Brecht lesen – Gesichter und Aspekte
Es gehört keine besondere Prophetengabe dazu, ein erneuertes Interesse an Brecht in den kommenden Jahren vorherzusagen. Zum einen rückt der 70. Todestag des Dichters näher, sodass vom 1. Januar 2027 an Brecht „frei“ sein wird. Auch wenn die Zulassungspolitik der Erben schon etwas nachgiebiger geworden ist, lässt sich vorhersehen, dass ein unvoreingenommener Blick auf Brecht jenseits der orthodoxen Rezeption auf dem Wege ist.
Zum anderen ist gesellschaftlich und politisch viel in Bewegung geraten. Die politische Mentalität hat sich verändert. Neue politische Fronten sind aufgetaucht, eine verschärfte Kritik und Selbstkritik der (westlichen) Demokratien verbindet sich mit dem Gefühl, dass die eigene Verantwortung Europas und des Westens für die Katastrophen im Süden der Welt verleugnet wird. In dieser veränderten Lage tritt immer deutlicher hervor, dass längst vergessene Kategorien wie Kapital und Geldzirkulation, Bankenmacht und Ausbeutung wieder aktuell klingen. Das verbliebene Restvertrauen in die sogenannten Eliten ist mehr oder minder ruiniert. Immer weniger akzeptieren die Menschen die Tatsache des obszönen Reichtums einer kleinen Gruppe, der für diese eine unfasslich große Macht bedeutet, die keinerlei Kontrolle oder Legitimität unterliegt. Weltweit ist zu beobachten, dass die Formen der Repräsentation in die Krise geraten sind. Immer öfter geben große Menschenmassen auf den Straßen ihren Forderungen Ausdruck. Nicht undenkbar, dass die Empörung über einzelne Auswüchse umschlagen könnte in politische Empörung über das System. Zugleich ist zu beobachten, dass diese Empörung ebenso leicht in dumpfe Reaktionen wie in aufgeklärte Kritik münden kann. Was aber das Brechtsche Theater auszeichnet, ist gerade, dass es bei ihm nie um Auswüchse oder skandalöse Erscheinungen des Kapitalismus geht, sondern um den Kapitalismus selbst, die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens in einer Gesellschaft, in der sich die Menschen immer nur wesentlich als Konkurrenten begegnen, nicht – um einen seiner Schlüsselbegriffe zu nennen – als Helfer.
Wie Brecht und wie auch Heiner Müller, so wird der Beobachter deswegen auch heute nicht zu politischem Optimismus neigen. Der kluge Paul Valéry sagte, Optimisten schreiben schlecht; Heiner Müller spitzte zu, Optimismus ist Mangel an Information. Gleichwohl gibt es bei Brecht nicht nur das durchgreifende Bewusstsein von der Macht der Verhältnisse über den Einzelnen, sondern auch den Gedanken an ein Subjekt, das in jedem Moment in der Lage ist, das vollkommen Unerwartete, das Unkalkulierbare zu tun. Und wenn es eine basale, poetische und gedankliche Intuition Brechts gibt, eine idée fixe gewissermaßen, so war es das Wasser, das fließt, die permanente Veränderung, der Wechsel der Dinge. Sie steht im krassen Gegensatz zu Heiner Müllers zentraler Vorstellung, die das Steinerne war. Der Kontrast beider Dichter lässt sich zusammenfassen in der Variation, die Heiner Müller erdachte, zu jenem Satz Brechts am Ende der Mutter: „So, wie es ist, bleibt es nicht.“ Müllers Antwort lautete: „So, wie es bleibt, ist es nicht.“