Heft 11/2013
Philipp Hochmair: Ein Mann, alle Rollen
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
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„Der Tod bedeutet nichts. Was zählt, ist das Beispiel!“, lautet einer der Kernsätze Heiner Müllers, dem Dimiter Gotscheff bis zu seinem plötzlichen Tod am 20. Oktober treu blieb wie keinem anderen. Eines der Beispiele, das er gab, bestand darin, die Realität, den Betrieb, dessen Vorgaben stets als Spiel zu begreifen und seine Regeln infrage zu stellen. Gelebte Realitätskritik.
Wenn die Gesellschaft zwischen Wirklichkeit und Spiel unterscheidet, verschleiert sie, dass sie selbst auf undurchschauten Setzungen und normativen Parametern beruht. Niemand anderer macht das so anschaulich wie Don Quijote, dem das Spiel zum Ernst wird und die Wirklichkeit zum Spiel. Von daher wird der Ritter von der traurigen Gestalt für Miriam Goldschmidt zum Schutzheiligen der Schauspieler und Theatermenschen. „Don Quijote, das größte Opfer ritterlicher Chronologie, sehender Blinder, Ver-Dichter, immer zu früh oder zu spät mit einem Nummernzettel in der Hand, mit ewig falschen Auftritten gesegnet, sieht sich als Erlöser. Knäuelentwirrer, Brecher offener Türen“, schreibt sie in einem Text unseres Schwerpunkts Spiel und Widerstand. Flankiert durch die Porträts der zwei Ausnahmeschauspieler Philipp Hochmair und Alexander Scheer, versuchen wir die dünne Linie zu ergründen, wo Spiel und Realität sich gegenseitig aufheben und negieren. Gunnar Decker benutzt bei der Zeichnung Alexander Scheers die Metapher der Droge: „Drogen, sagt Scheer, nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und wiegt die Bierflasche in der Hand, seien Doping und solches Doping finde er ‚unsportiv‘.“ Auch Philipp Hochmair will die Aufspaltung zwischen Realität und der Welt unverbindlichen Spiels nicht akzeptieren, weiß Dorte Lena Eilers: „Kollegen sahen ihn barfuß und mit blutunterlaufenen Augen als Mephisto durch Avignon laufen. Bei einem Galerieempfang mit Bianca Jagger war er Jedermann im glitzernden Kostüm. Das Kostüm in den Alltag mitzunehmen, die Rolle aus dem Rahmen fallen zu lassen, dieses Ausloten der Grenzen interessiert Philipp Hochmair total.“ Ein Vierter, wenn auch Autor und Regisseur, darf in diesem Reigen nicht fehlen. Im hauseigenen Pollesch-Sound macht der Großmeister des Diskurstheater das Verhältnis von Realität und Spiel zum Urgrund aller Verblendung: „Bei einer Kritik an Spiel und Fiktion ginge es nur weiterhin um die Verteidigung der Wahrheit. Aber wenn man die Wahrheit nicht angreift, kommt man nie an den Widerstand.“ Dieser Satz könnte in unserem Stückabdruck von René Polleschs Balzac-Adaption „Glanz und Elend der Kurtisanen“ stehen, findet sich aber im begleitenden Interview, das Dorte Lena Eilers mit dem Autor und Regisseur geführt hat.
Widerstand gegenüber dieser Realität muss sein, befindet auch Harald Welzer, der in einer nachhaltigen Moderne den einzigen Weg in die Zukunft sieht, der uns bleibt. Frank Raddatz sprach mit ihm. Wie Widerstand gegenüber der Realität praktisch aussehen kann, wird zurzeit in mehreren Städten Italiens demonstriert, wo auf angedrohte Theaterschließungen mit Theaterbesetzungen reagiert wird, wie Andrea Porcheddu berichtet. Die Kostümbildnerin Florence von Gerkan, der unser Künstlerinsert gewidmet ist, geht dagegen im Gespräch mit Nicole Gronemeyer von einem durch Gebrauch erzeugten Materialwiderstand aus: „Es geht weniger darum, ein Kostümbild, sondern eher ein Menschenbild zu finden. Ich arbeite gern mit gebrauchter Kleidung. Sie hat Spuren der Menschen, die sie getragen haben, bringt also schon etwas mit, ist veränderbar.“
Auf das krasse Gegenteil, auf Strategien des Duckens und Sich-Kleinmachens, scheint man dagegen unter der neuen Intendanz im konsensfixierten Leipzig zu setzen: „Konsumorientierte Klassikerkürzungen, von jeder Theaterästhetik ein kleiner Wohlfühlhappen, ein Theater, das sich öffentlich nicht positionieren will. Die Angst, öffentlich eine Meinung zu vertreten, scheint in Leipzig inzwischen auch den hoch subventionierten Kulturbetrieb erfasst zu haben“, resümiert Christian Horn.
