Brechts Galilei
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1938 vollendet Brecht in Skovsbostrand im dänischen Exil die erste Fassung seines Galilei, die – schon 1939 leicht überarbeitet – der Uraufführung des Dramas 1943 in Zürich zugrunde lag. Die spätere Konzentration auf die zentrale Gestalt ist zunächst weniger ausgeprägt: Die erste Niederschrift trägt noch den Titel „Die Erde bewegt sich“. In den USA entsteht 1944 bis 1947 eine zweite „amerikanische“ Fassung, die unter dem Titel „Galileo“ in Los Angeles mit Charles Laughton in der Hauptrolle zur Aufführung kommt. 1955/56 erarbeitet Brecht am Berliner Ensemble eine dritte Version, die wesentliche Teile der Urfassung wiederherstellt und – während der Proben erneut verändert – der Spieltext für die berühmte Inszenierung des Berliner Ensembles von 1957 wird. Grundstruktur und Handlungsverlauf bleiben in allen Fassungen identisch, während von der dänischen über die amerikanische bis zur Berliner Version eine wesentliche Verschiebung der Thematik erfolgt.
Die Fabel des Stücks enthält folgende Handlungsmomente: Galilei, Lehrer der Mathematik in Padua, findet Beweise für die kopernikanische Lehre, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, wie es das kanonisierte ptolemäische Weltbild annimmt. In der Republik Venedig findet er Forschungsfreiheit, aber weder genügend Mittel noch Muße zur Arbeit und geht darum an den Hof des Großherzogs von Florenz, obwohl dort die Inquisition mächtig ist. Als die Pest ausbricht, bleibt er mutig in der Stadt, um seine Arbeit weiterführen zu können. Seine Forschungen werden auf den Index gesetzt, Galilei arbeitet im Verborgenen weiter. Bei der Wahl des Papstes Urban VIII. rechnet er – allzu optimistisch – mit einer liberaleren Haltung der Kirche und nimmt seine Forschungen offen wieder auf. Es kommt zum Prozess vor der Inquisition, Galilei widerruft seine Erkenntnisse und fügt damit dem wissenschaftlichen und sozialen Fortschritt schweren Schaden zu. Seine über den Verrat entsetzten Schüler wenden sich von ihm ab. Nach dem Widerruf lebt Galilei als Gefangener der Inquisition unter der Obhut und Aufsicht seiner Tochter in einem Landhaus unweit von Florenz. Zwar schreibt er heimlich ein die Wissenschaft revolutionierendes Werk, doch in einer von dem ihn besuchenden Schüler Andrea „mörderisch“
genannten Selbstanalyse seines Falls kommt Galilei am Ende zu dem vernichtenden Urteil, er habe sich durch seinen Verrat nicht nur „selbst zerstört“, sondern aus der Welt der Wissenschaft definitiv ausgeschlossen. Der Wissenschaftler dürfe sich der Aufgabe nicht entziehen, auch die soziale Praxis zu beeinflussen, die seine theoretische Arbeit möglich macht. Seine Haltung erscheint als Verrat nicht nur an der Wissenschaft, sondern auch an der Gesellschaft. Denn das Volk und die aufstrebende bürgerliche Klasse benötigen die Wissenschaft für ihre modernen Ziele. Zugleich überlässt er die heimlich gemachte Abschrift seines Werks seinem Schüler, der es aus Italien hinausschmuggeln kann: Die Aufklärung wird fortschreiten.
Vielen gilt mit guten Gründen Leben des Galilei als das bedeutendste Theaterstück Brechts überhaupt. Allerdings ist es bei Schülern, die das Stück durchnehmen müssen, als Schlaftablette gefürchtet. Und in der Tat eignet der Dramaturgie eine gewisse epische Behäbigkeit, und ebenso können die oft allzu klug geschliffenen Dialoge jene Langeweile hervorrufen, die man angesichts von allem zu Fertigem empfindet.
