Eine Hafenstadt in Europa. Zwei illegale Einwanderer stehen am Strand: Fadoul und Elisio. Der eine im Anzug, der andere in Unterhosen, die dicken roten Lippen leicht geöffnet, die Schminke im Gesicht glänzend schwarz. Dieser Bildausschnitt, zitiert aus Michael Thalheimers Inszenierung von Dea Lohers „Unschuld“ am Deutschen Theater Berlin, hat mittlerweile Geschichte geschrieben. Eine Protestgeschichte. Eine Wutgeschichte. Und langsam, aber sicher auch eine Debattengeschichte. War den meisten in Deutschland lebenden weißen Theaterkennern das Wort Blackfacing lange unbekannt, wisse das deutsche Theater jetzt zumindest, wie man es schreibt, erklärt Matthias Dell. Indes: Was es bedeutet, wisse man nicht.
Der Schwerpunkt im Oktober geht der Debatte um das Thema Blackfacing nach, diskutiert den Einsatz dieses Theatermittels im Zeichensystem deutschsprachiger Inszenierungen und verweist auf seine Entstehungsgeschichte: auf das Blackfacing in amerikanischen Minstrel Shows, in denen weiße Schauspieler, überdeutlich schwarz geschminkt, in tumber Derbheit Afroamerikaner parodierten. Ein rassistisches Bild, das, wie Matt Cornish zeigt, auch in Deutschland nicht unbekannt ist. „Noch heute verwendet Machwitz-Kaffee das Logo von drei identisch gezeichneten lächelnden Frauen mit (…) rabenschwarzen Gesichtern und riesigen Lippen.“ Nun sei jedoch das Blackfacing als Theatermittel nicht per se zu verurteilen, biete es als – beispielsweise – Verfremdungseffekt doch ein reichhaltiges Instrumentarium, um alte und neue Rassismen zu erkunden. Doch sei das Theater darin derzeit ziemlich naiv. Zu diesem Fazit kommt auch Matthias Dell in seinem Einleitungstext, der unter anderem Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ unter die Lupe nimmt. Sein Gespräch mit der Schauspielerin und Autorin Elizabeth Blonzen und dem Schauspieler Ernest Allan Hausmann macht jedoch deutlich, dass sich die Debatte eben nicht nur um schwarze Schminke dreht. Es gehe schon bei den Stücken los, „wo Schwarze oft ganz Afrika repräsentieren sollen bzw. das Problem, das Afrika für uns Deutsche hat“, erklärt Blonzen. „Also: Ich möchte gerne Asyl (…). Aber nie: Ich suche eine Kita für meine Tochter (…).“ Die typischen Fallen der Bildkonstruktion: Einseitigkeit und bloße Oberflächen.
Der Berliner Fotograf David Baltzer ist ein Experte in Sachen Bild, seine Arbeit daher das genaue Gegenteil. „Ich suche den extrem verdichteten Moment, angeschnittene Schauspieler, zeichenhafte Reste aus dem Bühnenraum, die sozusagen das Innenleben der Figuren, ihre Seelenlage im Außen aufnehmen“, beschreibt er im Gespräch mit Ute Müller-Tischler. In unserem Künstlerinsert zeigen wir Arbeiten aus zwei Bereichen, die ihn interessieren: Theater und politische Demonstrationen.
Von verdichteten Momenten spricht auch Thomas Oberender in seiner Replik auf Frie Leysens Festivalkritik in der September-Ausgabe. „Festivals (…) sind unter den geistigen Antrieben der Kunstwelt die Explosionsmotoren. (…) Die Struktur, in der ein Jahr lang vorbereitet und aufgebaut wurde, legt den Hebel um, und das Programm schleudert das Material seiner Verknüpfungen nach draußen (…) aus diesem Zuviel kann sich der Besucher für wenige Tage ein sonst unerreichbar dichtes Feld von Erlebnissen und Inspirationen bauen.“ So erlebten es auch Mirka Döring beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel und Michael Helbing beim ersten Kunstfest Weimar unter Christian Holtzhauer.
