Heft 04/2016
Hamburgische Dramaturgien
Amelie Deuflhard und Karin Beier
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Der Steindamm im Hamburger Stadtteil St. Georg ist ein Houellebecq-Kiez. Keine andere Meile, titelte im Januar das Hamburger Abendblatt, ziehe so viele Flüchtlinge an – die Zahl der Menschen auf den Straßen habe sich verdoppelt, in der Al-Nour-Moschee finden die Freitagsgebete mittlerweile in zwei Schichten statt. Keine 200 Meter weiter steht auf der Bühne des Deutschen Schauspielhauses Hamburg ein Mann vor einem Kreuz und rechnet: Mehr Gehalt. Größere Wohnung. Drei Frauen. Was will man mehr? Dieser Mann heißt François. Am Ende ist er konvertiert.
Michel Houellebecq setzte mit „Unterwerfung“ ein irres, irrlichterndes Buch in die Welt. Frankreich wird im Jahr 2022 von einem muslimischen Präsidenten regiert. Wie wirkt diese Fiktion in der jetzigen Diskussion? Nach den Attentaten von Paris? Nach der Silvesternacht in Köln? Wie viel Hysterie steckt darin? Wie viel Kritik an den eigenen, längst entleerten Werten? In einem großen Schwerpunkt schicken wir diese Fragen in die unterschiedlichsten Richtungen. In Hamburg sprachen Dorte Lena Eilers und Gunnar Decker mit Karin Beier, Intendantin des Deutschen Schauspielhauses, und der Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard, zwei Kiez-Expertinnen auf der Suche nach einer neuen, zeitgenössischen Hamburger Dramaturgie, mit der sich das Heute künstlerisch bearbeiten lässt. Mittels Houellebecqs „Unterwerfung“ etwa, das Karin Beier mit einem furiosen Edgar Selge als François im Februar am Schauspielhaus zur Uraufführung brachte. Oder mittels einer komplett basisdemokratisch organisierten Konferenz für Geflüchtete und Migranten, die Ende Februar den halben Steindamm auf Kampnagel versammelte.
Flankiert wird dieses Auftaktinterview von Margarete Affenzellers Bericht aus dem Wiener Produktionshaus Werk X, das die österreichische Erstaufführung von „Unterwerfung“ besorgte; Lena Schneider berichtet aus einem Theater in der Pariser Banlieue Saint-Denis, wo im November 2015 vor dem Stade de France die ersten Bomben explodierten; Tom Lanoye sprach mit Dorte Lena Eilers über junge Männer, die solche Attentate begehen. Wie dieser Gegenwart also begegnen? Bernd Stegemann analysiert unter dieser Fragestellung die neuesten Publikationen von Slavoj Žižek und Philipp Ruch. Unser Blick auf Inszenierungen von Nuran David Calis, Volker Lösch und Neco Çelik liefert die künstlerische Praxis dazu.
„Punk & Politik“ – so formuliert das Schauspielhaus Wien unter der neuen Leitung von Tomas Schweigen sein ästhetisches Programm. Bei der Auftaktinszenierung wurde sogleich ein vom Theater mitgetragenes Manifest für ein neues Europa veröffentlicht. Es plädiere, berichtet Margarete Affenzeller, für Politiker neuen Typs. „Als Vorbild diente in diesem von Tomas Schweigen in Gemeinschaft mit dem Ensemble verfassten Stück der isländische Punk und spätere Politiker Jón Gnarr.“ Es gilt: „Mut zum Denken, zum Umdenken, zum Ausprobieren.“
„NYMPHAE_M RAUSCH ECK“, das könnte auch der Name einer Weddinger Eckkneipe sein. Sagt nicht ein Kritiker, sondern der Künstler selbst. Jan-Peter E.R. Sonntag, Künstler, Komponist, Theoretiker, erschafft ortsbezogene, interaktive Installationen. „NYMPHAE_M RAUSCH ECK“ in der Galerie Wedding nennt er einen „kommunalen psychoakustischen Raum“. Detlev Schneider hat Jan-Peter E.R. Sonntag für die vorliegende Ausgabe porträtiert; das Künstlerinsert zeigt Eindrücke seiner Räume und Installationen.
