Heft 05/2020
Safety first
Theater in Zeiten von Corona
Broschur mit 64 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
- Schwerpunkt: Theater in Zeiten von Corona
Als Andy Warhols „The Chelsea Girls“ Ende der sechziger Jahre in die Kinos kam, war die Technik des Splitscreens, also die gleichzeitige Darstellung verschiedener Orte und Handlungen auf einem Bildschirm, revolutionär. Heute, in Zeiten von Corona, besteht daraus unser Alltag. Oder besser gesagt: der Alltag derjenigen, die über einen Computer und schnelles Internet verfügen. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie, heißt es, wirkten wie ein Vergrößerungsglas. Das neoliberale System, das soziale Ungleichheiten potenziert, zeige in der Krise nun sein wahres Gesicht. Was für ein Hohn, waren die katastrophalen Zustände doch auch vor der Krise mehr als sichtbar.
In „normalen“ Zeiten waren es die Theater, die die großen Menschheits- und Gesellschaftsfragen auf der Bühne verhandelten. Doch nun sind die Häuser geschlossen – und werden es, so der Stand Ende April, auch noch für längere Zeit bleiben. In unserem Schwerpunkt Theater in Zeiten von Corona beschäftigen wir uns eingehend mit der verstörenden Ambivalenz der derzeitigen Situation. Das Virus hat unsere Welt erschüttert und unser Selbstbild gleich mit. Davon berichten in zwei aufwühlenden Texten der Autor und Regisseur Alexander Eisenach sowie TdZ-Redakteur Gunnar Decker. Eingewoben in die Textur des ewigen Fortschritts, so Decker, sei mit uns nun das passiert, was Rainer Maria Rilke mit dem Vers beschrieben habe: „Da stürzte Gott aus seinem Hinterhalt“, was nichts mit persönlichem Glauben zu tun habe, „sondern mit unseren Weltkoordinaten“. Denn offenbar drehe sich nicht alles immer nur um unsere Selbstoptimierung. Alexander Eisenach geht in seiner berührenden literarischen Selbsterkundung diesem Gedanken nach: „Wir begreifen, dass das Denken über unsere Zukunft bisher im Raum der Uneigentlichkeit stattgefunden hat. Es war übermütiges Kinderspiel, das kein Risiko barg, weil es aufgehoben war im Gefühl der Unveränderlichkeit unserer Rahmenbedingungen. Unser Spiel war nie durchdrungen vom Gefühl der Wirklichkeit. Denn wie sich das anfühlt, Wirklichkeit, das wissen wir erst jetzt.“
Unmittelbar real stellen sich die derzeitigen Nöte auch für viele Künstlerinnen und Künstler dar. Während Bodo Blitz und Thomas Irmer in Freiburg und Sankt Petersburg noch die letzten Geisterpremieren kurz vor dem Shutdown erleben durften, müssen Festivals wie die Passionsspiele Oberammergau und Theater der Welt in Düsseldorf nun schmerzhaft umdisponieren. Christoph Leibold und Martin Krumbholz berichten. Mit den finanziellen Hilfsprogrammen für Theaterschaffende in Deutschland, Österreich und der Schweiz beschäftigen sich Patrick Wildermann im Gespräch mit Janina Benduski vom LAFT Berlin sowie Margarete Affenzeller und Dominique Spirgi. Das Reformpotenzial des derzeitigen Stillstands erkunden Jakob Hayner in seiner Auseinandersetzung mit Simon Strauß’ Sammelband „Spielplan-Änderung!“ sowie Tom Mustroph in seiner Zusammenschau über Tools, Formate und Probleme der digitalen Bühne.
In Zeiten von Splitscreens und virtuellen Körpern tritt einem die radikale Körperkunst einer Florentina Holzinger wie ein Fanal entgegen. Ihre Inszenierungen, schreibt die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter in ihrem furiosen Text über die österreichische Choreografin und Performerin, sei eine „aufregende Mixtur aus Ballett, Performance Art, Kampfsport, Horror- und Freakshow“. Bis über die Grenzen des Ertragbaren hinaus zeigt sich hier der menschliche (Frauen-)Körper in seiner großen Verletzlichkeit und Stärke, sprich: in allem, was seine Lebendigkeit ausmacht. Wir stellen Florentina Holzinger in unserem Künstlerinsert vor.
