Heft 04/2021
Elektro-Theater
Der virtuelle Raum
Broschur mit 72 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Das Theater begeht dieser Tage ein Jubiläum, auf das es liebend gern verzichtet hätte: Genau ein Jahr ist es her, dass die Häuser in den ersten Covid-Lockdown gingen. Seitdem ist der Dreh- und Angelpunkt der Bühnenkunst – die „leibliche Kopräsenz“ von Spielenden und Zuschauenden, wie es im Branchenjargon so schön heißt – ausgehebelt, wenn man das kurze herbstliche Öffnungsintermezzo mal als statistisch irrelevant vernachlässigt.
Und natürlich ließe sich jetzt prächtig weiterbarmen. Da der Klagechor aber – als Theater-Aficionados kennen wir uns da ja aus – eher kathartische als intervenierende Energien freisetzt und an der realpandemischen Lage rein gar nichts zu ändern vermag, wechseln wir versuchsweise mal das Genre: Science-Fiction statt antiker Tragödie, virtuelle statt analoger Bühne lautet das Motto für unseren Schwerpunkt über das Elektro-Theater der Zukunft. Und siehe da: Durch die VR-Brille betrachtet, blüht und gedeiht das Theater (zumindest an der Benutzeroberfläche) derart farbenprächtig, dass der Schriftsteller und Dramatiker Clemens J. Setz sogar darüber nachdenkt, künftig „eigene VR-Theaterstücke zu verfassen“. Müsste man nicht, fragt er sich in seinem Essay in diesem Heft, „direkt für Virtual Reality schreiben, im vollen Bewusstsein der Eigenheiten und Möglichkeiten dieses Mediums“ – statt einfach nur altgediente Stoffe mehr oder weniger geschickt in VR einzupassen? Ein anderer Punkt, über den Setz als Autor und Theatergänger weitreichende Betrachtungen anstellt, ist die eigene „Körperlosigkeit“ im virtuellen Raum – in der wiederum KI-Forscher bereits das letzte heiße Upgrade-Potenzial für dramatische Old-School-Kategorien wie Empathie und Einfühlung aufscheinen sieht. Im Gespräch mit Sabine Leucht erzählt der Soziologe Jonathan Harth über ein Experiment, bei dem VR-Brillen-Träger virtuell in den Körper ihres Gegenübers schlüpfen, wobei ihre physische Selbstwahrnehmung tatsächlich derart erfolgreich von optischen Effekten ausgetrickst wird, dass sie diesen als ihren eigenen wahrnehmen.
Wie weit dieses Einfühlungspotenzial bei dem Theatermacher und Medienkünstler Arne Vogelgesang reicht, wenn er auf der Plattform VRChat wechselweise in Gestalt eines elaborierten Insekts, eines Erklär-Wolfs oder eines Pestdoktors auftritt, bleibt zwar – wie bei jeder guten Performance – sein eigenes Betriebsgeheimnis. Was wir im Künstlerporträt von Patrick Wildermann aber definitiv über den gebürtigen Ost-Berliner Vogelgesang erfahren, ist, dass er schon sachkundig mit Computergenerationen experimentierte, die noch im VEB Mikroelektronik „Wilhelm Pieck“ vom Band liefen. Vergleichsweise neu hat sich dagegen das Staatstheater Augsburg im Lockdown als virtuelle Bühnen-Avantgarde positioniert, deren bahnbrechende VR-Welten wir im Künstlerinsert vorstellen.
Anderswo wird unterdessen schon wieder live und wahrhaftig geprobt. An den Münchner Kammerspielen inszeniert Nora Abdel-Maksoud gerade die Uraufführung ihres neuen Stückes „Jeeps“, das wir in dieser Ausgabe drucken. Und an der Wiener Burg genießt ein sichtlich begeisterter Mehmet Ateşçi die Proben mit Frank Castorf zu Peter Handkes „Zdeněk Adamec“, weil man dort als Spieler permanent „über die eigenen Grenzen hinausgetrieben“ werde. Vor allem aber sprach Erik Zielke mit Ateşçi – ausgehend von der Outing-Initiative #ActOut, an der der Schauspieler beteiligt ist – darüber, wer wen wie eigentlich spielen darf und vor allem künftig spielen dürfen sollte. Ein weites Feld, mit dem sich – wiederum aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich der des häufig formulierten Vorwurfs der „kulturellen Aneignung“ – auch unser Kolumnist Ralph Hammerthaler auseinandersetzt.
