Heft 12/2012
Archipel Moskau
Ein Theaterreport
Broschur mit 92 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Der Philosoph der Dunkelzonen Friedrich Nietzsche war es, der mit seinem Verweis auf das Apollinische das Traumelement des Theaters bestimmt hat. Kris Verdonck folgt dieser Spur, wenn er das Theater als eine Traummaschine begreift, „die uns zum Beispiel fliegen machen soll, mit der man Doppelgängern begegnen kann, Halluzinationen erleben und viele andere Dinge. Doch hinter all dem steckt immer die Maschine – selbst wenn man auf der Bühne kein Theater spielen will, muss man mit ihrer Hilfe dem Publikum aktiv zu verstehen geben, dass man kein Theater spielt.“ Sebastian Kirsch diskutiert im Künstlerinsert über das Unheimliche, über Franz Kafka, Heiner Müller und die Figur des Doppelgängers.
Dass das Theater an der Grenze siedelt, war auch das Credo Pjotr Fomenkos, des kürzlich verstorbenen Doyens der Moskauer Szene: „Das Theater hat nichts mit dem Leben zu tun, es ist ein Zufluchtsort für Kreative, die unernst Ernstes schaffen.“ Olga Galachowa führt durch den Kosmos der russischen Metropole mit mehr als 300 Theatern und 600 Premieren im Jahr, in dem der Stern von Rimas Tuminas besonders hell strahlt. „In seiner letzten Inszenierung anlässlich des Jubiläums des Wachtangow-Theaters, ‚Der Hafen‘, nimmt er zusammen mit den ältesten Schauspielern Abschied von der großen Zeit des Theaters, in dessen Mittelpunkt der große Schauspieler steht: ein Requiem auf eine untergehende Theaterform.“
Am 24. Januar 2011 kam die aus Odessa stammende russischsprachige Autorin Anna Jablonskaja nach Moskau, um einen Preis für ihr Stück „Heiden“ entgegenzunehmen. Auf dem Flughafen gab es eine Explosion. Es heißt, ein Splitter habe sie mitten ins Herz getroffen. Ihre Freunde in der Ukraine schrieben, sie sei Opfer eines fremden Krieges geworden. Wir drucken ihr Stück „Monodialoge. Es gibt kein Ende“ ab.
Den Moskau-Schwerpunkt beschließt Dorte Lena Eilers, die sich mit dem Verfahren gegen Pussy Riot und Milo Raus Installation „eines gigantischen Geschichts- und Gerichtsprozessors“ auseinandersetzt, in dem „wie Gespenstererscheinungen per Referat, Diskussion und Workshop Figuren, Ereignisse und Zeiten vorbeiziehen“, die u. a. das Verhältnis von Staat, Religion und Kunst in Putins Russland durchleuchten.
Dagegen geht es in der Zukunft vergleichsweise gemütlich zu, jedenfalls wenn man dem Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski glaubt. Gegenüber Frank Raddatz erklärte er auf wissenschaftlicher Grundlage, warum die nächste Katastrophe erst im Jahr 2017 zu erwarten sei, und lobt die Krisenresistenz der Bevölkerung, die manchmal schwer von Apathie zu unterscheiden ist. Aufgewacht ist man hingegen in Bremen. In der Disziplin „Theater und Krise“ kann es im deutschsprachigen Raum bekanntlich kaum einer mit den Bremern aufnehmen, wo der Intendant gemeinhin als eine Spezies betrachtet wird, deren Aufgabe es ist, „den größten Teil seiner Arbeitszeit dem aufreibenden Kampf mit inkompetenten und kürzungswütigen Kulturpolitikern zu opfern“. Doch urplötzlich hat der Spuk der Kürzungswut in der Hansestadt ein Ende, und der neue Intendant Michael Börgerding profitiert „von der Kulturaffinität des Senatspräsidenten Jens Böhrnsen und dem Sachverstand der Staatsrätin Carmen Emigholz (…). Fast geräuschlos haben sie das kürzlich noch mit über fünf Millionen Euro verschuldete Haus entschuldet sowie die jährlichen Zuschüsse von knapp 24 Millionen (…) auf 26 Millionen Euro erhöht“, berichtet Alexander Schnackenburg.