In Schwerin hat man derweil von explosiven Zeiten so langsam genug. Seit Jahren tickern immer wieder neue Horrormeldungen vonseiten der Kulturpolitik durch die Leitungen. Erst kürzlich empfahl die von Bildungsminister Mathias Brodkorb beauftragte Metronom-Unternehmensberatung München, aus einigen Vierspartenhäusern in Mecklenburg-Vorpommern Einspartenhäuser zu machen – das sei günstiger. Wobei sich später herausstellte, dass sich die Münchner um einige Millionen verrechnet hatten. Doch Joachim Kümmritz, Generalintendant des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, ist „beinhart und clever, wenn es darum geht, schon verloren geglaubte Spiele noch zu drehen“, berichtet Gunnar Decker. Er kontert die desolate Kulturpolitik – mit Kunst.
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Fotografienvon David Baltzer | Seite 6 |
Die Wette auf die ZukunftDer Fotograf David Baltzer verdichtet Energien zu Momentaufnahmen der Wirklichkeit – im Theater wie auf Demonstrationen. Ein Gespräch mit Ute Müller-Tischlervon Ute Müller-Tischler und David Baltzer | Seite 10 |
Thema: blackfacing | |
Unser ProblemDas deutsche Theater weiß mittlerweile zwar, wie man Blackfacing schreibt, schmiert sich aber immer noch schwarze Schminke ins Gesichtvon Matthias Dellzum Online-Extra: Unser Problem | Seite 14 |
Anders geht’s ja nicht!Die Schauspielerin und Autorin Elizabeth Blonzen und der Schauspieler Ernest Allan Hausmann im Gespräch mit Matthias Dellvon Matthias Dell, Elizabeth Blonzen und Ernest Allan Hausmannzum Online-Extra: Anders geht’s ja nicht! | Seite 18 |
Echt kein BrechtBlackfacing ließe sich als Verfremdungseffekt nutzen – wenn der Rückgriff darauf reflektiert würdevon Matt Cornishzum Online-Extra: Echt kein Brecht | Seite 22 |
Protagonisten | Seite 24 |
Daily News nach MüllerHeiner Müller wappnet gegen einen Zeitgeist, der alles zu einer einzigen Gegenwart verschmelzen willvon Sebastian Kirsch | |
Festivals | |
Explosionsmotoren oder Warum Festivals?Der Intendant der Berliner Festspiele erinnert daran, was Festivals anderen Produktions- und Präsentationsformen voraus habenvon Thomas Oberender | Seite 28 |
Die HurentherapieDas Internationale Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg rückt Sexarbeit ins Zentrum und schafft damit Räume zur Selbstpräsentationvon Mirka Döring | Seite 32 |
Im Museum WeimarZwischen Ausstellungsführungen und Stadtparcours – Christian Holtzhauer inszeniert sein erstes Kunstfest und gibt der Stadt die Hauptrollevon Michael Helbing | Seite 35 |
Kolumne | Seite 37 |
Beiträge zur neuen deutschen VolkstümlichkeitHeute: Des Hitlers neue Kleidervon Nis-Momme Stockmann | |
Protagonisten | Seite 38 |
Edgar renntDas Mecklenburgische Staatstheater Schwerin kontert die desolate Kulturpolitik des Landes – mit Kunstvon Gunnar Decker | |
SCORES – Insert Tanzquartier Wien | Seite 41 |
Kunstproduktion als Form des täglichen Protestsvon Farah Saleh | |
Variations orientalistesvon Mary Chebbah, Renaud Golo, Sandra Iché, Pascale Schaer und Vincent Weber | |
Look Out | |
Der Finger auf der WohlstandswundeDer Oberhausener Schauspieler Sergej Lubic gibt sich einer lyrischen Melancholie hinvon Friederike Felbeck | Seite 42 |
Nenn mich naivDie Autorin und Performerin Marjolijn van Heemstra sucht nach Verbundenheit in der globalisierten Weltvon Jörg Vorhaben | Seite 43 |
Auftritt | |
Berlin: Die langen SchattenSchaubühne: „The Forbidden Zone“ (UA) von Duncan Macmillan. Regie Katie Mitchell, Videoregie Leo Warner, Bühne Lizzie Clachan, Kostüme Sussie Juhlin-Wallénvon Gunnar Decker | Seite 47 |
Berlin: Einfach mal weitermachenVolksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: „House for sale“ (UA) von René Pollesch. Regie René Pollesch, Bühne Bert Neumann, Kostüme Tabea Braunvon Simon Rothöhler | Seite 48 |
