Recherchen 75
Müller Brecht Theater
Brecht-Tage 2009
Herausgegeben von Harald Müller
Paperback mit 120 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-940737-71-7, Originalpreis: € 16,00
> Eine künstlerische Auseinandersetzung mit Müller und Brecht - jenseits des universitären Diskurses.
> Mit Beiträgen von Frank Castorf, Dimiter Gotscheff, René Pollesch, Rimini Protokoll, Theodoros Terzopoulos u. a.
Das Verhältnis von Heiner Müller zu Brecht ist als das von Schüler und Lehrer, später als das von Erbnehmer und Erblasser, zuletzt aber auch als eines der zunehmenden Entfremdung, des Unterschieds, beschrieben worden. Wo verläuft die Grenzlinie, die beide Dichter trennt, wo treten Gemeinsamkeiten zutage? Diese Ambivalenz von Übereinstimmung und Differenz war Thema der Brecht-Tage 2009 im Literaturforum im Brecht-Haus Berlin.
Namhafte in- und ausländische Theatermacher, die sich in ihrer künstlerischen Praxis auf ästhetische Theoreme des einen oder des anderen beziehen, haben in Gesprächen und Diskussionen das Terrain sondiert und die sehr lebendige Einbindung der Theorien Brechts und Müllers in die eigene künstlerische Auseinandersetzung beschrieben. Denn: „Brecht (und Müller) gebrauchen, ohne ihn (sie) zu kritisieren, ist Verrat."
Diskussionen mit Frank Castorf, Wolfgang Engler, Dimiter Gotscheff, Adel Karasholi, Wojtek Klemm, Mark Lammert, Armin Petras, René Pollesch, Rimini Protokoll und Theodoros Terzopoulos u. a.
Die Brecht-Tage 2009 waren in der Reihe der jährlich im Literaturforum im Brecht-Haus Berlin stattfindenden Veranstaltung ein Novum: Bislang standen verstärkt theoretische, akademische Vorträge in der Befragung des Werkes im Mittelpunkt, welches unter jeweils aktuellen Gesichtspunkten untersucht wurde, etwa Brecht und die Natur, Brecht und der Sport, Brecht und der Glaube. Dem Brecht, der im Zusammenhang mit einer zeitgenössischen künstlerischen Praxis steht, widmeten sich die Brecht-Tage 2009: Zwischen dem 9. Januar 2009, dem Geburtstag von Heiner Müller, und dem 10. Februar 2009, dem Geburtstag von Bertolt Brecht, sprachen an fünf Abenden international renommierte Theaterleute, die sich im engeren Sinne den Werken und den Arbeitsimpulsen von Brecht und von Müller zugehörig fühlen, über Kunsttransformationsprozesse in ihrem Theater der Gegenwart.
VERFREMDUNG UND JETZT? war das Thema des ersten Abends, zu dem der Regisseur René Pollesch und der aus Syrien stammende Dichter Adel Karasholi, der 1961 in die DDR kam und auf dessen Schreiben das Werk von Brecht einen nachhaltigen Einfluss hatte, eingeladen waren. Beide stellten die Frage, an wen sie sich in ihrer Arbeit richten, und diskutierten über den Adressaten von künstlerischer Produktion und Formen des Erzählens. So sagt Pollesch: „Meine Frage ist tatsächlich immer: Aus welcher Perspektive wird eine Geschichte erzählt? Wer erzählt die Geschichte, in wessen Namen und für wen? Wer maßt sich an, unser aller Geschichte zu erzählen?"
Von der Künstlergruppe Rimini Protokoll waren Helgard Haug und Daniel Wetzel zu Gast, die unter dem Titel VOM RAND INS ZENTRUM mit dem polnischen Regisseur Wojtek Klemm über unterschiedliche Formen sprachen, mit Fragen des Dokumentarischen im Theater umzugehen. Während Rimini Protokoll ihre Arbeit als Spiel mit dem Theater und seinen Möglichkeiten begreifen und mit so genannten „Experten des Alltags" das Verhältnis von Realität und Fiktion neu befragen, beschreibt Wojtek Klemm das polnische Theater in seiner Avantgarde als eines, das Bühnenstücke auf ihren Realitätsbezug hin untersucht und eine Direktheit herstellt, die jenseits von Fragen der Form liegt.