In Kosovo bricht derweil eine neue politische Ära an, vor wenigen Wochen waren Parlamentswahlen. Der Dramatiker Jeton Neziraj analysiert, was der Sieg der links-nationalen Partei Lëvizja Vetëvendosje unter dem bekennenden Theatergänger, Kunst- und Kulturfan Albin Kurti bedeutet, der – wie Neziraj schreibt – nicht nur in der einen Hand ein Buch, sondern in der anderen gleichzeitig auch eine Axt hält.
Hierzulande geht es unterdessen eher um eine „Spektralverschiebung“ nach rechts: Michael Bartsch spricht mit Hasko Weber, dem Intendanten des Deutschen Nationaltheaters Weimar, über die möglicherweise bald erfolgende bundesweite Einstufung der AfD als Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz sowie ihren Einfluss auf die Kultur(politik). Es sei im Vergleich „sehr viel anspruchsvoller, weil vielschichtiger geworden, eine differenzierte Weltsicht im Theater abzubilden“, stellt Weber in diesem Gespräch fest – und gleichzeitig, so ließe sich ergänzen, wahrscheinlich wichtiger denn je. Das Theater wird also dringend gebraucht, im Netz genau wie bald – hoffentlich – wieder im Modus der leiblichen Kopräsenz. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Die VR-Theater-Welten des Staatstheaters Augsburgvon Christian Schläffer | Seite 6 |
Was ist möglich? Alles!Das Staatstheater Augsburg erfindet bahnbrechende VR-Theater-Welten – Ein Hausporträtvon Christoph Leibold | Seite 10 |
Thema | |
Einübung der eigenen AbwesenheitÜber VR-Theater – Ein Essayvon Clemens J. Setz | Seite 13 |
Der Schweiß der anderenDer Soziologe Jonathan Harth über virtuellen Körpertausch, die Tücken von Zoom-Calls sowie Möglichkeiten und Grenzen des VR-Theaters im Gespräch mit Sabine Leuchtvon Sabine Leucht und Jonathan Harth | Seite 17 |
Is this not a game?Kein Theatermacher besitzt so viele alternative Ichs wie der VRChat-Pionier Arne Vogelgesang – Ein multiples Porträtvon Patrick Wildermann | Seite 22 |
Protagonisten | Seite 26 |
Alle sollen alles spielen könnenDer Schauspieler Mehmet Ateşçi über die Initiative #ActOut, stereotype Rollenbilder und das Für und Wider biographischen Theaters im Gespräch mit Erik Zielkevon Erik Zielke und Mehmet Ateşçi | |
Ausland | Seite 30 |
Die Wahl zwischen Buch und AxtIn Kosovo ist mit dem Sieg der links-nationalen Partei Lëvizja Vetëvendosje eine neue Ära angebrochen – Sorgt Theaterliebhaber Albin Kurti nun für ein Ende von Korruption und Cowboy-Politik?von Jeton Neziraj | |
Kolumne | Seite 33 |
Kommt näherWarum die Kritik an „kultureller Aneignung“ in Aberwitz verdampftvon Ralph Hammerthaler | |
Protagonisten | Seite 34 |
Man wird schnell aus dem Raum gekegeltDie AfD – bald ein bundesweiter Verdachtsfall? Ein Gespräch mit Hasko Weber, Generalintendant des Deutschen Nationaltheaters Weimar, über alte und neue Kämpfe gegen die Neue Rechtevon Michael Bartsch und Hasko Weber | |
Look Out | Seite 36 |
24/7-TheaterDer Berliner Puppenspiel-Absolvent Fabian Raith kreiert Augmented-Reality-Spielevon Tom Mustrophzum Online-Extra: Das Theater und sein digitales Double. AR? VR? Mozilla Hubs? Glossar zum Schwerpunkt „Elektro-Theater – Der virtuelle Raum“ | |
Glossar | Seite 36 |
AR? VR? Mozilla Hubs?Unser Glossar zum Schwerpunkt „Elektro-Theater – Der virtuelle Raum“, erstellt von unserem VR-Experten Tom Mustrophvon Tom Mustroph | |
Look Out | Seite 37 |
Durchatmen mit SmartphoneDer Tübinger Dramaturg Ilja Mirsky knüpft digitale Theaternetzwerkevon Elisabeth Maier | |
Auftritt | |
Berlin: Auch du!Volksbühne Berlin: „Anthropos, Tyrann (Ödipus)“ von Alexander Eisenach nach Sophokles. Regie Alexander Eisenach. Konzeptionelle Mitarbeit Frank M. Raddatz (Theater des Anthropozän)von Sascha Westphal | Seite 39 |