„Wenn die Menschen dazu bereit sind, ändern sie sich. Sie tun es nie vorher, und manchmal sterben sie, bevor sie es tun.“ Auch diese Aussage von Andy Warhol passt wunderbar in diese Zeit, in der eben auch die grundsätzlichen Gesellschaftsfragen neu justiert werden. Während TdZ-Kolumnist Ralph Hammerthaler im Splitcreen mit dem Soziologen Stephan Lessenich über die große Verdrängungsleistung unserer Externalisierungsgesellschaft spricht, formuliert der Soziologe Heinz Bude im Gespräch mit Sabine Leucht die Idee für ein neues Zeitalter nach dem Neoliberalismus. Wie aus unserem Singularity-Chor wieder eine gesellschaftsverändernde Kraft werden könnte, reflektieren der Autor Thomas Köck, der Komponist Ole Hübner und der Regisseur Michael von zur Mühlen im Gespräch mit Dorte Lena Eilers. Köcks Libretto zu ihrem Musiktheaterprojekt „opera, opera, opera! revenants & revolutions“ drucken wir in dieser Ausgabe, die mit ihren 64 Seiten coronabedingt zwar etwas schlanker, dafür aber umso hoffnungsvoller ist. „gut komm“, heißt es in „opera, opera, opera!“ in der letzten Szene, „wir gehen weiter.“
Zum Schluss noch eine Meldung in eigener Sache: Mit dem Mai-Heft wechselt Anja Nioduschewski aus der Redaktion wieder in die freie Autorentätigkeit. Wir danken ihr herzlich für ihre Arbeit. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Inszenierungen der Choreografin Florentina Holzingervon Florentina Holzinger | Seite 4 |
Körpertheater als IconoclashDie Extrem-Performerin Florentina Holzingervon Gabriele Brandstetter | Seite 8 |
Thema | |
Coming of AgeWer werden wir gewesen sein? – Ein literarischer Blick auf die Krise unserer Lebensformen und eine Epoche im Umbruchvon Alexander Eisenach | Seite 11 |
So nah, so fernDas Coronavirus verändert unser Bild der Welt und unser Selbstbild – Zur Geschichte der Seuchen in der Modernevon Gunnar Decker | Seite 14 |
Himmelherrgott!Mit den Passionsspielen feierten die Oberammergauer einst ihre Rettung vor der Pest – nun sorgt die Coronakrise für eine Verschiebung, die Dorf und Organisatoren schwer trifftvon Christoph Leibold | Seite 18 |
Die gescheiterte ZähmungAm Theater Freiburg erlebt Ewelina Marciniaks Shakespeare-Inszenierung in Zeiten von Corona eine Geisterpremierevon Bodo Blitz | Seite 22 |
Der Mensch ist dem Menschen ein VirusDie russische Erstaufführung von Heiner Müllers „Mauser“ in der Regie von Theodoros Terzopoulos in Sankt Petersburg kurz vor dem Shutdownvon Thomas Irmer | Seite 24 |
Was wollen wir spielen?Der Theaterkritiker Simon Strauß plädiert mit dem Band „Spielplan-Änderung!“ für eine Wiederentdeckung der Vielfalt des Dramatischen – abseits des Kanonsvon Jakob Hayner | Seite 25 |
Die Bühne geht ins NetzDie Coronakrise beschleunigt die Digitalisierung im Theater – Ein Überblick über Tools, Formate und Problemevon Tom Mustroph | Seite 26 |
Die Weltkunstproduktion steht stillProgrammdirektor Stefan Schmidtke über die Verschiebung des Festivals Theater der Welt im Gespräch mit Martin Krumbholzvon Stefan Schmidtke und Martin Krumbholz | Seite 28 |
Festivals in Zeiten von CoronaEin Überblick über Ausfälle und Alternativen (Stand 15. April 2020) | Seite 29 |