Bielefeld: Im Ob-RaumTheater Bielefeld: „Die Oppelts haben ihr Haus verkauft“ von David Gieselmann (UA). Regie Christian Schlüter, Ausstattung Jochen Schmittvon Theresa Schütz | Seite 49 |
Köln: Der Zweifel in Toms GehirnSchauspiel Köln: „Dogville“ nach Lars von Trier. Regie Bastian Kraft, Bühne Peter Baur, Kostüme Inga Timmvon Martin Krumbholz | Seite 50 |
Spangenberg: Der letzte VorhangMittelgasse 14: „Das Haus :: Acht Räume Acht Spieler Ein Zuschauer“ (UA). Texte Lothar Kittstein und Christina Rast, Regie Bernhard Mikeska, Christina Rast und Yana Thönnesvon Friederike Felbeck | Seite 51 |
Wien: In den Regenwäldern AfghanistansBurgtheater: „Die lächerliche Finsternis“ (UA) von Wolfram Lotz. Regie und Bühne Dušan David Parízek, Kostüme Kamila Polívkovávon Margarete Affenzeller | Seite 52 |
Stück | |
Eis am Stiel und tausend ToteDas Autorenduo Nolte Decar fragt mit seinem Stück „Das Tierreich“ danach, worauf angesichts globalpolitischer Katastrophen die persönliche Freiheit fußt. Ein Gespräch mit Mirka Döringvon Mirka Döring, Michel Decar und Jakob Nolte | Seite 54 |
Das Tierreichvon Michel Decar und Jakob Nolte | Seite 56 |
Magazin | |
Der Hunger nach WahrheitBulgariens Gesellschaft rebelliert – auf der Straße und im Theater. Nun trat die Regierung endlich zurückvon Kamelija Nikolova | Seite 69 |
Schichtwechsel„This is not Detroit“ von Schauspielhaus und Urbane Künste Ruhr fragt, wie es ohne Opel in Bochum weitergehen wirdvon Martin Krumbholz | Seite 70 |
kirschs kontexteSchwarz auf weiß in Goethes Tagebuch. Zu einigen neuen Erkenntnissen der Goethe-Forschungvon Sebastian Kirsch | Seite 71 |
Das Märchen seines LebensZinnober-Urgestein Werner Hennrich wird 70von Martin Linzer | Seite 73 |
Eine Drehscheibe im Land der StädteDie interkommunale Förderinitiative NRW Kultursekretariat feiert 40. Jubiläumvon Martin Krumbholz | Seite 74 |
Linzers EckDie Komödianten sterben aus. Zum Tod von Günter Junghansvon Martin Linzer | Seite 75 |
Der vertraute FremdeZum Tod des Schauspielers Gottfried Johnvon Gunnar Decker | Seite 76 |
Garten des JahrhundertsPeter Handke, Thomas Oberender: Nebeneingang oder Haupteingang? Gespräche über 50 Jahre Schreiben fürs Theater. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 199 S., 20 EUR.von Gunnar Decker | Seite 78 |
Keine TheatergeschichteRüdiger Schaper: Spektakel. Eine Geschichte des Theaters von Schlingensief bis Aischylos, Siedler Verlag, München 2014, 352 S., 24,99 EUR.von Martin Linzer | Seite 79 |
Aktuell | Seite 80 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
Film: Was kostet der Mensch?von Ralf Schenk | Seite 82 |
Literatur: Am Sein tunenvon Tom Mustroph | Seite 82 |
Kunst: Historienpanoramavon Ute Müller-Tischler | Seite 83 |
Musik: Musikalische Fußabdrückevon Ulrike Rechel | Seite 83 |
Aktuell | Seite 84 |
PremierenOktober 2014 | |
TdZ on Tour | Seite 86 |
Impressum/Vorschau | Seite 87 |
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Was macht das Theater, Neil LaButevon Neil LaBute und Elke Fringszum Online-Extra: Langfassung des Gesprächs mit Neil LaBute |
Margarete Affenzeller
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Unser ProblemDas deutsche Theater weiß mittlerweile zwar, wie man Blackfacing schreibt, schmiert sich aber immer noch schwarze Schminke ins Gesichtvon Matthias Dellzum Online-Extra: Unser Problem | Seite 14 |
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Echt kein BrechtBlackfacing ließe sich als Verfremdungseffekt nutzen – wenn der Rückgriff darauf reflektiert würdevon Matt Cornishzum Online-Extra: Echt kein Brecht | Seite 22 |
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