Heft 09/2014
This Girl: Die Schauspielerin Johanna Wokalek
Broschur mit 136 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Es gab Zeiten, da hatte das Wort „Stadttheater“ noch eine tiefere Bedeutung. Stadt und Theater – das klang nach Komplizenschaft, nach einem Pakt zwischen Kommunalpolitik und Theater, im Zweifelsfall die Stadt zu verteidigen – mit all ihren Schätzen. Diese Zeiten sind nun anscheinend vorbei. Im Sommer schmiss der neue Bürgermeister der Stadt Dessau, Peter Kuras, den Generalintendanten des Anhaltischen Theaters André Bücker aus dem Amt – ohne ihn vorher davon in Kenntnis zu setzen. Grund: der Streit um die Finanzen. „Ein neues Level der politischen Umgangskultur ist erreicht! Nach unten, versteht sich“, schreibt Matthias Brenner, Intendant des Neuen Theaters Halle. Wir veröffentlichen seinen wütenden Brandbrief im Auftakt dieses Heftes. Der neue OB, fährt Brenner darin fort, handele „dünkelhaft dumpf, wie ein in den Miesen stehender, abkassierender Kneipenwirt im Dreißigjährigen Krieg“, der die Fürsten zufriedenstelle, indem er unliebsame Aufmüpfige mitten in der Nacht einfach vor die Türe setze. „Diese Landespolitik ist an UNS nicht mehr vermittelbar!“
Matthias Brenner ist ein treuer Komplize, wenn es um den Kampf gegen eine räuberische Kulturpolitik in Sachsen-Anhalt geht. Aber nicht immer suchen sich Theatermacher die richtigen Partner. Frie Leysen, die im Juli in einem offenen Brief darlegte, warum sie als Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen nach nur einer Ausgabe wieder ausscheidet, berichtet in unserem Festivalschwerpunkt, woran viele Festivals in ihren Augen kranken. „Man sollte sich jeden Tag wieder fragen, was eine Institution soll. Unsere gesamte Umwelt verändert sich so stark – sozial, religiös, politisch und medial – und darum ist es essenziell, dass ein Festival seine Position darin die ganze Zeit neu befragt.“ Nicht nur, aber auch in Wien fehle diese Diskussion. Stattdessen seien die Festwochen und andere der Festivals schlicht zu Instrumenten des Citymarketings geworden. „Zum Teil ist das unsere eigene Schuld als Festivalmacher: Wir sind Komplizen gewesen.“
Auch Johanna Wokalek war Teil des diesjährigen Festivalreigens: in Luc Bondys Salzburger Uraufführungsinszenierung von Marc-André Dalbavies Oper „Charlotte Salomon“ bei den Salzburger Festspielen. Doch so wenig ihr der typische Salzburger Schnürlregen etwas anhaben konnte, so wenig ließ sich die kühle Schöne vom dortigen Promirummel stören. „Johanna Wokalek“, schreibt Margarete Affenzeller in ihrem Porträt, „ist eine Schauspielerin, die ganz bei sich ist.“ Diese Gefestigtheit mache ihre ungeheure Präsenz auf der Bühne aus. Sie trage alles einer Rolle in sich und müsse dann gar nicht mehr viel machen. Als Nina umtänzelte sie so in Luc Bondys „Die Möwe“ sogar den großen Gert Voss, der am 13. Juli 2014 in Wien verstarb. Lars Eidinger erinnert an diesen einzigartigen Schauspieler, der die Fähigkeit besaß, Momente zu erschaffen, in denen alles möglich erschien. „Mit Gert zu spielen“, so Eidinger, „hieß, an das Theater zu glauben.“
Der norwegische Autor Jon Fosse hatte lange gebraucht, um sich diesen Glauben zu erarbeiten. „Ich wollte eigentlich nie für das Theater schreiben“, erzählt er immer wieder. Doch dann, nach einigem Zureden, tat er es doch – und kreierte damit den unvergleichlichen, leise-konzentrierten Jon-Fosse-Sound, der in den Nullerjahren für eine regelrechte Fosse-Manie auf deutschsprachigen Bühnen sorgte. Mit „Meer“ ist nun im norwegischen Bergen sein wohl letztes Stück uraufgeführt worden. Wir drucken diesen Text und unterhalten uns mit dem Autor über seinen Entschluss, nie wieder für das Theater zu schreiben. Er sei mit seinem Universum am Ende, sagte er im Gespräch mit Dorte Lena Eilers.