Das Theaterereignis der letzten Monate trägt aber wieder vertraut albtraumhafte Züge. Unser Held heißt Brett Bailey. Renate Klett porträtiert den Goalgetter des Berliner Festivals Foreign Affairs. „Sein Wappentier und Maskottchen ist eine riesige Kakerlake. ‚Die leben hinter der Fassade, die kennen die Rückseite der Schönheit‘, sagt er. ‚Und mit diesem Wissen kommen sie nachts hervor.‘“ Offenbar bewegt sich etwas in der Anderswelt, wenn die Grenzen poröser werden. //
Die Redaktion
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Protagonisten | |
KünstlerinsertInstallationenvon Kris Verdonck | Seite 4 |
Mit der Maschine sprechenDer Regisseur und bildende Künstler Kris Verdonck über die Unheimlichkeit der Interaktion zwischen Mensch und Maschine im Gespräch mit Sebastian Kirschvon Sebastian Kirsch und Kris Verdonck | Seite 8 |
Thema | |
Archipel MoskauWie sich in Zeiten der Lüge das Theater der russischen Hauptstadt von der Bühnenillusion entfernt, um das wahre Leben zu dokumentierenvon Olga Galachowazum Online-Extra: Archipel Moskau | Seite 12 |
Schwarzer SchneeDie Stücke der ukrainischen Autorin Anna Jablonskaja porträtieren das Leben in seiner ganzen düsteren Absurditätvon Olga Galachowa | Seite 16 |
Achtung, Kunst!Der Weimarer Kongress „Power and Dissent“ zeigt, wie die Putin-Regierung per Gerichtsprozess einen antimodernen Kunstbegriff zu implementieren versuchtvon Dorte Lena Eilers | Seite 18 |
Protagonisten | |
Die Kultur ist die HefeDer Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski über Horrorvisionen, Sicherheitsdenken und den Unruhestifter Theater im Gespräch mit Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz und Horst W. Opaschowski | Seite 20 |
Wir WahnsinnigenUnter dem neuen Bremer Intendanten Michael Börgerding findet Theater endlich wieder dort statt, wo es hingehört – im Publikumvon Alexander Schnackenburg | Seite 24 |
Fliegende Tassen, exzentrische TüftlerDas Theater Bern will unter der neuen Intendanz von Stephan Märki zu einem Ort künstlerischer Unruhe werdenvon Simone von Büren | Seite 27 |
Hallo DunkelheitDas Festival Foreign Affairs in Berlin ist dort am stärksten, wo es sich selbst infrage stelltvon Dorte Lena Eilers | Seite 30 |
Auf der Rückseite der SchönheitDas Theater des Südafrikaners Brett Bailey spiegelt wild und emotional, poetisch und aggressiv die komplizierte Realität seines Landesvon Renate Klett | Seite 32 |
Look Out | |
Neuer Start SüdWie der Regisseur Ulf Goerke zweimal anfangen musste, um wirklich anzukommenvon Willibald Spatz | Seite 36 |
Die Augen alleinDer Schauspieler Ralf Wegner macht aus dem Unscheinbaren ein Ereignisvon Rainer Hertwig | Seite 37 |
Ausland | |
Embedded AudienceWie Mike Pearson/Mike Brookes in Cardiff und die Wooster Group/Royal Shakespeare Company in Stratford upon Avon die Funktion des Medialen im Krieg bearbeitenvon Patrick Primavesi | Seite 38 |
In Zeiten wie diesen ...Zwanzig Jahre Kriegstheater in Sarajevovon Senad Halilbasic | Seite 40 |
Kolumne | Seite 43 |
Lassen Sie uns über Senf redenTheatermusik – Christoph Schambach kehrt zurückvon Ralph Hammerthaler | |
Abschiede | |
Die KämpferinZum Tod von Käthe Reichelvon Martin Linzer | Seite 44 |
Das göttliche SpielErinnerungen an Hans Werner Henzevon Detlev Glanert | Seite 46 |
Protagonisten | Seite 48 |
Bloß nicht zittern!Das Theater Halberstadt feiert sein 200-jähriges Bestehen – und geht souverän mit der Subventionsmisere umvon Gunnar Decker | |
Auftritt | |
Augsburg: Die Kraft der OrangeTheater Augsburg: „In Spuckweite“ (DSE) von Taher Najib und „Ulysses auf dem Flaschenfloß“ (DSE) von Gilad Evron. Regie Markus Trabusch, Bühne Susanne Hiller, Kostüme Katharina Diebelvon Christoph Leibold | Seite 51 |