Ronald McDonald im Birkenwald? Trauriger kann der Abgesang auf unseren westlichen Gefühlshaushalt nicht sein. Henriette Dushe setzt die Ikone des amerikanischen Kapitalismus gleich zu Beginn ihres Stückes „In einem dichten Birkenwald, Nebel“, das wir in diesem Heft veröffentlichen, mitten hinein in die Tschechow’sche Seelenlandschaft. Mirka Döring sprach mit der Autorin, die in ihrem Stück der These nachforscht, ob nicht gar die Depression, dieser grundsätzliche Ausstieg aus allen Systemen, die wahre revolutionäre Tat sei. Ein radikales Innehalten, um dann noch einmal neu anzusetzen. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Psychoakustisches Raumtheatervon Jan-Peter E.R. Sonntag | Seite 4 |
Präsenz statt PräsentationJan-Peter E.R. Sonntags psychoakustisches Raumtheatervon Detlev Schneider | Seite 8 |
Thema | |
Kritische MasseDie Intendantin des Hamburger Schauspielhauses Karin Beier und Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Gunnar Deckervon Gunnar Decker, Dorte Lena Eilers, Amelie Deuflhard und Karin Beier | Seite 13 |
Wiener ProtokolleMit Stücken wie Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ hat das Produktionshaus Werk X unter den Theatern Wiens am konsequentesten die kulturellen, religiösen und ökonomischen Konfliktherde im Fokusvon Margarete Affenzeller | Seite 18 |
Der Dionysos von Saint-DenisWie geht das, Theater machen in der Pariser Banlieue in Zeiten des Terrors? Jean Bellorini versucht es mit pulsierendem Volkstheatervon Lena Schneider | Seite 20 |
Die alte Hure EuropaDer belgische Dramatiker Tom Lanoye über seinen Dschihadisten-Monolog „Gas“ und die Zersplitterung Europas im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Tom Lanoye | Seite 23 |
Rhythm and religion?„Basmala – Freund oder Feind“ – Neco Çelik und Renegade untersuchen im Schatten der Kölner Silvesternacht die Verbindung von Hip-Hop und Islamvon Friederike Felbeck | Seite 26 |
Wart ihr Silvester dabei?Volker Löschs „Nathan“ in Bonn und Nuran David Calis’ „Glaubenskämpfer“ in Köln überblenden Lessings Ringparabel mit dem aktuellen Diskurs um Religion, Toleranz und Gewaltvon Martin Krumbholz | Seite 28 |
Arbeit am HeuteWie Slavoj Žižek und Philipp Ruch vom Zentrum f. Politische Schönheit in ihren neuesten Publikationen politische Entwicklungen, philosophische Analysen und künstlerische Ausdrucksformen zusammendenkenvon Bernd Stegemann | Seite 30 |
Kolumne | Seite 35 |
Antwort auf eine Anfrage des 3. Jahrgangs Schauspiel an der Münchner Otto Falckenberg Schulevon Josef Bierbichler | |
Protagonisten | |
Jünger der KokosnussTomas Schweigen startet anfangs bemüht, dann famos in seine erste Spielzeit als Intendant des Schauspielhauses Wienvon Margarete Affenzeller | Seite 36 |
Angriffe auf den ElfenbeinturmZehn Jahre Solistenensemble Kaleidoskopvon Anna Opel | Seite 38 |
Look Out | |
DienstleistungssimulationenDas Berliner Performancekollektiv Talking Straight hält der heutigen Transparenzund Kontrollgesellschaft den Spiegel vorvon Theresa Schütz | Seite 40 |
Ode an den RoboterIn den Kompositionen von Sergej Maingardt verschmelzen Musiker und Elektronik zu faszinierenden Mensch-Musik-Maschinenvon Friederike Felbeck | Seite 41 |
Auftritt | |
Aarau: Interessierte SelbstgefährdungTheater Tuchlaube: „Zersplittert“ von Alexandra Badea. Regie Olivier Keller, Bühne Erik Noorlander, Kostüme Myriam Casanovavon Elisabeth Feller | Seite 43 |
