anstelle eines editorials

Die Lehren aus Chemnitz

Franz Knoppe, der Chemnitzer Projektkoordinator des internationalen Kunstnetzwerks Grass Lifter, im Gespräch mit Gunnar Decker

von und

Foto Magda Decker
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Franz Knoppe, wofür steht Chemnitz? Für eine Hochburg der Rechtsradikalen, also für Gewalt und Fremdenhass, oder für die Verteidigung der zivilgesellschaftlichen Normen?
Für beides. Dass es gerade hier zu rechtsextremen Aktivitäten kam, überrascht mich nicht, die Strukturen existieren gerade in Chemnitz seit Langem. Überraschend aber war die Mobilisierungsfähigkeit dieser Gruppierungen, die die Tötung eines Unbeteiligten als Signal für einen inszenierten Hassausbruch nahmen, bis hin zu gewalttätigen Übergriffen auf Andersaussehende und Andersdenkende. Aber es gab eben auch das andere Chemnitz, etwa mit der Aktion „Die Blockade des Grundgesetzes“, wo Hunderte Grundgesetzbücher den rechten Demonstrationszügen den Weg versperrten. Am Rand der Demo hing ein zwanzig Meter großes Plakat: „Die Würde des Menschen ist antastbar. Stand 27.08.2018“. Auch bei den Demonstrationen gegen den Rechtsextremismus funktionierten die Netzwerke: Es kamen zehnmal mehr Menschen nach Chemnitz, die sich für Toleranz und eine offene Gesellschaft einsetzten – sechzig- bis siebzigtausend zum Konzert mit der Chemnitzer Band Kraftklub, der Gruppe Feine Sahne Fischfilet und den Toten Hosen.

Campino von den Toten Hosen sagte dann auch, es gehe nicht um links gegen rechts. Denn mit dem Verlust allgemeinverbindlicher ziviler Normen verlieren wir alle viel – an Differenzierungsmöglichkeiten, Nuancierungswillen, an Niveau und an Takt im Umgang miteinander. Ein simples Freund-Feind-Schema droht alles zu beherrschen. Wird es nicht höchste Zeit, an Brechts Aufforderung einer großen Aussprache im Lande zu erinnern?
Ein Versuch gab es bereits, das sogenannte Sachsengespräch von Chemnitzer Bürgerinnen und Bürgern mit Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD).

Mit welchem Ergebnis?
Es gab zuerst viele Buhs für beide, dann lief alles mit den üblichen Defensivstrategien ab. Kretschmer sagte etwa, es seien gerade sechzehn „Gefährder“ abgeschoben worden, aus dem Publikum rief man, es hätten mindestens hundertsechzig sein müssen. Auf dieser Ebene etwa lief es ab.

Kein Neuansatz, Gräben zu überwinden, keine Fantasie, die von einer vitalen Bürgergesellschaft zeugt?
Auf dieser Ebene offenbar nicht. Aber zuerst müsste man über die Ursachen der sozialen Desintegration sprechen, die die Basis für solche Ausschreitungen ist. Ich wohne auf dem armen Sonnenberg und nicht auf dem reichen Kaßberg, in diesen Stadtteilen zeigt sich Chemnitz auf zweierlei Art. Auf dem Sonnenberg leben viele Hartz-IV-Empfänger, da ist der Anteil der Rechtsextremen besonders hoch. Aber auch der Ausländeranteil ist hoch. Der Kaßberg ist wesentlich homogener, reicher, auch leben dort weniger Geflüchtete. Ähnlich wie in Prenzlauer Berg. Links reden, rechts leben. Wir brauchen wieder eine soziale Durchmischung, dann kann auch Integration besser funktionieren, anstatt dass Ressentiments wachsen.

Sie haben mit dem Projekt „Unentdeckte Nachbarn“ 2016 die Vernetzung des „NSU“ mit der sächsischen Szene aufgezeigt, auch obskure Verbindungen der Terrorzelle zum Verfassungsschutz – und das alles auf eine verblüffend originelle theatrale Art und Weise. In Laura Linnenbaums Inszenierung „Beate Uwe Uwe Selfie Klick“ verband sich etwa Puppenspiel, Dokumentarisches und Diskussion. Eine Geschichtswerkstatt, in der es darum ging, zu eigenen Urteilen und Einsichten zu gelangen, nicht fertige vorgesetzt zu bekommen?
Genau das ist auch der Ansatzpunkt für das sich in diesem Jahr anschließende Projekt „neue unentd_ckte narrative“.

Geschichte anders erzählen?
Wir wollen das Feld öffnen für die Geschichten in der Geschichte, ganz konkret hier in Chemnitz als frühere Industriemetropole, das sächsische Manchester. Also weg von der hülsenhaften Verschlagwortung von Demokratie, hin zu dem, was hier lebendiger Inhalt ist. Etwa die Rede von den „Wendeverlierern“, ein Begriff, der von Rechten oft genutzt und missbraucht wird. Das ist ein gedankenloses Wort – es unterschlägt, dass die Ostdeutschen die Erfahrung einer Transformation von einer Gesellschaftsordnung in eine andere in sich tragen. Das hat auch mit Kraft zu tun und einer besonderen Sensibilität für das, was in einer Gesellschaft Lügen und Verwerfungen sind, über die nicht laut gesprochen wurde. Diese Untergangserfahrung an sich ist ein Vorzug, der jedoch auch missbraucht werden kann. In unserem Projekt wollen wir Biografien anhand von Objekten erzählen, die mit einer abhandengekommenen Lebenswirklichkeit zu tun haben. Wir legen das Sächsische unter den Polylux.