Erste Hilfe?Programme für freie Künstlerinnen und Künstler in der Coronakrise – Janina Benduski vom Bundesverband Freie Darstellende Künste im Gespräch mit Patrick Wildermannvon Patrick Wildermann und Janina Benduskizum Online-Extra: Erste Hilfe? | Seite 30 |
Erste Hilfe? – ÖsterreichProgramme für freie Künstlerinnen und Künstler in der Coronakrisevon Margarete Affenzeller | Seite 31 |
Erste Hilfe? – SchweizProgramme für freie Künstlerinnen und Künstler in der Coronakrisevon Dominique Spirgi | Seite 32 |
Kolumne | Seite 35 |
Alle reden vom Virus. Wir nicht.Videoschalte mit Stephan Lessenich und Kornelius Heidebrechtvon Ralph Hammerthaler | |
Stück | |
Stimmen, die auf Geschichte wartenOle Hübner, Thomas Köck und Michael von zur Mühlen über ihr Musikheaterprojekt „opera, opera, opera! revenants & revolutions“ im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers, Michael von zur Mühlen, Thomas Köck und Ole Hübner | Seite 36 |
opera, opera, opera! revenants & revolutionsverschollener vierter teil der klimatrilogie – ein librettofragment für einen cyborg und einen singularitychorvon Thomas Köck | Seite 38 |
Magazin | |
Der Irrwitz wohnt im HinterhofEin halbes Jahrhundert Eigensinn und Gaudi – Zum Jubiläum der freien Bühne TamS in Münchenvon Sabine Leucht | Seite 53 |
Die Wunde RamsteinPolitische Diskurse prägen die ersten Theatertage Rheinland-Pfalz in Kaiserslauternvon Elisabeth Maier | Seite 54 |
Geschichten vom Herrn H.: Let’s talk about Klasse, baby!von Jakob Hayner | Seite 55 |
Wortrausch und RaketengeheulThomas Pynchons Roman „Die Enden der Parabel“ wird zum 75. Jahrestag des Kriegsendes von Klaus Buhlert als 14-stündiges Hörspiel adaptiertvon Thomas Irmer | Seite 56 |
Unorthodoxer DenkerIn Gedenken an den Literatur- und Theaterwissenschaftler Gottfried Fischbornvon Eckart Kröplin | Seite 57 |
Das Leuchten im DunkelnJon Fosse: Der andere Name. Heptalogie I–II. Jon Fosse: Kindheitsszenen.von Thomas Irmer | Seite 58 |
Kraftzentrum der PoesieKarl Heinz Bohrer: Mit Dolchen sprechen. Der literarische Hass- Effekt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 493 S., 28 EUR.von Gunnar Decker | Seite 58 |
Bücher aus der Redaktion. Jakob Hayner: Warum Theater. Krise und ErneuerungFröhliche Wissenschaft Bd. 160, Matthes & Seitz, Berlin 2020, 160 S., 15 EUR. | Seite 59 |
Aktuell | Seite 60 |
Meldungen | |
Impressum/Vorschau | Seite 63 |
Autorinnen und Autoren Mai 2020 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 64 |
Was macht das Theater, Heinz Bude?von Sabine Leucht und Heinz Bude |
Margarete Affenzeller
Janina Benduski
Bodo Blitz
Gabriele Brandstetter
Heinz Bude
Gunnar Decker
Dorte Lena Eilers
Alexander Eisenach
Ralph Hammerthaler
Jakob Hayner
Florentina Holzinger
Ole Hübner
Thomas Irmer
Thomas Köck
Eckart Kröplin
Martin Krumbholz
Christoph Leibold
Sabine Leucht
Elisabeth Maier
Tom Mustroph
Stefan Schmidtke
Dominique Spirgi
Michael von zur Mühlen
Patrick Wildermann
Artikel | Seite |
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Thema | Seite 30 |
Erste Hilfe?Programme für freie Künstlerinnen und Künstler in der Coronakrise – Janina Benduski vom Bundesverband Freie Darstellende Künste im Gespräch mit Patrick Wildermannvon Patrick Wildermann und Janina Benduskizum Online-Extra: Erste Hilfe? |
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