Celle: Mit erlösender Blindheit geschlagenSchlosstheater: „Viel Rauch und ein kleines Häufchen Asche“ (UA) von Ralf-Günter Krolkiewicz. Regie Nico Dietrich, Ausstattung Susanne Ruppertvon Mirka Döring | Seite 52 |
Essen: Unbehaust wie eine NacktschneckePACT Zollverein: „Current Location“ von Toshiki Okada/Chelfitsch. Text und Regie Toshiki Okada, Bühne Shusaku Futamuravon Friederike Felbeck | Seite 53 |
Jena: Ankunft im ZwischenraumTheaterhaus Jena: „Ich bedanke mich für alles“ (UA) von Prem Kavi, aus dem Sanskrit übertragen von Alexej Schipenko und Anna Langhoff. Regie Samuel Hof, Ausstattung Nina Malottavon Michael Helbing | Seite 54 |
Stuttgart: Mit der Peitsche auf den HinternTheater Rampe: „Schlag auf Schlag“ (UA) nach dem Buch „Die geprügelte Generation“ von Ingrid Müller-Münch, Theaterfassung Stephan Bruckmeier, Regie Eva Hosemann, Ausstattung Stephan Bruckmeiervon Otto Paul Burkhardt | Seite 55 |
Tübingen: Ein Catwalk schriller SeltsamkeitenZimmertheater Tübingen: „Monodialoge. Es gibt kein Ende“ (DSE) von Anna Jablonskaja. Regie Christian Schäfer, Bühne und Kostüme Jörg Zysikvon Otto Paul Burkhardt | Seite 56 |
Stück | Seite 57 |
MonodialogeEs gibt kein Ende. Deutsch von Claudia Dathevon Anna Jablonskaja | |
Magazin | |
Der VorbeigeherPeter Handke wird 70von Gunnar Decker | Seite 69 |
Die Beschränktheit des MöglichenDas internationale Festival steirischer herbst in Graz changiert bewusst zwischen Unvollständigkeit und Überforderungvon Hermann Götz | Seite 70 |
kirschs kontexteGerechtigkeit für Andrea Breth!von Sebastian Kirsch | Seite 71 |
Eine Angelegenheit der MoralDas Monologfestival im Berliner Theaterdiscounter fragt nach den Handlungsmaximen des Einzelnenvon Patrick Wildermann | Seite 73 |
Zärtlich spröde ArtFreddie Rokem: Geschichte aufführen. Darstellungen der Vergangenheit im Gegenwartstheater. Aus dem Englischen von Matthias Naumann. Neofelis Verlag, Berlin 2012, 320 S., 30 EUR.von Susanne Winnacker | Seite 74 |
Weiß im GesichtJan Knopf: Bertolt Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten. Hanser Verlag, München 2012, 560 S., 27,90 EUR.von Frank M. Raddatz | Seite 75 |
Schwindelfreie FährtenleseUwe Schütte: Urzeit, Traumzeit, Endzeit. Versuch über Heiner Müller. Passagen Verlag, Wien 2012, 198 S., 22 EUR.von Frank M. Raddatz | Seite 75 |
Lektor der UnangepasstenZum Tod des ehemaligen Henschel-Cheflektors Horst Wandreyvon Martin Linzer | Seite 76 |
Von Ballett bis PantomimeZum Tod des ehemaligen TdZ-Tanzkritikers Dietmar Fritzschevon Martin Linzer | Seite 76 |
linzers eck20 + 50 + 60 = 130. Wie Berliner Theater ihre Geburtstage feiernvon Martin Linzer | Seite 77 |
Aktuell | Seite 78 |
Meldungen | |
In Nachbars Garten | |
FilmBeflissene Spurensuchevon Ralf Schenk | Seite 80 |
MusikSportreportagen als Sprachmusikvon Otto Paul Burkhardt | Seite 80 |
KunstVom Wahnwitz beseeltvon Shirin Sojitrawalla | Seite 81 |
HörspielDurch Sprechen zum Sprechen gebrachtvon Gerwig Epkes | Seite 81 |
Premieren | Seite 84 |
Dezember 2012 | |
In eigener Sache | Seite 86 |
Autoren | Seite 87 |
Impressum | Seite 87 |
Vorschau | Seite 87 |
Gespräch | Seite 88 |
Was macht das Theater, Dieter Dorn?von Dieter Dorn und Christoph Leibold |
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Mirka Döring
Dieter Dorn
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Friederike Felbeck
Olga Galachowa
Detlev Glanert
Hermann Götz
Senad Halilbasic
Ralph Hammerthaler
Michael Helbing
Rainer Hertwig
Anna Jablonskaja
Sebastian Kirsch
Renate Klett
Christoph Leibold
Martin Linzer
Horst W. Opaschowski
Patrick Primavesi
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