Heft 09/2011
Annemie Vanackere
Die zukünftige Chefin des HAU Berlin
Broschur mit 116 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Nach dem Anschlag des selbsternannten Kreuzritters Anders Breivik am 23. Juli in Norwegen wird die Thematik des Bösen zusehends brisant. Im Gespräch mit Stardramatiker Jon Fosse über die Hintergründe und Auswirkungen des katastrophalen Ereignisses wirft auch Dorte Lena Eilers diesen Begriff ins Spiel. Doch „Norwegen wird es nicht zulassen, dass der Terror die norwegische Gesellschaft regiert“, sagt Fosse, der überzeugt ist, dass der diabolische Plan nicht aufgeht und die Gewalttat keine Macht über die Haltungen der Zivilgesellschaft gewinnt. „Spätestens seit Juli dieses Jahres besitzt das Urböse Heimatrechte in Skandinavien“, befindet auch Kerstin Decker in ihrem Entree zu unserem Stückabdruck „Antichrist“ von Lars von Trier, für den die Auseinandersetzung mit dem Infernalischen obsessiven Charakter besitzt. In diesem Zusammenhang distanzierte sich der dänische Regisseur mit dem Hang zur Metaphysik kürzlich von seinem Film „Dogville“, weil ihn der Attentäter allzu sehr schätzt.
Das Bergwerk des Bösen besteigen auch Michael Thalheimer und Gunnar Decker, die über Dämonologie, die Wucht des Archaischen und das Schlagwerkspiel zwischen Himmel und Hölle philosophieren. In diesen Kontext passt auch als Gegenbegriff „Der Griffel Gottes“. Sebastian Kirsch macht sich an die Ausdeutung der kryptischen Formulierung, die Heinrich von Kleist prägte, um das Spiel des Unbewussten, den absoluten Zufall oder einfach das Nicht-Identifizierbare zu benennen. Die spätsommerliche Kleist-Lese bringt Erstaunliches über den verkannten Gegenwartsautor zutage.
Ihr Staunen lässt auch Renate Klett angesichts der szenischen Fata Morgana, die das Theater der Niederländerin Lotte van den Berg bewirkt, plastisch werden. Ein Etwas, „gesponnen aus Atmosphäre und Blicken, aus Schwingungen, Gerüchen, Emotionen und Erschrecken“. Unser Künstlerinsert unterstreicht den Beitrag visuell. Lotte van den Berg gehört auch zu den Künstlerinnen, die regelmäßig in der Schouwburg Rotterdam zu sehen sind – jenem Theater, wo Annemie Vanackere, die ab 2012 das Berliner HAU leiten wird, als künstlerische Leiterin die Fäden zieht. Georg Weinand beschreibt die derzeitige Wirkungsstätte Annemie Vanackeres, so dass man einen ersten zarten Geschmack von dem bekommen mag, was 2012 in Berlin vom Stapel gehen wird. Frank Raddatz hat sich mit Annemie Vanackere getroffen und zeichnet ein Porträt der Belgierin, die sich als entschlossene Gegnerin des Neoliberalismus entpuppt.
Traditionell trumpfen in der Sommerzeit die Festivals auf. Nach Avignon und Salzburg, zum Impulse Festival in NRW, den Theaterformen in Hannover, dem Outnow! Festival in der Bremer Schwankhalle, dem Malta-Festival in Poznañ, dem Arena-Festival in Erlangen und dem Theaterfestival der Jugend in Berlin schwärmten Redakteure und Korrespondenten zur Begutachtung aus und wurden immer wieder überrascht. Lena Schneider begeisterte sich in einem Steinbruch in der Nähe Avignons an einer siebenstündigen Antikentrilogie von Wajdi Mouawad und fragt sich: „Wer würde das Kupferrot auf den Felsen, die letzte Sonne am roten Himmel als Kitsch – nicht beschreiben, sondern tatsächlich empfinden?“ Gunnar Decker sah in Salzburg Dimiter Gotscheffs Uraufführung von Peter Handkes Traumstück „Immer noch Sturm“ und resümiert: „Handke und Gotscheff: zwei lebenslange Exilanten, die den östlichen Blick Europas gegen seine westliche Okkupation verteidigen.“ Als offensive Verteidigung lässt sich auch der Kommentar von Josef Bierbichler bezeichnen. Die Vorwärtsverteidigung gilt dem Kapitalismuskritiker Jean Ziegler, der heuer unter fadenscheiniger Begründung vom Salzburger Festival exkludiert wurde.
