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Die Absicht, eine Mauer zu bauen. Eine Stadt in der Stadt – Thomas Oberender über das DAU-Projekt von Ilya Khrzhanovsky im Gespräch mit Thomas Irmer

von und

Thomas Oberender, Mitte Oktober will der russische Filmregisseur Ilya Khrzhanovsky im Zentrum Berlins eine riesige Stadt in der Stadt errichten, umschlossen von einer Mauer. Seinen Ausgang nahm dieses Projekt als Film. Khrzhanovsky wollte in Charkiw in der Ukraine einen Film über das streng geheime „Institut für Physikalische Probleme der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften“ drehen, das die Sowjetunion von 1938 bis 1968 betrieb und an dem auch der Physiker und Nobelpreisträger Lev Landau beschäftigt war. Der Dreh begann 2009 und uferte immer weiter aus. Schließlich lebten die Darstellerinnen und Darsteller, hauptsächlich Laien, drei Jahre lang in diesem nachgebauten Set. Film und Stadtinstallation kommen in Berlin nun unter dem Titel „DAU Freiheit“ zusammen. Einige sprechen schon im Vorfeld vom größten Filmprojekt der Geschichte, Kritiker monieren vor allem, dass in Berlin die Mauer wiederaufgebaut werden soll. Wie muss man sich DAU vorstellen?
Für das DAU-Projekt in Berlin, das die Berliner Festspiele veranstalten, wird nicht die Mauer aufgebaut, um dahinter die DDR oder die Sowjetunion zu rekonstruieren. Es geht nicht um ein Reenactment, sondern um ein kollektives Ritual, das in der Zerstörung der Mauer mündet. Die Mauer ist dabei ein Symbol – niemand wird dahinter eingesperrt oder seiner Freiheit beraubt, vielmehr betritt man eine andere Welt, die hier jenseits der Mauer für drei, vier Wochen entstehen soll – ein Lebensraum nach anderen Regeln. In ihm soll die Weltpremiere des Filmkomplexes „DAU“ stattfinden, wobei diese Filme – es existieren über 700 Stunden Filmmaterial – nur ein Element innerhalb einer größeren Inszenierung sein sollen. Diese soll in angemieteten Wohnungen stattfinden, im Kronprinzenpalais, in Lokalen oder im großen Saal der Bauakademie und sie kreiert dabei für jeden Besucher eine spezifische Reise durch eine künstliche Realität mitten in der vertrauten Stadt. Diese für jeden Gast individuell kuratierte Besucherroute ist ein zentrales Element eines völlig neuen Veranstaltungsmodells. Das DAU-Areal entwickelt eine Erlebnisdramaturgie, die Erfahrungen vermittelt, die sehr dicht an jene der an den Filmen Beteiligten in Charkiw heranführen. Die Kunst-Projekt DAU, das viel mehr ist als nur eine Filmpremiere, soll anschließend in zwei weiteren Städten stattfinden, wobei die spezifische Form von DAU-Freiheit, so der Berliner Titel, nur hier in dieser Form geplant ist – in Paris, wo es unter dem Titel „Gleichheit“ läuft, gibt es keine Mauer und in London, wo es unter dem Titel „Brüderlichkeit“ gezeigt werden wird, gibt es auch keine Wachtürme.

Also entsteht eine Art Environment, das sich mit den Filmen von Ilya Khrzhanovsky verschränkt?
Es ist das Environment, aber auch der Prozess, das gesamte Prozedere des Besuchs, das eine eigentümliche Verbindungen zu den Filmen erzeugt. Im Grunde erfindet Khrzhanovsky eine völlig neue Form von Format. Für DAU sollen in Berlin zum Beispiel keine Tickets verkauft werden, sondern man muss ein „Visum“ beantragen. Wie bei der Reise in ein anderes Land. Mit der Antragstellung beginnt ein Spiel, bei dem man stets selbst entscheidet, wie weit man geht. Auf Grundlage der Antworten, die man vorab online wie bei jedem richtigen Visa-Antrag in einem Fragebogen abgeben muss, errechnet ein Algorithmus eine „Reiseroute“ durch das DAU-Programm, die auf jeden Gast individuell zugeschnitten sein wird.

