Heft 01/2020
Subversive Affirmation
Performances von Julian Hetzel
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
- Thema: 20 Jahre "Postdramatisches Theater"
Verlag der Autoren. Ende der neunziger Jahre. Vor Lektorin Marion Victor liegt ein Manuskript, das die spätere Geschäftsführerin vor eine Herausforderung stellt. Er könne sich noch gut daran erinnern, berichtet der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, wie Marion Victor am Telefon zu ihm gesagt habe: Das sei ja alles wirklich sehr interessant, aber sie sei nicht sicher, ob sie es verantworten könne, im Verlag der Autoren ein Buch zu machen, das die Rolle des Autors so offenkundig geringschätze. Sie konnte! Zum Glück. Denn Hans-Thies Lehmanns vor genau zwanzig Jahren erschienene Studie „Postdramatisches Theater“ habe vielen den Hals gerettet, wie René Pollesch auf der Jubiläumsveranstaltung in der Akademie der Künste Berlin (AdK) Ende November 2019 erklärte. Zuvor galt nur schwerlich als Theater, was so manch ein Theaterneudenker auf der Bühne mit Licht, Körper, Sprache, Medien, Zeit und Raum veranstaltete. Lehmanns Standardwerk gab diesen Spielarten des Theatralischen eine theoretische Legitimation.
Seit Erscheinen des „Postdramatischen Theaters“ ebbten die Diskussionen freilich nicht ab. Was ist Performance? Was klassisches Schauspiel? Die Wellen schlugen hoch. Auch jetzt gelte es, schreibt Jakob Hayner in seinem Einleitungstext zu unserem Schwerpunkt zum „Postdramatischen Theater“, diesen Gegenstand nicht ab-, sondern gerade wieder aufzuschließen. Das Symposium an der AdK erweiterte den Diskurs, wie Martin Müller berichtet, um internationale Positionen. Weniger glücklich zeigte sich Tom Mustroph angesichts der neuesten Produktion von She She Pop: Deren Jubiläumsinszenierung „Kanon“ hätte eine Forensik der Performance-Geschichte sein können, geriet aber eher zum missglückten Theatersport. Hans-Thies Lehmann wiederum redete mit seinem Postskriptum zu Moral, Politik und Theater, das wir hier abdrucken und das in Auszügen auch in der AdK verlesen wurde, allen ins Gewissen. Das „linke“ Denken, schreibt er, erlebe gegenwärtig einen Moment der Ohnmacht. „Ohnmächtig steht da, hilflos, wer die politische Form unserer Vergesellschaftung nicht als der Weisheit letzten Schluss annehmen will, welche die Menschen zwingt, sich systematisch zu den anderen als Konkurrent zu verhalten, nicht als Helfer.“ Dass in der Kunst, wie jetzt am Beispiel Peter Handkes zu sehen, die fehlende Moral durch einen verbissen Moralismus wieder wettgemacht werden solle, sei ein Irrweg.
Die Arbeiten von Julian Hetzel sind momentan die radikalsten Kunstereignisse, die diesen Irrweg gerade nicht beschreiten. Im Gegenteil. Seine Performances und Installationen, die auch mit den Mitteln der bildenden Kunst experimentieren, blicken bewusst in die moralischen Abgründe – nicht nur unserer Gesellschaft, sondern auch des Kunstbetriebs. „Während die Vereindeutigung der Welt heute rapide voranschreitet und Ambivalenzen in einem Entweder-oder erstickt, sind Julian Hetzels politisch nicht korrekte Performances als Aufforderung zum Selbstdenken jedenfalls mehr als zu begrüßen“, schreibt Anja Nioduschewski in ihrem Porträt. Wir stellen Hetzels Arbeiten in unserem Künstlerinsert vor.
Eine der spannendsten Künstlerinnen einer ganz anderen Form von Theater ist derzeit die polnische Regisseurin Marta Górnicka, die Renate Klett porträtiert. In ihren hochenergetischen Chören bindet sie Menschen unterschiedlichster Herkünfte zusammen, in „Hymne an die Liebe“ sogar Vertreter vom politisch linken und rechten Spektrum. Echte Trainingscamps für das Aushalten von Ambivalenzen also.
Wütende Chöre formieren sich seit November 2019 auch in Belgien und Ungarn. In beiden Ländern drohen die rechtsnationalen Regierungen den freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern die Förderung zu streichen. Ein Angriff auf die Kultur, der ideologisch grundiert ist. Charlotte De Somviele und Kristof van Baarle berichten aus Flandern, Anja Nioduschewski schildert die Lage in Ungarn.