Friedrich Dieckmann verneigt sich vor der Regieikone Patrice Chéreau, „dieser Hochgestalt des europäischen Theaters“, der Anfang Oktober von uns ging. Zum Ende noch einmal Miriam Goldschmidt: „Alles ist Einbildung, es gibt nichts, was ist. Und das ist schon genug. Außer allem, was ohne unser Zutun Erde beben macht, Ozeane füllt und unablöslich seiner Wege geht.“ //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Kostümevon Florence von Gerkan | Seite 4 |
MenschenbilderDie Kostümbildnerin Florence von Gerkan über Kostüme, die so vielschichtig und flüchtig sind wie die Menschen, die sie tragen, im Gespräch mit Nicole Gronemeyervon Nicole Gronemeyer und Florence von Gerkan | Seite 8 |
Protagonisten | Seite 12 |
Hop oder Plopp?Die Ruhrtriennale zeigt Altbewährtes aus dem Performance-Olymp und Wiederentdecktes aus der Musiktheatergeschichtevon Friederike Felbeck | |
Thema: Die Schaustörer – Spiel und Widerstand | |
Late-Night-SoloEin Mann, alle Rollen – Der Schauspieler Philipp Hochmairvon Dorte Lena Eilerszum Online-Extra: „Wir haben die Kindheit in die Tasche gesteckt“ | Seite 14 |
Ver-DichtungÜber den sehenden Blinden Don Quijotevon Miriam Goldschmidt | Seite 18 |
Die Droge SpielFrontmann im Dostojewski-Blues – Der Schauspieler Alexander Scheervon Gunnar Decker | Seite 20 |
Protagonisten | |
Skelette im NebelDas Schauspiel Leipzig will unter seinem neuen Intendanten Enrico Lübbe von allem ein bisschen – nur nicht aneckenvon Christian Horn | Seite 22 |
Welt und GegenweltChemnitz’ neuer Intendant Christoph Dittrich und Schauspielchef Carsten Knödler kultivieren den Sinn für Widersprüchevon Gunnar Decker | Seite 26 |
Abschied | Seite 28 |
Schrecken und Schönheit, Liebe und TodÜber Patrice Chéreau – ein Nachrufvon Friedrich Dieckmann | |
Zurück in die Zukunft | Seite 30 |
Das gute LebenDer Soziologe Harald Welzer über die Idiotie des unbegrenzten Wachstums und Strategien der Reduktion – denn nur die dienen dem Überleben – im Gespräch mit Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz und Harald Welzer | |
Ausland | Seite 34 |
Wir sind das Theater!Wie Italiens Theaterbesetzer sparwütige Politiker mit einer Kultur von unten konfrontieren – und damit die Demokratie neu erfindenvon Andrea Porcheddu | |
Kolumne | Seite 37 |
Servus BayernJesus & die Killer – der fast vergessene Film von Christian Lerchvon Ralph Hammerthaler | |
Look Out | |
Die WelttheatermacherDie Performancegruppe kainkollektiv arbeitet länderübergreifend – und deutet dabei Globalisierung auf ganz eigene Weise ausvon Friederike Felbeck | Seite 38 |
Die WortmusikerinDie Schweizer Regisseurin Mélanie Huber inszeniert mit Tönen und Geräuschen – selbst Sprache wird bei ihr Klangvon Simone von Büren | Seite 39 |
Auftritt | |
Bremen: Anja, Rony und neun KinderTheater Bremen: „The Art of Making Money – Die Bremer Straßenoper“ von Lola Arias. Regie Lola Arias, Ausstattung Dominic Hubervon Alexander Schnackenburg | Seite 41 |
Düsseldorf: Stimmen aus dem SarkophagFFT Düsseldorf: „Postcards from the Future“ von Anna Malunat nach Swetlana Alexijewitsch. Regie Anna Malunat, Bühne Jan Katteinvon Friederike Felbeck | Seite 41 |
Hannover: Von kalten HerzenSchauspiel Hannover: „Das Wirtshaus im Spessart. Eine Angstexpertise“ von Wilhelm Hauff; „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ von Sönke Neitzel und Harald Welzervon Theresa Schütz | Seite 42 |