Neben all diesen Schauplätzen, Höhepunkten und Reibungen wollen wir nicht vergessen, Frank Castorf zum 60. Geburtstag zu gratulieren. Wir freuen uns, der innovativsten Figur des deutschen Gegenwartstheaters einen breitgefächerten und recht bunten Geburtstagsstrauß zusammenstellen zu können. Auch Theater der Zeit hat Grund zum Feiern: 65 Jahre Zeitschrift und 15 Jahre Buchverlag. Anlass genug, sich in gründlich erneuertem Layout zu präsentieren. Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht
die Redaktion
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Protagonisten | |
Künstlerinsert: Arbeiten der holländischen Regisseurin Lotte van den Bergvon Lotte van den Berg | Seite 4 |
Theater MorganaDie minimalistischen Arbeiten der holländischen Regisseurin Lotte van den Berg schärfen die Sinne und weiten das Herzvon Renate Klett | Seite 8 |
Thema | |
Übungen für ein geschärftes BewusstseinAnnemie Vanackere, die künftige Leiterin des HAU in Berlin, isst mit Frank Raddatz trotz zweier Krücken Sushivon Frank M. Raddatz | Seite 12 |
Ein Gefühl von ZugehörigkeitDie Rotterdamse Schouwburg wurde mit Annemie Vanackere als Künstlerischer Leiterin zu einem Ort, der internationale Kooperationen mit dem kritischen Blick vor die eigene Haustür verbindetvon Georg Weinand | Seite 15 |
Protagonisten | |
Es ist real, viel zu realZuerst, sagt der norwegische Autor Jon Fosse, konnte er nicht glauben, was in Oslo und auf Utøya passierte. Dann machte es ihn sprachlos. Ein Gespräch über den Schrecken und die Literaturvon Dorte Lena Eilers und Jon Fosse | Seite 18 |
Musiker des UntergangsIn den Inszenierungen von Michael Thalheimer wartet das Schicksal beständig auf seinen Einsatz – um dann wie ein Schlag in eine scheinbar heile Welt einzubrechenvon Gunnar Decker | Seite 20 |
TheaterwundertäterDem Collagisten, Anarchisten, Kontextualisierer Frank Castorf zum 60.: Theater der Zeit gratuliert mit einem polyphonen Blumenstrauß von Kollegen, Freunden und Kritikernvon Friedrich Dieckmann, Joachim Fiebach, Boris Groys, Gregor Gysi, Matthias Lilienthal, Martin Linzer, Hartmut Meyer, Ivan Nagel, Annekatrin Bürger, Bert Neumann, René Pollesch, Bibiana Beglau, Thomas Engel, Sebastian Hartmann, Henry Hübchen, Ernst Schumacher, Bernd Neumann, Klaus Wowereit und Renate Schumacher | Seite 32 |
Festivals | |
Die Welt im KopfSalzburg: Dimiter Gotscheff inszeniert Peter Handkes „Immer noch Sturm“von Gunnar Decker | Seite 39 |
Wo der Blick Schwert sein mussAvignon: Guy Cassiers und Wajdi Mouawad testen, was passiert, wenn Natur und Theater zu Nebenbuhlern werdenvon Lena Schneider | Seite 42 |
GrenzverschieberDas Theaterfestival Impulse feiert sein 20-jähriges Bestehen – und verabschiedet seine bemerkenswertesten Spürnasen Tom Stromberg und Matthias von Hartzvon Kim Stapelfeldt | Seite 44 |
Die wahren Experten der BühneHannover: Das Festival Theaterformen 2011 lässt Desillusionierung und Theaterzauber gleichermaßen geltenvon Patrick Wildermann | Seite 46 |
serie | Seite 48 |
Kleists göttlicher GriffelWarum Kleist ein unmöglicher Autor istvon Sebastian Kirsch | |
Look Out | Seite 52 |
Fessel mich!Oblivia: Die finnische Performancegruppe blickt in minimalistischen Choreografien in die Abgründe der Unterhaltungsindustrievon Anna Teuwen | |
Die Dada-MeisterHGich.T: Mit infantilem Regress und Fäkalhumor tobt das Performancekollektiv durch die hiesige Festivalszenevon Patrick Wildermann | |
Kolumne | Seite 55 |
SchampusWarum regt der Einfluss der Wirtschaft auf die Kunst niemand mehr auf – nicht einmal mehr die künstlerischen Angestellten der Salzburger Festspiele?von Josef Bierbichler | |