Die Theater der Zeit-Redaktion verabschiedet sich in diesem Sommer von Frank Raddatz. Sieben Jahre lang lenkte und gestaltete er als Teil der Redaktionsleitung diese Zeitschrift. Wir danken ihm dafür sehr und wünschen ihm viel Erfolg und Freude bei seiner neuen Tätigkeit im Dienste von Lettre International.
Neu im Redaktionsteam begrüßen wir Matthias Dell, der für diese Ausgabe sogleich eine neue Rubrik mitbrachte: Das Schaubild soll künftig Theater und ihm nahestehende Komplexe als doppelseitige Grafik abbilden. Den Auftakt macht das René-Pollesch-Universum, ein Versuch, in die bislang 76 Inszenierungen des Autor-Regisseurs (der am 10. September mit einer neuen Arbeit an der Berliner Volksbühne Premiere hat) durch Statistik ein wenig Ordnung zu bringen. //
Die Redaktion
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Kommentar | Seite 2 |
UNS nicht mehr vermittelbar!Ministerin Wolff weg, Bauhaus-Direktor Oswald weg, Generalintendant Bücker weg! Wer muss noch weg? Und wann ist die Regierung weg?von Matthias Brenner | |
Künstlerinsert | |
Bühnenräumevon Bettina Meyer | Seite 8 |
Im visuellen SchachtDie Bühnenbildnerin und Zürcher Ausstattungsleiterin Bettina Meyer über ihre Arbeit in gigantischen Hallen und kleinen Boxen im Gespräch mit Ute Müller-Tischlervon Ute Müller-Tischler und Bettina Meyer | Seite 12 |
Protagonisten | Seite 18 |
This GirlMagisch, grazil, todernst: Die Schauspielerin Johanna Wokalek trägt die Entschlossenheit zum totalen Gefühl in sichvon Margarete Affenzeller | |
Thema: Festivals | |
Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre FreiheitFrie Leysen, scheidende Schauspielchefin der Wiener Festwochen, über die fahrlässige Entwicklung von Festivals zu Instrumenten des Citymarketings und über den Mut zur radikalen Erneuerung im Gesprächvon Sebastian Kirsch und Frie Leysenzum Online-Extra: Warum ich die Wiener Festwochen verlasse - Offener Brief von Frie Leysen an Dr. Rudolf Scholten, den Aufsichtsratsvorsitzenden | Seite 34 |
LebensreisenFrie Leysen präsentiert bei den Wiener Festwochen eines der besten Programme der vergangenen zehn Jahrevon Margarete Affenzeller | Seite 38 |
Süßer ist Öl als DattelhonigMatthias Lilienthal lässt bei Theater der Welt in Mannheim kraftvoll Grenzen und Tabus durchbrechenvon Otto Paul Burkhardt | Seite 40 |
Reise ans Ende des VerstehensLetzter Vorhang für die Biennale Neue Stücke aus Europa in Wiesbadenvon Shirin Sojitrawalla | Seite 44 |
Mensch ohne SeeleDie Festspiele in Bergen zeigen mit Stücken von Jon Fosse und Christian Lollike, wie sehr das große Projekt des Zusammenlebens gefährdet istvon Dorte Lena Eilers | Seite 46 |
Schaubild | Seite 48 |
Das René-Pollesch-Universumvon Matthias Dellzum Online-Extra: Das René-Pollesch-Universum | |
Protagonisten | |
Reduced to the maxLebst du noch oder arbeitest du schon? – Mit großstädtischen Themen begibt sich das Theater Bremen auf Sinnsuchevon Mirka Döring | Seite 50 |
Der bekiffte ZuhälterWie das Schauspiel Hannover zwischen Krampf, Kampf und Anarchie den gesellschaftlichen Stillstand zu überwinden suchtvon Dorte Lena Eilers | Seite 53 |