Kassel: Jagd nach dem verlorenen GlückStaatstheater Kassel: „Lucky Happiness Golden Express“ (UA) von Noah Haidle. Regie Thomas Bockelmann, Bühne Etienne Pluss, Kostüme Ulrike Obermüllervon Joachim F. Tornau | Seite 44 |
Leipzig: Schockierende LeerstelleTheater der Jungen Welt : „2 Uhr 14“ (DSE) von David Paquet. Regie Ronny Jakubaschk, Ausstattung Vera Kochvon Christian Horn | Seite 45 |
Stück | |
Der Kapitalismus steckt nicht im BankerhemdDer Autor und Regisseur René Pollesch über sein Stück „Glanz und Elend der Kurtisanen“ im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und René Pollesch | Seite 46 |
Glanz und Elend der KurtisanenNach Balzacvon René Pollesch | Seite 48 |
Magazin | |
Her mit dem schönen Leben!Wie das internationale Theaterfestival at.tension an der mecklenburgischen Müritz Utopien erlebbar machen willvon Mirka Döring | Seite 61 |
Freiwilliges „lebenslänglich“Im Gefängnis von Volterra gibt die Compagnia della Fortezza dem Theater seit 25 Jahren seine Notwendigkeit zurückvon Klaudia Ruschkowski | Seite 62 |
kirschs kontexteDiderots Dialektik oder 300 Jahre Vierte Wandvon Sebastian Kirsch | Seite 63 |
Von der Kochshow zum VölkermordBeim Edinburgh Festival Fringe lässt sich trotz zunehmender Kommerzialisierung politisches Theater entdeckenvon Jörg Vorhaben | Seite 64 |
Die Gewalttätigkeit einer IdeologieDas Projekt „Parallel Lives“ gräbt im slowakischen Nitra in den Archiven der Staatssicherheitvon Hartmut Krug | Seite 65 |
Auf der Suche nach einer StimmeDas Berliner Gefängnistheaterprojekt aufBruch befragt mit Schillers „Wallenstein“ Prinzipien von Macht und Kontrollevon Mehdi Moradpour | Seite 66 |
Linzers Eck: Adaptionen und TextflächenHat die zeitgenössische Dramatik ein Problem?von Martin Linzer | Seite 67 |
„Monotone Musik der Seele“Zum Tod des Schauspielers Walter Schmidingervon Gunnar Decker | Seite 68 |
Hinter Mauern freigespieltMontag Stiftung Kunst und Gesellschaft (Hg.): Freispieler. Theater im Gefängnis, transcript Verlag, Bielefeld 2012, 106 S., 19,80 EUR.von Tom Mustroph | Seite 70 |
Nicht von gesternNeil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt. Der Hörverlag, München 2013, 5 CDs, ca. 350 Min.von Gunnar Decker | Seite 71 |
Die dunkle Seite der Ökonomie?Julian Pörksen: Verschwende deine Zeit. Ein Plädoyer. Alexander Verlag, Berlin 2013, 110 S., 9,90 EUR.von Mirka Döring | Seite 71 |
Aktuell | Seite 72 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
FilmKrachlederne Soap-Operasvon Ralf Schenk | Seite 74 |
HörspielLeben dazwischengekommenvon Gerwig Epkes | Seite 74 |
KunstAuf Umwegenvon Ute Müller-Tischler | Seite 75 |
MusikPussy-(r)-Polka und Klingeltönevon Otto Paul Burkhardt | Seite 75 |
Aktuell | Seite 76 |
PremierenNovember 2013 | |
TdZ on Tour | Seite 78 |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Leander Haußmann?von Leander Haußmann und Mirka Döring |
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Friedrich Dieckmann
Mirka Döring
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Friederike Felbeck
Miriam Goldschmidt
Nicole Gronemeyer
Ralph Hammerthaler
Leander Haußmann
Christian Horn
Sebastian Kirsch
Hartmut Krug
Martin Linzer
Mehdi Moradpour
Ute Müller-Tischler
Tom Mustroph
René Pollesch
Andrea Porcheddu
Frank M. Raddatz
Klaudia Ruschkowski
Ralf Schenk
Alexander Schnackenburg
Theresa Schütz
Joachim F. Tornau
Simone von Büren
Florence von Gerkan
Jörg Vorhaben
Harald Welzer
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Thema: Die Schaustörer – Spiel und Widerstand | Seite 14 |
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