Was ein Polylux ist, also ein Tageslichtprojektor, weiß auch nur noch eine bestimmte Generation Ost. Handelt es sich um eine Art Wiedervorlage der Nachwendegeschichte als Erinnerungsarbeit?
In diesem Jahr wenden wir uns bewusst der Vergangenheit zu. Es scheint so, als brauchten wir so etwas wie das, was 1968 für den Westen war: Ein Aufbruch, der aus einer radikalen Neubewertung der Geschichte, unter anderem der Nachwendegeschichte kommt. Die große Frage in unserem Projekt ist aber die Frage nach der neuen Erzählung. Wir rücken Erzählungen über vergangene Umbrüche und die Zukunft ins Zentrum, das Futter aktueller Anerkennungs- und Machtkonflikte. Wir fragen: Welche Erzählungen, neu oder unentdeckt, stiften Sinn und geben Orientierung, um eine moderne Gesellschaft divers und friedlich zu gestalten? Wir setzen dem „Ende der Geschichte“ und „der Geschichte vom Kampf der Kulturen“ „Die unendliche Geschichte“ entgegen. Wir fördern europäische Erzählungen über Koproduktionen, Residenzprogramme sowie Bildungs- und Vernetzungsreisen in andere europäische Städte wie Budapest, Rotterdam oder Manchester.

Geht es um das Unabgegoltene in der Geschichte oder um das, was zu Recht tot und begraben ist?
Beides. Es geht ja darum, sich selbst in dieser Geschichte wiederzufinden. Das Bewusstsein des Scheiterns ist doch viel komplexer als jede Siegermentalität. Das ist das Feld, auf dem wir Geschichte durchspielen wollen – auch mit dem gebürtigen Chemnitzer Stefan Heym, der als Puppe immer dabei ist. Aber der eigentliche Clou ist noch ein Geheimnis.

Heym hat ja mit Büchern wie „Schwarzenberg“ ganz explizit über gesellschaftliche Alternativen nachgedacht, etwa über einen freiheitlichen Sozialismus in einem nach dem Krieg von den Besatzern – kurzzeitig – vergessenen Landeswinkel im Erzgebirge, die „Republik Schwarzenberg“. Das ist ein Stück erinnerter Realität und zugleich eine bezaubernde Utopie, erschienen 1984 unter widrigen Bedingungen noch vor der Gorbatschow-Ära.
Im nächsten Jahr wenden wir uns dann ausdrücklich der Zukunft zu, dem Thema Utopie – entdecken Möglichkeiten des Anderswerdens. Aber wichtig ist für Chemnitz eben auch das Festivalformat, ein starker Fokus, etwa das Zusammenspiel von Figurentheater und Industriemuseum. Wie bewältigt eine vormalige Industriestadt den Schritt über die Schwelle der Digitalisierung – das ist auch vor dem Hintergrund dessen wichtig, was den Anlass dieses Gesprächs bildet. Da zeigt sich dann in allen Lebensbereichen, dass die simplen Narrative versagen – oder wie es Niklas Luhmann einmal formulierte: Komplexität lasse sich nur mittels Komplexität reduzieren.

Wie politisch ist dieses künstlerische Projekt?
Kunst sendet immer eine politische Ebene mit. Die Frage ist: Macht sie das bewusst und vor allem gekonnt. Letzteres ist, was wir versuchen, indem wir viele Akteure aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Kultur zusammenbringen und im Anschluss mit politischen Debatten dem Publikum einen Raum für einen Austausch bieten.

Zurück zur Eingangsfrage: Welche Atmosphäre ist in Chemnitz derzeit die vorherrschende?
Natürlich gibt es trotz oder sogar wegen all der drastischen Widersprüchlichkeiten in der Stadt auch viel Freundlichkeit hier, ebenso gewachsene Freundschaften zwischen Einheimischen und Flüchtlingen. Es gab vor drei Jahren viele Initiativen, Begleitung bei Ämtergängen, gegenseitige Einladungen und Hilfe bei der Orientierung in einem fremden Land. Glücklicherweise gibt es diese positive gegenseitige Erfahrung, sodass klar scheint: Die Hassfraktion ist klein, aber präsent. Und dieser Anteil von lautstarken Radikalen zermürbt auf die Dauer – da muss man nicht einmal vom Sprengstoffanschlag im Jahr 2016 auf das Kulturzentrum Lokomov sprechen, der von den Verantwortlichen in der Stadt nicht so ernst genommen wurde, wie es notwendig gewesen wäre. Jetzt ist das anders. Die Aufmerksamkeit ist da.

Wie soll es in Chemnitz weitergehen? Der Riss, der durch die Gesellschaft geht, ist unübersehbar. Wird die Ideologie der Feindbilder selbst zum größten Feind des inneren Friedens?
Gesellschaften erodieren an der Peripherie. Deswegen ist es umso wichtiger, Chemnitz zu einem Modell für Europa zu machen. Im Jahr 2020 muss die Frage lauten: Was kann Europa von Chemnitz lernen? Wir müssen lernen, wieder die digitalen Blasen zu verlassen und uns auch mit den Erwachsenen zu unterhalten, die man beim Fußballtraining der eigenen Kinder trifft. Da prallen Welten aufeinander, aber es gibt auch Vertrauen, weil man beispielsweise Fußballschuhe untereinander getauscht hat. Wenn man miteinander redet, ist man jedenfalls schon einen Schritt weiter. //

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