Klingt wie ein Google-Algorithmus, der mir ungefragt meine nächsten Flugbuchungen vorschlägt.
Bei DAU gibt es kein Google Analytics. Hier wird jeder und jede selbst entscheiden, was, entsprechend des deutschen Datenschutzgesetzes, mit den eigenen Daten passiert. Am Tag kann es maximal 4000 Besucher geben, maximal 2000 gleichzeitig, die sich jedoch über das ganze Areal verteilen, teils vereinzeln. Es ist keine Massenveranstaltung, der gesamte Charakter ist nicht kommerziell. Es geht vielmehr um persönliche Entscheidungen, die ich in der Begegnung mit dem Werk treffe. Je nach meiner Entscheidung werde ich sehr unterschiedliche Aspekte von DAU sehen. „Das Werk“ ist in diesem Sinne nicht fertig, sondern entsteht vor Ort aus dem Zusammenspiel der Besucherinnen und Besucher, der Filme, Konzerte und manch anderem. Mein Reisebegleiter ist ein Handy ohne Netzanschluss, das sowohl als Navigationsgerät funktioniert wie auch als Speichermedium. Es ist ein kuratiertes Ereignis und zugleich eines, das ich von Schritt zu Schritt selber modifizieren kann.

Für die aufwendigen Arbeiten von Signa wurden meist abgelegene Gelände angemietet und umgebaut. Hier ist es die historische Mitte Berlins rund um das Kronprinzenpalais. Warum dieser doch erhebliche Eingriff in die Stadt?
Zunächst sollte das Projekt in der Interimszeit zwischen Frank Castorf und Chris Dercon an der Volksbühne stattfinden. Als sich das nicht realisieren ließ, sind die Festspiele eingestiegen, um diese Weltpremiere in Berlin zu halten. Wir haben lange und intensiv andere Orte geprüft, und am Schluss habe ich vorgeschlagen, dass wir das Kronprinzenpalais anmieten – der Ort, an dem am 31. August 1990 der deutsche Einigungsvertrag unterschrieben wurde. In einem Areal, wo alles Fake und Reminiszenz ist. Der Wiederaufbau der Mauer wird gerade dort eine starke Form von Realität schaffen. Und für wenige Wochen eine Wunde öffnen, die uns unsere Verletzlichkeit spüren lässt, den Zustand, ich weiß nicht, unserer Beziehungen wie auch den der Gesellschaft. Deutschland ist fast dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung so gespalten wie nie.

DAU ist Teil des Programms „Immersion“ der Berliner Festspiele.
Nein, DAU ist zwar ein zutiefst immersives Projekt, aber nicht Teil unseres gleichnamigen Programms, das seit 2016 läuft. Als DAU auf den Plan trat, hatte ich unsere Projektreihe schon fertig geplant.

Warum ist Immersion – ein Begriff, den man noch vor zehn Jahren in keinem Kunstlexikon nachschlagen konnte – gerade jetzt ein Phänomen?
Ich denke, wir erleben gerade, wie sich verschiedene Vorgänge in der Wirtschaft, in der Art zu denken und Prozesse zu organisieren, neu oder anders, und das heißt „immersiv“ gestalten, ohne dass wir das bislang so genannt haben. Es ist wie mit dem Wort „Anthropozän“ – für das, was es bezeichnet, sind die Menschen schon seit 150 Jahren verantwortlich, aber erst gravierende Klimaveränderungen oder das Artensterben führen dazu, dass Veranstalter wie das Haus der Kulturen der Welt in Berlin den Begriff, der sonst nur einer Fachwelt vertraut war, aufgreifen und popularisieren. Immersion ist das, was Leute um die Dreißig machen – im Silicon Valley, in Charkiw oder in der virtuellen Realität – und was die Leute um die Siebzig nicht mehr verstehen, wenn Sie sagen, das hätte es alles schon gegeben.