Mit der Rolle des Autors beschäftigen sich in dieser Ausgabe unsere Kolumnistin Kathrin Röggla und der Regisseur und Autor Alexander Eisenach. Während Röggla Überlegungen anstellt, was die Dramatik tun könne, um sich gegen ihr Verschwinden zu wehren, denkt Eisenach über die Krise des Autors nach, die mit der Krise der Wahrheit und also der Krise der gültigen Narrative einhergeht. Jakob Hayner hat mit ihm über sein neuestes Stück „Stunde der Hochstapler“, das wir hier veröffentlichen, gesprochen.
Neben dem Neustart am Theater Neubrandenburg und Neustrelitz, über den Gunnar Decker berichtet, haben wir auch aus unserem Haus Neuigkeiten zu vermelden. Mit der Januarausgabe ist Dorte Lena Eilers neue Chefredakteurin von Theater der Zeit. Harald Müller bleibt der Zeitschrift als Herausgeber verbunden. Wir freuen uns auf eine neue gemeinsame Zukunft und wünschen allen Leserinnen und Lesern einen guten Start ins neue Jahr. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Performancesvon Julian Hetzel | Seite 4 |
Subversive AffirmationJulian Hetzels Performances provozieren in Zeiten zunehmender Vereindeutigung spannungsreiche Ambivalenzenvon Anja Nioduschewski | Seite 7 |
Thema: Postdramatisches Theater | |
Debatte und KritikZwanzig Jahre „Postdramatisches Theater“ von Hans-Thies Lehmannvon Jakob Hayner | Seite 11 |
Moral, Politik, TheaterEin Postskriptumvon Hans-Thies Lehmann | Seite 12 |
Im Westen nichts NeuesEin Symposium in Berlin feiert zwanzig Jahre „Postdramatisches Theater“ – und unterschlägt dabei den kritischen Diskursvon Martin Müller | Seite 16 |
Missglückter TheatersportShe She Pop und Gäste inszenieren am HAU – Hebbel am Ufer Berlin einen „Kanon“ des Postdramatischen – eine Forensik der Performance-Geschichte wurde es leider nichtvon Tom Mustroph | Seite 18 |
Protagonisten | |
Das Kolloquium von ÄschnapurMünchen feiert fünfzig Jahre proT – doch statt eines Symposiums hätte man lieber ein neues Werk von Alexeij Sagerer gesehenvon Sabine Leucht | Seite 20 |
Hier wütet der ChorDie polnische Regisseurin Marta Górnicka gibt mit ihren energetischen, radikalen, teils monströsen Chören dem Aufbegehren eine aufwühlende Formvon Renate Klett | Seite 22 |
Ausland | |
Ideologischer KahlschlagDie Regierung in Flandern kürzt die Projektförderung für Kultur um sechzig Prozent – ein Angriff von rechts gegen alles, was progressiv und divers istvon Charlotte De Somviele und Kristof van Baarle | Seite 26 |
Orbáns RacheEin neues Kulturgesetz der ungarischen Fidesz-Regierung will die Theater gleichschalten und die freie Szene ausblutenvon Anja Nioduschewski | Seite 28 |
Protagonisten | Seite 30 |
Die Zeit der weichen UhrenSven Müller, neuer Intendant am Theater Neubrandenburg und Neustrelitz, führt das Haus gemeinsam mit Schauspielchefin Tatjana Rese mit neuem Selbstbewusstseinvon Gunnar Decker | |
Kolumne | Seite 33 |
Die Abschaffung der ArtenWas kann die Dramatik tun, um sich gegen ihr Verschwinden zu wehren?von Kathrin Röggla | |
Protagonisten | Seite 34 |
Die Musik wächst aus dem Text herausDer Pianist und Komponist Michael Wilhelmi über Musik im Theater und seine Zusammenarbeit mit David Marton und Claudia Meyer im Gespräch mit David Roesnervon David Roesner und Michael Wilhelmi | |
Ausland | Seite 36 |
Mit der Formel 1 ins InternationaleDas M.A.P.-Theaterfestival in Aserbaidschans Hauptstadt Baku ist ein Beispiel für das erfolgreiche kulturelle Tuning des Landesvon Thomas Irmer | |
Look Out | |
Der FormenfinderDer Berliner Regisseur Anton Kurt Krause liebt das Spiel mit Medien und Räumenvon Natalie Fingerhut | Seite 40 |
Wie gemacht für den AusnahmezustandDie Frankfurter Schauspielerin Katharina Bach versprüht die Portion Wahnsinn, die es für die Bühne brauchtvon Shirin Sojitrawalla | Seite 41 |
Auftritt | |
Baden-Baden: Mord in der CasinostadtTheater Baden-Baden: „Der Fall Hau. Eine Kriminalgeschichte aus Baden-Baden“ (UA) nach einem Roman von Bernd Schroeder. Regie Rudi Gaul, Ausstattung Olga Mottavon Elisabeth Maier | Seite 45 |