Entgegen einer noch immer verbreiteten Fehlinformation handelt es sich nicht um ein Thesenstück zur Verantwortung der Wissenschaft für die Atombombe. Erst im Dezember 1938 erfuhr Brecht von der gelungenen Urankernspaltung, und er fügte erst 1939 dem Stück eine kurze Passage ein, die – in wohlgemerkt optimistischem Ton – auf „neue Entdeckungen“ anspielt, „welche die Glücksgüter der Menschen unermesslich vermehren müssen“. Um die Atombombe geht es erst, als Brecht mit Laughton unter dem Eindruck von Hiroshima die amerikanische Übersetzung herstellt. Überhaupt steht nicht die individuelle moralische Verantwortung des Wissenschaftlers im Vordergrund. In einer Notiz von 1947 macht Brecht sich vielmehr Sorgen, dass man in Galilei eine Moral hineinlesen könnte und schreibt: „im galilei ist die moral natürlich in keiner weise absolut. wäre die gesellschaftliche bürgerliche bewegung, die sich seiner bedient, als absteigend dargestellt, könnte er ruhig widerrufen und damit etwas recht vernünftiges besorgen. (siehe jasager und neinsager!)“1 Es ist interessant, wie Brecht seine Figur in wechselnder Beleuchtung erscheinen lässt. Vor der Inquisition verhält er sich „feige“, aber zuvor blieb er, um weiter zu forschen, heldenhaft in der Stadt, die von der Pest befallen ist. Und er ging das Risiko der Verurteilung ein, als noch zweifelhaft war, wie es um seine Sache steht. Einmal gefährdet er seine Wissenschaft, um sich nicht zu gefährden. Das andere Mal gefährdet er sich, um seine Wissenschaft nicht zu gefährden. Ein Urteil über seine persönliche moralische Stärke kann aufgrund der Informationen des Textes nicht gefällt werden.
Das zentral gestellte Problem ist ein anderes. Es geht um ein im politisch-pragmatischen Sinne „richtiges Verhalten“, nicht um persönliche Moral. Wie die Anspielung auf den Jasager in der Notiz Brechts schon nahelegt, ist Galilei auf dieses Thema der Lehrstücke orientiert. In der dramatisch wirkungsvollen Szene der Wiederbegegnung von Lehrer und Schüler tritt das subjektive moralische Problem der mangelnden Standhaftigkeit Galileis daher vollkommen zurück gegenüber der katastrophalen Auswirkung seines Verhaltens für die Verbreitung der neuen Lehre im internationalen Maßstab.
Andrea: Auch wir hören, daß die Heilige Kirche mit Ihnen zufrieden
ist. Ihre völlige Unterwerfung hat die allzu eifrigen und ohne Rücksicht
auf die kirchlichen Dogmen der Wissenschaft dienenden Geister
darüber belehrt, daß man nicht forschen soll, wenn es von den
Oberen nicht gewünscht wird […].
Galilei: mühsam Leider gibt es Länder, die sich der Obhut der Kirche
entziehen. Ich fürchte, daß die irrtümlichen und verurteilten
Lehren dort wenigstens weiter gefördert werden.
Andrea: Auch dort traf im Folge Ihres Widerrufs ein für die Kirche
erfolgreicher Rückschlag ein. Ihr Name ist auf den Lippen aller
derer, die in dem ungehemmten Fortschritt der Naturwissenschaften
eine Bedrohung der allgemeinen Ordnung sehen.
Galilei: Ich verstehe. (Pause)2
Dieses Motiv ist eine freie Erfindung Brechts, die keinerlei Basis in der historischen Wirklichkeit hat. Dass Brecht die historischen Fakten nur respektiert, soweit sie dem eigenen Argumentum nicht im Wege stehen, ist keine sensationelle Erkenntnis. Doch gibt die hartnäckige Tendenz der Sekundärliteratur zu dem Stück, gerade seine Behandlung des historischen Materials ins Zentrum zu rücken, Anlass, sie zu wiederholen. (Im verbreitetsten Brecht-Handbuch wird etwa seitenlang liebevoll das Problem hin- und hergerollt, ob denn Brechts Konzeption sich mit der Historie in Einklang bringen lasse.) Aber das Geschichtliche ist in Galilei wenig mehr als eine bloße Chiffre für eine gegenwärtige Problematik. Insofern haben Forscher wie K. D. Müller richtig gesehen, der Galilei dem ersten Anschein zum Trotz nicht als ein historisches Drama, sondern als ein Stück vom Parabeltypus auffasste.
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