Ein metaphysisches TierDer Chemnitzer Schauspieler Stefan Migge umkreist das Chaos in unsvon Gunnar Decker | Seite 56 |
Kolumne | Seite 59 |
Nix hören, nix sehenÜber Evolution und Revolutionvon Josef Bierbichler | |
Abschied | Seite 60 |
Der LöweMit Gert Voss zu spielen hieß, an das Theater zu glauben. Ein Nachrufvon Lars Eidinger | |
Protagonisten | |
Die Angelegenheit Anne FrankDas neu eröffnete Theater Amsterdam entdeckt eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Hollandsvon Martin Krumbholz | Seite 62 |
Kein schöner Land„Ein Exempel“ von Lutz Hübner verarbeitet die kafkaesken Prozesse der Dresdner Staatsanwaltschaft gegen Nazi-Gegnervon Michael Bartsch | Seite 64 |
Der panische Blick zum HimmelDie Bremerhavener Theatergruppe Das Letzte Kleinod erzählt an schroffen Orten entlang der deutschen Nordseeküste Geschichten vom Meervon Andreas Schnell | Seite 66 |
Look Out | |
Der Pakt mit der RolleDie Schauspielerin Kristina Peters stürzt sich unverblümt in die ungeheuerlichen Dimensionen ihrer Figurenvon Friederike Felbeck | Seite 68 |
Der Träumer als lärmender DauerläuferDer Schauspieler Jonas Lauenstein zeigt, wie Menschen plötzlich aufhören zu funktionierenvon Gunnar Decker | Seite 69 |
SCORES – Insert Tanzquartier Wien | Seite 73 |
Balthazar, ein Tier auf der Bühnevon David Weber-Krebs und Maximilian Haas | |
Abecedarium BestiariumPortraits of affinities in animal metaphorsvon Antonia Baehr | |
Ausland | |
Die Feste der MachtTheatermacher diskutieren bei der Internationalen Akademie Experimenta Sur in Bogotá, wie man dem gewaltsamen Wahn in Kolumbien künstlerisch entgegentreten kannvon Hugo Velarde | Seite 78 |
Das Fremde fressenHeidi und Rolf Abderhalden Cortés und Adriana María Urrea Restrepo vom Mapa Teatro über das Verhältnis von Gewalt und Fest in Kolumbien im Gespräch mit Hugo Velardevon Hugo Velarde, Rolf Abderhalden Cortés, Heidi Abderhalden Cortés und Adrina María Urrea Restrepozum Online-Extra: Heidi und Rolf Abderhalden Cortés und Adriana María Urrea Restrepo vom Mapa Teatro über das Verhältnis von Gewalt und Fest in Kolumbien | Seite 80 |
Die blinden Flecken der StadtChanging Places lässt verlassene Gebäude in Buenos Aires bespielen und setzt damit gesellschaftspolitische Imaginationen freivon Cynthia Edul | Seite 84 |
Stück | |
Am Ende des UniversumsDer Autor Jon Fosse über sein Stück „Meer“ und den Entschluss, nie wieder für das Theater zu schreiben, im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Jon Fosse | Seite 86 |
Meervon Jon Fosse | Seite 88 |
Magazin | |
Jedem seine ObsessionDas Festival Theaterformen verabschiedet seine Leiterin Anja Dirksvon Theresa Schütz | Seite 101 |
Schrot und KornZum ersten Mal trafen sich europäische Bürgerbühnen zu einem Festival in Dresdenvon Michael Bartsch | Seite 102 |
kirschs kontexteKeuner und Fatzer, Ideen und Gase. Nach Mü(h)lheimvon Sebastian Kirsch | Seite 103 |
Das offene FensterZum Tod von Beatrix Bühlervon Wolfgang Schneider | Seite 104 |