SCHÖNHEIT UND VERZWEIFLUNG war das Motto des dritten Abends, an dem der aus Bulgarien stammende Regisseur Dimiter Gotscheff und der Bildende Künstler Mark Lammert über die Einflüsse von Brecht und die persönliche Begegnung mit Müller sprachen. Beide verbindet eine langjährige Arbeitsbeziehung bei der Inszenierung von Stücken von Heiner Müller, für die Lammert das Bühnenbild, oder, wie er sagt, „Bilder für das Theater" baut. Gotscheff und Lammert arbeiten in der Reduktion, in der Demut vor der Sprache, die sie auch in der Sprache von Heiner Müller finden. Der Dialog mit den Toten darf nicht aufhören, sagte Heiner Müller, und Gotscheff beschreibt seine Zusammenarbeit mit Mark Lammert mit den Worten: „Wir zwingen uns gegenseitig zu reduzieren, damit die Toten reden."
Armin Petras, Regisseur und Intendant am Maxim Gorki Theater Berlin, und Wolfgang Engler, Soziologe und Rektor der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch", sprachen anlässlich der Inszenierungen der KORREKTUR von Heiner Müller und der Fortschreibung des Materials unter dem Titel KORREKTUREN 09 von Thomas Freyer über die Frage KORREKTUR DER KORREKTUR? Fünfzig Jahre liegen zwischen beiden Stücken, in denen sich das Verhältnis des Einzelnen zum Staat und zur Gesellschaft vermittels Arbeit grundlegend gewandelt hat. An die Stelle der „arbeiterlichen Gesellschaft" wie der vergangenen ostdeutschen, die den sozialen Zusammenhang bzw. die Kollektivierung des Einzelnen durch Arbeit hergestellt hat, ist heute der Konsumismus getreten, die Definition des Bürgers als Konsumenten.
Der griechische Regisseur und Theaterleiter Theodoros Terzopoulos kam in den siebziger Jahren ans Berliner Ensemble, um Brecht zu begegnen, und traf Heiner Müller. Eine folgenreiche Begegnung: Sein klassisches, idealisiertes Bild der Antike und des antiken Mythos wurde durch diesen Einfluss einer Korrektur unterzogen, deren wichtigster Begriff der der Angst ist und der zu einer energetischen Betrachtung des Schauspielers führte, dessen Körperlichkeit er in Formen von Ekstase und Ritual wiederentdeckt hat: DIE MÜHEN DES MYTHOS lautet der Titel des Abends, dem sich Frank Castorf von einer anderen Seite genähert hat. An Müllers Texten interessieren ihn der Schmerz und das unglückliche Bewusstsein, mit sich selbst nicht eins zu sein. Das Dionysische, Verrätselte und Unverständliche will man heute jedoch nicht mehr hören, sagt er, dass da etwas in der Vergangenheit war, was auch in der Zukunft sein könnte, ist nicht mehr denkbar: Wir leben in einer Heiligsprechung der Gegenwart.
Kein Schlusswort. Heiner Müller sagt: „Keine Polemik - arbeiten."
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Verfremdung und jetzt?von Harald Müller, Frank M. Raddatz, René Pollesch und Adel Karasholi | Seite 9 |
Vom Rand ins Zentrumvon Harald Müller, Frank M. Raddatz, Rimini Protokoll und Wojtek Klemm | Seite 33 |
Schönheit und Verzweiflungvon Gunnar Decker, Harald Müller, Dimiter Gotscheff und Mark Lammert | Seite 59 |
Die Korrektur der Korrektur?von Wolfgang Engler, Harald Müller, Holger Teschke und Armin Petras | Seite 77 |
Die Mühen des Mythosvon Frank Castorf, Harald Müller, Frank M. Raddatz und Theodoros Terzopoulos | Seite 95 |
Gesprächsteilnehmer | Seite 113 |
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Vorwort
Verrannt in die Sprache und noch etwas mehr
»Monologe« von Lothar Walsdorf. Bühnen der Stadt Gera
Aufbruch Ost
Gespräch mit Astrid Griesbach (Kleines Theater Frankfurt/Oder
Bibliographie
Beiträge von Harald Müller finden Sie in folgenden Publikationen:
Heft 05/2021
75 Jahre Theater der Zeit
Ein Jubiläumsheft
Heft 04/2021
Elektro-Theater
Der virtuelle Raum
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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