Berlin: Auch Deutsche machen FehlerBerliner Regierungsviertel: „Sucht nach uns!“ vom Zentrum für Politische Schönheitvon Ralf Mohn | Seite 45 |
Braunschweig: In die Enge getriebenStaatstheater Braunschweig: „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow. Regie Dagmar Schlingmann, Ausstattung Sabine Madervon Gunnar Decker | Seite 46 |
Freiburg: Der Wahn des SubjektivenTheater Freiburg: „Der Sandmann“ von E. T. A. Hoffmann. Regie Stef Lernous, Bühne Sven van Kuijk, Kostüme Pia Saleckervon Bodo Blitz | Seite 47 |
Graz: Klappmaul-NationalismusSchauspiel Graz: „The Hills are Alive“ von Neville Tranter. Regie Nikolaus Habjan und Neville Tranter, Puppenbau Neville Tranter, Ausstattung Denise Heschlvon Christoph Leibold | Seite 49 |
Ingolstadt: Leider ermüdendStadttheater Ingolstadt: „Big Guns“ (DSE) von Nina Segal. Regie Mareike Mikat, Ausstattung Simone Mantheyvon Sabine Leucht | Seite 50 |
Köln: Im Gefängnis der FamilieSchauspiel Köln: „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O’Neill. Regie Luk Perceval, Bühne Philip Bußmann, Kostüme Katharina Bethvon Sascha Westphal | Seite 51 |
Osnabrück: LiteraturmuseumstheaterTheater Osnabrück: „Kafka“ (UA) nach Texten von Franz Kafka. Regie Dominique Schnizer, Ausstattung Christin Treunertvon Jens Fischer | Seite 52 |
Rudolstadt: Die Verschwörung des FloristenTheater Rudolstadt: „Hilfe, die Mauer fällt!“ (UA) von Karsten Laske und Steffen Mensching. Regie Steffen Mensching, Ausstattung Monika Maria Cleresvon Jakob Hayner | Seite 53 |
Stück | |
Die einzige Gewissheit, die es gibt, ist die, dass es keine Gewissheiten mehr gibtAlexander Eisenach über sein neues Stück „Stunde der Hochstapler“ im Gespräch mit Jakob Haynervon Alexander Eisenach und Jakob Hayner | Seite 54 |
Stunde der Hochstaplervon Alexander Eisenach | Seite 56 |
Magazin | |
Die Eroberung des RaumsDas Maillon in Straßburg bezieht sein neues Theatergebäude – eine europäische Bühne als offenes Hausvon Bodo Blitz | Seite 67 |
Parallelen, die sich tänzerisch berührenDie 29. euro-scene in Leipzig zirkelt ästhetische Möglichkeiten abvon Maximilian Huschke | Seite 68 |
Machiavellistische Autokraten und singende MammutsBeim Europäischen Festival für junge Regie Fast Forward war wenig von der neuen Aufsässigkeit der Jugend zu spürenvon Michael Bartsch | Seite 70 |
Geschichten vom Herrn H.: Die Machtfrage hinter der Bühnevon Jakob Hayner | Seite 71 |
Komische FrauenV. Gert: Ich bin eine Hexe. Kaleidoskop meines Lebens. Alexander Verlag; I. Schürmann-Mock: Frauen sind komisch. Kabarettistinnen im Porträtvon Anna Opel | Seite 72 |
Böse FrauenDagny Juel: Flügel in Flammen. Gesammelte Werke. Weidle Verlag, Bonn 2019, 176 S., 20 EUR.von Dorte Lena Eilers | Seite 73 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 74 |
PremierenJanuar 2020 | Seite 76 |
TdZ on Tour | Seite 78 |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Autoren Januar 2020 / Vorschau | |
Essay | Seite 80 |
Was macht das Theater, Afsane Ehsandar?von Dorte Lena Eilers und Afsane Ehsandarzum Online-Extra: Requiem für die Ausgeschlossenen im Exil |
Michael Bartsch
Bodo Blitz
Charlotte De Somviele
Gunnar Decker
Afsane Ehsandar
Dorte Lena Eilers
Alexander Eisenach
Natalie Fingerhut
Jens Fischer
Jakob Hayner
Julian Hetzel
Maximilian Huschke
Thomas Irmer
Renate Klett
Hans-Thies Lehmann
Christoph Leibold
Sabine Leucht
Elisabeth Maier
Ralf Mohn
Martin Müller
Tom Mustroph
Anja Nioduschewski
Anna Opel
David Roesner
Kathrin Röggla
Shirin Sojitrawalla
Kristof van Baarle
Sascha Westphal
Michael Wilhelmi
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Was macht das Theater, Afsane Ehsandar?von Dorte Lena Eilers und Afsane Ehsandarzum Online-Extra: Requiem für die Ausgeschlossenen im Exil |
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