Der SichtbarmacherZum Tod von Harun Farockivon Matthias Dell | Seite 105 |
Brechts VerwalterManfred Wekwerth, der frühere Intendant des Berliner Ensembles, ist totvon Thomas Wieck | Seite 106 |
Der Zeitgeist-VirusVolker Braun: Werktage 2. Arbeitsbuch 1990 – 2008. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014, 998 S., 39,95 EUR.von Erik Baron | Seite 108 |
Frau ohne HimmelFeridun Zaimoglu: Isabel. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 240 S., 18,99 EUR.von Kerstin Car | Seite 109 |
Linzers Eck: Einen Schritt vor und dreihundert zurückWarum wir die Zukunftsfrage stellen müssenvon Martin Linzer | Seite 111 |
Stift und BühneDer Kölner Verlag Hartmann & Stauffacher wird 25 Jahre altvon Felicitas Arnold | Seite 112 |
Aktuell | Seite 114 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
Film: Doppelgängerspielvon Ralf Schenk | Seite 116 |
Literatur: Utopie aus vergangener Zeitvon Tom Mustroph | Seite 116 |
Kunst: No Manifestovon Ute Müller-Tischler | Seite 117 |
Musik: Schwebendes Klangfeldvon Otto Paul Burkhardt | Seite 117 |
Aktuell | |
PremierenSeptember 2014 | Seite 120 |
tdz on tour | Seite 122 |
Impressum/Vorschau | Seite 123 |
Gespräch | Seite 124 |
Was macht das Theater, The Tiger Lillies?von Dorte Lena Eilers und Martyn Jacques |
Heidi Abderhalden Cortés
Rolf Abderhalden Cortés
Margarete Affenzeller
Felicitas Arnold
Antonia Baehr
Erik Baron
Michael Bartsch
Josef Bierbichler
Matthias Brenner
Otto Paul Burkhardt
Kerstin Car
Gunnar Decker
Matthias Dell
Mirka Döring
Cynthia Edul
Lars Eidinger
Dorte Lena Eilers
Friederike Felbeck
Jon Fosse
Maximilian Haas
Martyn Jacques
Sebastian Kirsch
Martin Krumbholz
Frie Leysen
Martin Linzer
Bettina Meyer
Ute Müller-Tischler
Tom Mustroph
Ralf Schenk
Wolfgang Schneider
Andreas Schnell
Theresa Schütz
Shirin Sojitrawalla
Adrina María Urrea Restrepo
Hugo Velarde
David Weber-Krebs
Thomas Wieck
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Thema: Festivals | Seite 34 |
Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre FreiheitFrie Leysen, scheidende Schauspielchefin der Wiener Festwochen, über die fahrlässige Entwicklung von Festivals zu Instrumenten des Citymarketings und über den Mut zur radikalen Erneuerung im Gesprächvon Sebastian Kirsch und Frie Leysenzum Online-Extra: Warum ich die Wiener Festwochen verlasse - Offener Brief von Frie Leysen an Dr. Rudolf Scholten, den Aufsichtsratsvorsitzenden | |
Schaubild | Seite 48 |
Das René-Pollesch-Universumvon Matthias Dellzum Online-Extra: Das René-Pollesch-Universum | |
Ausland | Seite 80 |
Das Fremde fressenHeidi und Rolf Abderhalden Cortés und Adriana María Urrea Restrepo vom Mapa Teatro über das Verhältnis von Gewalt und Fest in Kolumbien im Gespräch mit Hugo Velardevon Hugo Velarde, Rolf Abderhalden Cortés, Heidi Abderhalden Cortés und Adrina María Urrea Restrepozum Online-Extra: Heidi und Rolf Abderhalden Cortés und Adriana María Urrea Restrepo vom Mapa Teatro über das Verhältnis von Gewalt und Fest in Kolumbien |
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