Darmstadt: Staatstrojaner im NetztheaterStaatstheater Darmstadt: „Jetzt!“ von Christoph Frick, Lothar Kittstein und Ensemble. Regie Christoph Frick, Räume Thea Hoffmann-Axthelmvon Bodo Blitz | Seite 39 |
Frankfurt/Essen: Liebesspiel mit ServomotorenKünstlerhaus Mousonturm/Pact Zollverein: „Test Run“ von Geumhyung Jeongvon Tom Mustroph | Seite 40 |
Heidelberg: Zerrissenes LandTheater und Orchester Heidelberg: „Die Beleidigten. Belarus(sland)“ (DSE) von Andrej Kurejtschik. Texteinrichtung Jürgen Popig, Video Hanna Greenvon Björn Hayer | Seite 41 |
Köln: Und übermorgen HollywoodSchauspiel Köln: „Edward II. – Die Liebe bin ich“ von Ewald Palmetshofer nach Christopher Marlowe. Regie Pınar Karabulut, Bühne Bettina Pommer, Kostüme Teresa Vergho, Video Leon Landsbergvon Martin Krumbholz | Seite 42 |
Neuwied: Gestohlenes LebenLandesbühne Rheinland-Pfalz: „Sophie Scholl. Die letzten Tage“ von Betty Hensel und Fred Breinersdorfer. Regie Volker Maria Engel, Ausstattung Sandra Van Slootenvon Elisabeth Maier | Seite 43 |
Salzburg: Franz, der SchläferSalzburger Landestheater: „Die Räuber“ von Friedrich Schiller. Regie Sarah Henker, Ausstattung Eva Musilvon Margarete Affenzeller | Seite 44 |
Stück | |
Den Reichen ihr Geld, den Schönen ihren Applaus, den Armen ihre Scheißverhältnisse?Die Dramatikerin Nora Abdel-Maksoud über ihr Stück „Jeeps“, dessen Uraufführung sie selbst an den Münchner Kammerspielen inszeniert, im Gespräch mit Sabine Leuchtvon Sabine Leucht und Nora Abdel-Maksoud | Seite 46 |
Jeepsvon Nora Abdel-Maksoud | Seite 48 |
Magazin | |
Ballade über das Verheimlichen weiblicher AutorschaftDas digitale Brechtfestival 2021 in Augsburg stellt die Frauen in den Vordergrund, die zeitlebens mit Bertolt Brecht gearbeitet habenvon Christoph Leibold | Seite 63 |
Auch hinter Gittern nicht zu brechenDas Festival Re:Writing the Future in Berlin setzt sich für verfolgte Künstlerinnen und Künstler im Exil einvon Lara Wenzel | Seite 64 |
Von unverwechselbarer GestaltZum Tod des ehemaligen Intendanten der Neuen Bühne Senftenberg Heinz Klevenowvon Harald Müller | Seite 65 |
Pionier des freien TheatersIn Gedenken an Scotch (Hansjörg) Maiervon Wolfgang Schneider | Seite 65 |
Theater frisst LebenGuy Krneta: Die Perücke. Roman. Aus dem Berndeutschen von Uwe Dethier. Verlag Der gesunde Menschenversand Luzern. 211 S., 32 CHF.von Martin Krumbholz | Seite 66 |
Stückweise BrechtBrecht und das Fragment. Hg. von Astrid Oesmann und Matthias Rothe, Verbrecher Verlag, Berlin 2020, 240 S., 22 EUR.von Erik Zielke | Seite 66 |
Meldungen | Seite 68 |
Impressum/Vorschau | Seite 71 |
Autorinnen und Autoren April 2021 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 72 |
Was macht das Theater, Heike Faude und Walter Bart?von Michael Bartsch, Walter Bart und Heike Faude |
Nora Abdel-Maksoud
Margarete Affenzeller
Mehmet Ateşçi
Walter Bart
Michael Bartsch
Bodo Blitz
Heike Faude
Ralph Hammerthaler
Jonathan Harth
Björn Hayer
Martin Krumbholz
Christoph Leibold
Sabine Leucht
Elisabeth Maier
Harald Müller
Tom Mustroph
Jeton Neziraj
Christian Schläffer
Wolfgang Schneider
Clemens J. Setz
Hasko Weber
Lara Wenzel
Sascha Westphal
Patrick Wildermann
Erik Zielke
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Look Out | Seite 36 |
24/7-TheaterDer Berliner Puppenspiel-Absolvent Fabian Raith kreiert Augmented-Reality-Spielevon Tom Mustrophzum Online-Extra: Das Theater und sein digitales Double. AR? VR? Mozilla Hubs? Glossar zum Schwerpunkt „Elektro-Theater – Der virtuelle Raum“ |
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