Was verstehen Sie unter diesem Begriff?
Immersion ist im Englischen ein Alltagswort für alles, was eindringlich ist. In den Medienwissenschaften bezeichnete er in den neunziger Jahren neue Erfahrungssituationen, die durch die digitalen Technologien entstanden, also vor allem interaktive, kybernetische Systeme. Parallel zum Entstehen der Digitalkultur in den Sechzigern in den USA, als die Heimrechner entstanden und das Internet, anfingen Künstler an, sich mit Realitäten zu beschäftigen, die damals begannen, uns zu umgeben, zu absorbieren, wie ein Trip, wie eine Performance von Kaprow.
Aktuell gibt es immer mehr Künstler, die das „Portal“ als Schwelle zum Gegenüber zum Verschwinden bringen – in der bildenden Kunst wie in der Theaterwelt oder der Musik. Das erforschen wir. Wir haben im ersten Jahr angefangen, eine zeitbasierte Kunst wie Theater zu verräumlichen, in Form der großen Arbeiten von Mona el Gammal und Vinge/Müller, und dann raumbasierte Ereignisse wie Ausstellungen zu verzeitlichen, etwa bei Philippe Parreno. Wir sind in diesem Sinne die Teststation, aber auch der Reflexionsraum für die Veränderung von Werkformen und andere Produktions- und Erlebnisformen in den zeitgenössischen Künsten.

Andererseits wird das Phänomen historisiert. Sie haben zusammen mit Tino Sehgal dazu eine Ausstellung im Gropiusbau kuratiert, in der Hamburger Kunsthalle gab es „Bouncing in the Corner“ über bildnerische Raumkunst und in Köln wurde James Rosenquists „The Swimmer in the Econo-mist“ ausdrücklich als immersives Bild ausgestellt. Man könnte die Panoramen von Yadegar Asisi dazunehmen, und das Phänomen fächert immer weiter aus. Zwei Ansätze existieren: der raumbasierte, bei dem es tatsächlich um einen irgendwie zu betretenden und zu erlebenden Raum geht, und der wahrnehmungsbasierte Ansatz mit dem Vorrang von visuellen und akustischen Eindrücken.
Ich denke diese beiden Aspekte zusammen. Immersive Kunst ist raumschaffend. Es geht um worldbuilding. Denken Sie an DAU – da wird nichts mehr „aufgeführt“, die originalen Filme sind ohne Schauspieler gedreht worden. Laien und Experten haben eine Fiktion gelebt, die über die Wochen und Monate und Jahre ihre Wirklichkeit wurde. Sie haben diese Welt gebaut, in der ihnen nichts gegenüberstand, außer vielleicht alle paar Tage mal diese monströse Filmkamera von Jürgen Jürges. Kein Big Brother, kein Fake, kein Disneyland – was ja übrigens auch super interessant ist, als Beispiel für eine gescriptete Welt.

Was kennzeichnet diese Art Welt, die auf einem verborgenen Script beruht?
Für mich bedeutet Immersion vor allem das Ende des Dualismus, in dem das Zuschauersubjekt auf ein Anschauungsobjekt blickt. Stattdessen formt sich das Werk durch meine Begegnung mit dem Werk. Es steht nicht fest – so wie die Welt ja auch nicht fest steht. Das Werk ist nicht „da draußen“. So wie ich mein Auto zum Taxi mache, wenn ich bei Uber bin, oder mein Gästezimmer durch Airbnb zum Hotel wird – das Hotel ist nicht mehr woanders. Das meine ich mit worlbuilding. Es gibt keine Immersion ohne dieses intrikate Konzept von Raum. In einem 360-Grad-Szenario gibt es keine Zentralperspektive. Es umgibt mich, und jede Bewegung von mir darin ändert meine Wahrnehmung. Dioramen als verräumlichte Bilder oder alte Panoramen wie das Mesdag in Den Haag haben das vorgebildet. Es gibt übrigens auch da stets einen rite de passage, einen abgeschirmten Gang, der den Übergang ermöglicht.