Stück | |
Chaos regiertMit seinem Film „Antichrist“ bringt der Autor und Regisseur Lars von Trier alle Gutmenschphantasien ins Wanken. Ein Entree zum Stückabdruckvon Kerstin Decker | Seite 56 |
„Antichrist“von Lars von Trier | Seite 57 |
Magazin | |
Dialektiker mit bösem BlickDer Regisseur und Schauspieler Alexander Lang wird siebzigvon Gunnar Decker | Seite 81 |
Standhaft in unübersichtlichem GeländeDem Theaterwissenschaftler und Kritiker Ernst Schumacher zum 90. Geburtstagvon Frank Hörnigk | Seite 82 |
Die Sterbenden wissen am meisten über das LebenEindrücke vom interdisziplinären Outnow!-Festival in der Bremer Schwankhallevon Alexander Schnackenburg | Seite 86 |
Reibung am RandDas Malta-Festival 2011 in Poznan rückt „Die Ausgeschlossenen“ ins Zentrumvon Patrick Wildermann | Seite 87 |
Die Beobachtung des BeobachtersDas Arena-Festival 2011 in Erlangen setzt auf private Geschichten und ästhetische Grenzerfahrungenvon Rainer Hertwig | Seite 88 |
Aber ich bin doch ichBeim Theatertreffen der Jugend in Berlin wechseln die Macher ganz selbstbewusst zwischen Rollentext und eigenem Wortvon Jakob Schumann | Seite 89 |
Alte Fährten, neues Spiel?Die schweizer Gruppe In Situ feiert mit einer Botho-Strauß-Uraufführung ihr 25-jähriges Bestehenvon Simone von Büren | Seite 90 |
Schrill, schrullig und einfach komischZum Tod der Schauspielerin Jennifer Minettivon Christoph Leibold | Seite 95 |
Die UngeschützteZum Tod der Schauspielerin Maria Kwiatkowskyvon Gunnar Decker | Seite 96 |
Schauspielerversteher und KinderernstnehmerEin Nachruf auf den Regisseur, Dramatiker und Theaterlehrervon Wolfgang Schneider | Seite 96 |
Spiel-Räume der PhantasieZum Tod des Bühnenbildners Pieter Heinvon Hartwig Albiro | Seite 97 |
Lob der LangsamkeitEin Nachruf auf den Theatergrafiker Karl-Heinz Dreschervon Stephan Suschke | Seite 98 |
Linzers Eck | Seite 99 |
Über das „alternativlose Progressivitätsdiktat“ und die Folgen für das Theater oder „Kunst legitimiert sich durch Neuheit“.Ein Plädoyer für einen Berufsstandvon Martin Linzer | |
Magazin | |
Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater.Hg. von Gabriele Brandstetter und Birgit Wiens, Alexander Verlag, Berlin 2010, 300 S. (Deutsch/Englisch), 29,90 EUR, ISBN 978-3-89581-227-9.von Christina Schmidt | Seite 100 |
René Girard: Shakespeare. Theater des Neides.Carl Hanser Verlag, München 2011, 576 S., 29,90 EUR, ISBN 978-3-446-23650-9.von Sebastian Kirsch | Seite 100 |
Kirschs KontexteWiedersehen mit Heraklesvon Sebastian Kirsch | Seite 101 |
Anna ViebrockEinzigartige Werkschau der Bühnen bildnerin und Regisseurin | Seite 102 |
Kommentar | Seite 103 |
Die Krawalle sind nicht politischDer Londoner Dramatiker Dennis Kelly über die Unruhen in Großbritannienvon Dennis Kelly | |
Aktuell | |
Aus den KorrespondentenbürosThüringen: Theater erhalten mehr Geldvon Michael Helbing | Seite 104 |
Meldungen | Seite 104 |
Premieren September 2011 | Seite 106 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | Seite 114 |
Impressum | Seite 115 |
Autoren | Seite 115 |
Vorschau | Seite 115 |
Gespräch | Seite 116 |
Was macht das Theater, Herr Linzer?von Gunnar Decker und Martin Linzer |
Hartwig Albiro
Bibiana Beglau
Josef Bierbichler
Annekatrin Bürger
Gunnar Decker
Kerstin Decker
Friedrich Dieckmann
Dorte Lena Eilers
Thomas Engel
Gerwig Epkes
Joachim Fiebach
Jon Fosse
Boris Groys
Gregor Gysi
Sebastian Hartmann
Michael Helbing
Rainer Hertwig
Frank Hörnigk
Henry Hübchen
Dennis Kelly
Sebastian Kirsch
Renate Klett
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