Darmstadt: Mit roten NasenStaatstheater Darmstadt: „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow. Regie Moritz Schönecker, Bühne Benjamin Schönecker, Kostüme Veronika Bleffertvon Shirin Sojitrawalla | Seite 43 |
Dortmund: Das Tier im IchStaatstheater Dortmund:„Rambo plusminus Zement. Ein Live-Film“ von Klaus Gehre nach Heiner Müller, Sylvester Stallone und David Morrell. Regie Klaus Gehre, Ausstattung Klaus Gehre und Mai Gogishvilivon Martin Krumbholz | Seite 45 |
Frankfurt am Main: Iwanow reloadedSchauspiel Frankfurt: „Zweite allgemeine Verunsicherung“ (UA) von Felicia Zeller. Regie Johanna Wehner, Bühne Volker Hintermeier, Kostüme Ellen Hofmannvon Shirin Sojitrawalla | Seite 46 |
Halle (Saale): GedächtniswinkelNeues Theater: „Schuld und Sühne“ nach Fjodor Dostojewski. Regie Matthias Brenner, Bühne Nicolaus-Johannes Heyse, Kostüme Susanne Choletvon Thomas Irmer | Seite 47 |
Hannover: Am langen ArmSchauspiel Hannover: „Amerikanisches Detektivinstitut Lasso“ (UA) von Nis-Momme Stockmann. Regie Lars-Ole Walburg, Bühne Robert Schweer, Kostüme Anna Rudolphvon Mirka Döring | Seite 48 |
München: Das Fleisch liegt in WindelnProt: „Liebe mich! Wiederhole mich!“ (UA) von Alexeij Sagerer. Regie und Ausstattung Alexeij Sagerervon Sabine Leucht | Seite 49 |
Tübingen: Im HirnkerkerLandestheater Tübingen: „Schuld und Sühne“ nach Fjodor Dostojewski. Regie Gernot Grünewald, Ausstattung Michael Köpkevon Otto Paul Burkhardt | Seite 50 |
Magazin | Seite 52 |
Die KomponistinDie Autorin Henriette Dushe über ihr Stück „In einem dichten Birkenwald, Nebel“ im Gespräch mit Mirka Döringvon Mirka Döring und Henriette Dushe | |
Stück | Seite 54 |
In einem dichten Birkenwald, NebelEine Bühnenelegie für drei Spielerinnen und einen Männerchor von drei Stimmenvon Henriette Dushe | |
Magazin | |
Bizarres MenüDas weißrussische Belarus Free Theatre ist vom Londoner Exil aus politisch widerständigvon Tom Mustroph | Seite 69 |
Ein Star ohne AllürenZum Tod Stefan Lisewskisvon Stephan Suschke | Seite 70 |
kirsch kontexte: Was ein Kind weißVom Sprechen, das aus den Gedärmen kommtvon Sebastian Kirsch | Seite 71 |
Die Schatten der VäterChristoph Hein: Glückskind mit Vater. Roman, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 527 S., 22,95 EUR.von Holger Teschke | Seite 72 |
WeltenreisenWerner Fritsch: Faust Sonnengesang II, 180 Min., Ursendung auf ARD-alpha am 27. Dezember 2015.von Thomas Irmer | Seite 73 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 74 |
Ein AdieuBarbara Riecke verabschiedet sich vom Schweizer Kurtheater Badenvon Elisabeth Feller | Seite 75 |
Premieren | Seite 76 |
April 2016 | |
TdZ on Tour | Seite 78 |
TdZ on Tour | |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Sasha Marianna Salzmann?von Patrick Wildermann und Sasha Marianna Salzmann |
Margarete Affenzeller
Karin Beier
Josef Bierbichler
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Amelie Deuflhard
Mirka Döring
Henriette Dushe
Dorte Lena Eilers
Friederike Felbeck
Elisabeth Feller
Thomas Irmer
Sebastian Kirsch
Martin Krumbholz
Tom Lanoye
Sabine Leucht
Tom Mustroph
Anna Opel
Sasha Marianna Salzmann
Detlev Schneider
Lena Schneider
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Jan-Peter E.R. Sonntag
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