Und bei DAU wird es das Visa sein, mit dem man die Mauer passiert?
So ist es geplant. Ich fülle einen Fragebogen aus, und damit beginnt eine Begegnung, die bilateral ist. Das ist der erste Schritt in einer langen Kette von Entscheidungen, die ich als Besucher treffen kann und die immer tiefer in diese DAU-Welt führen soll. Wobei im Areal ja das sonstige Leben der Anwohner und Geschäfte weitergehen wird, aber es wird dann von einer zweiten, fiktionalen Ebene überzogen. Es entsteht ein Flimmern zwischen Alltag und Ausnahmezustand. Das wiederholt in gewisser Weise die Situation auf dem großen Set in Charkiw, in der unter Langzeitbedingungen für die Darsteller und Mitwirkenden Leben und Fiktion sich überlagerten und daraus Khrzhanovskys Film entstanden ist.

Wird der Regisseur noch in Erscheinung treten?
Er ist die ganze Zeit da.

Aber im Verborgenen.
Tja, wie ein Farbstoff im Wasser. Es gibt kein Foto von Thomas Pynchon. Ilya Khrzhanovsky will kein Autor sein – das ist für uns im Westen ungewöhnlich. Sein Werk soll nicht sein Werk sein. Das ist nicht zu verwechseln mit Bescheidenheit. Aber das Ganze wird eher von Regeln bestimmt als von einem Text. Sein Begriff von „Werk“ ist etwas fast Immaterielles, eher eine soziale Situation als eine Sache. Das gilt für den Film wie für das Kunstprojekt DAU. Ich glaube, ohne die Unterstützung eines Mäzens wie Sergei Adoniev wäre ein solches Langzeitprojekt nicht durchführbar gewesen.

Finanziert er auch die Präsentation in Europa?
Ja, Adoniev hat als erstes die russischen Fördergelder zurückgezahlt, die DAU vor zwölf Jahren vom Staat bekommen hatte. Man kann sagen, in weiser Voraussicht, wenn man sich das Schicksal von Kirill Serebrennikow anschaut, dem ja, stellvertretend für viele andere Künstler und Künstlerinnen, genau diese Fördermittel zum Verhängnis wurden. Die dreißig Jahre Sowjetzeit, wie sie Khrzhanovsky zeigt, entsprechen durchaus nicht dem gegenwärtigen Blick des Kremls auf die Geschichte Russlands, insbesondere was die Stalinzeit betrifft. Ich denke, Khrzhanovsky empfindet sich trotzdem nicht als Dissident. Wie jeder Künstler will er uns aus der Gleichgültigkeit reißen. Das ist sehr „russisch“, sehr aufs Gemüt bezogen. Ilya Khrzhanovsky erscheint mir wie eine dieser Figuren aus Vladimir Sorokins Roman „Eis“, die mit ihrem Eishammer die wenigen noch schlagenden Herzen freischlagen. Aber jeder Vergleich ist falsch. Es geht um etwas Neues.

Bei der hier veröffentlichten Langversion des Gesprächs mit Thomas Oberender aus dem Oktoberheft 2018 von Theater der Zeit handelt es sich um eine leicht modifizierte und aktualisierte Fassung. Da erst nach Redaktionsschluss der Oktoberausgabe bekannt wurde, dass die Berliner Behörden das DAU-Projekt in dieser Form nicht genehmigen würden, haben wir Thomas Oberender die Möglichkeit gegeben, das Gespräch in der Onlineversion dementsprechend anzupassen. Ob, wann und wie DAU-Freiheit noch realisiert werden kann, wird weiterhin diskutiert.

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