an vielen Stellen einfach nur geplaudert, über Kunst und Kultur sowieso, aber eben auch über Fußball, über Smartphones und Digitalisierung, über Europa und die Welt und auch ganz Privates.
Zugleich kommen aber die Problemaufrisse so fundamental und so unabgeschlossen daher, dass der Wunsch entstand, alle Gespräche zu publizieren und so den Diskurs in großem Rahmen fortzusetzen.
Nun beginnt – jenseits von Smartphones, Homeoffice und Lockdown – glücklicherweise langsam auch das kulturelle Leben wieder Fahrt aufzunehmen. Infektionsschutzkonzepte und Abstandsregeln bleiben unsere Begleiter. Wir können und müssen nun also in der Praxis unsere gewonnenen Erkenntnisse auf den Prüfstand heben.
Wir danken niessnerdesign für die Abdruckrechte der eingestreuten Plakate. Sie stehen stellvertretend für ein Projekt aus Stuttgart, das die durch Corona ungenutzten Plakatflächen der Stadt mit neuem Leben füllen wollte. Markus Niessner und Melly Müller vom Designbüro niessnerdesign starteten zusammen mit der Fotografin Dominique Brewing und der Designerin Anja Haas einen Aufruf. Sie haben Designer- Kolleg*innen gebeten, Plakate zu gestalten und eine Public-Poster-Gallery zu gründen. Rund 30 Stuttgarter Künstler haben Plakate eingereicht. Das Projekt traf derart einen öffentlichen Nerv, dass all diese grafischen Auseinandersetzungen mit der Corona-Krise nunmehr sogar auf Wanderschaft gehen und neue Impulse setzen.
Unser Dank gilt außerdem: Dr. Juliane Zellner, Sigrid Engelhardt, Rebecca Sequeira, Ulrike Rabia-Blietz, Daniela Freund und Peter Mühlfriedel.
Wir danken dem Verlag Theater der Zeit für diese großartige Möglichkeit der Publikation. Am allermeisten aber danken wir unseren Gesprächspartner* innen. Es hat Spaß gemacht, ihnen allen zuzuhören.
Und nun freuen wir uns über angeregte Diskussionen mit Ihnen, liebe Leser*innen, über den weiteren klugen Weg durch die Pandemie.
Die Herausgeber
Jena im August 2020 Vorwort
post scriptum
Kurz vor Druckschluss, ganz am Ende der Arbeit zu diesem Buch, wird uns unabhängig aller Spekulationen und Transformationen schmerzlich klar, worin die eigentliche Konstante besteht, um welchen unsichtbaren Kern sich diese ganze Krise im Grunde dreht: Es ist das Verhältnis zum Tod, zur Begrenzung und Vergänglichkeit unseres eigenen Lebens und dessen Möglichkeiten, das uns als Gesellschaft abhanden gekommen ist. Wir dachten: Wie klein und nichtig ist doch das alles, unser lautes Denken und stilles Handeln, angesichts des Verlusts eines teuren Menschen. Und gleichzeitig: Wie natürlich und unausweichlich ist doch dieser Verlust.
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Corona-Gespräche | |
»Das hängt jetzt von uns ab, was wir daraus machen.«Ein virtueller Osterspaziergang (2. April 2020)von Jonas Zipf und Hartmut Rosa | Seite 14 |
Gerade jetzt – eben nichtEin Telefonatvon Thomas Oberender und Jonas Zipf | Seite 38 |
Kunst der Pandemie – eine Chance?Von Sinuskurven, Kipppunkten und Zerreißprobenvon Jonas Zipf und Bernhard Maaz | Seite 56 |
Wer spricht?von Aleida Assmann und Jonas Zipf | Seite 76 |
Wie groß ist der Leidensdruck wirklich?Corona, Smartphones, Fußball und die Frage der Bedingungslosigkeitvon Stephan Lessenich | Seite 104 |
Vergessen wir nicht … die Psychoanalyse!von Jonas Zipf und Volkhard Knigge | Seite 122 |
Supplements | |
Let’s talk about … Corona und Rassismusvon Ayşe Güleç | Seite 150 |
Die Corona-Pandemie – kein Sprungbrett in eine Postwachstumsgesellschaftvon Klaus Dörre | Seite 156 |
Zu den Herausgebern |
„Man wünscht sich in Krisenzeiten genau solche Gesprächspartner, die das große Ganze sehen, die abwägen, hoffen, kritisieren. Es schafft ein Gefühl von Gemeinschaft in dieser globalen Krise, intelligenten Menschen beim Denken zuzuhören.“rbb Kultur
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Birgit Liebold
Jonas Zipf
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