Heft 12/2019
Lilith Stangenberg: Kunst ist Bekenntnis
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
- Schwerpunkt Theater und Digitalität
Wenn man einen Themenschwerpunkt über die digitale Revolution im Theater macht, muss man zunächst einmal über Ochsenfrösche reden. Mit Jürgen Schmidhuber, einem der führenden Forscher zu künstlicher Intelligenz (KI) und Vater des Deep Learning, also selbstlernender KI. Aus Sicht einer zukünftigen, also sehr schlauen KI, so Schmidhuber, werde der Homo sapiens nur ein evolutionärer Zwischenschritt sein. Konflikte zwischen Mensch und KI entkräftet er: Zum Beispiel seien wir ja auch viel klüger als Ochsenfrösche, quasi unsere evolutionäre Vorstufe; dennoch würden wir nicht versuchen, Ochsenfrösche systematisch auszurotten. Warum also sollte eine KI uns vernichten wollen? Langfristig indes werde der Mensch, ähnlich wie die Ochsenfrösche, die ja keine wichtigen Entscheidungsträger mehr seien, keine große Rolle mehr spielen. So nachzulesen in einem Beitrag in der ZEIT – und schwups, springt beim Menschen die Fantasie an, produziert Zukunftsszenarien, wahlweise dystopisch oder utopisch.
Momentan müssen KIs aber noch sehr viel lernen, angeleitet von den Menschen. Unser Dezember-Schwerpunkt Theater und Digitalität zeigt anhand zweier Beiträge, was KI heute so kann. Zum einen hat das Virtual-Reality-Kollektiv CyberRäuber für unser Cover-Foto eine KI den Manga-Zeichenstil von Katsuhiro Otomo auf ein Bild der Schauspielerin Lilith Stangenberg anwenden lassen, die Gunnar Decker in dieser Ausgabe porträtiert: als eine Künstlerin, die sich nach dem kompromisslosen Ausdruck sehnt und nach dem Ende der Castorf-Volksbühne zwischen Film und Theater ihr künstlerisches Zuhause sucht. Zum anderen haben wir anstelle des für unseren Stückabdruck üblichen Autorengesprächs die Dramatikerin Martina Clavadetscher gebeten, dem neuralen Netzwerk GPT-2 der CyberRäuber Fragen zu ihrem im Heft abgedruckten Stück „Frau Ada denkt Unerhörtes“ zu stellen – das Stück verlängert das Leben der real existierenden Computerpionierin Ada Lovelace in einer wilden KI-Spekulation über deren Tod hinaus. Die CyberRäuber selbst stellt Tom Mustroph in unserem Künstlerinsert vor. Sie sind auf deutschen Bühnen Pioniere eines Theaters der virtuellen Realität. Auf ihren hyperstages verbinden sie digitale Technologien mit konventionellem Theater.
Dass es ein großes Missverständnis sei, Digitalität im Theater als bloßen Einsatz von innovativen Digitaltechniken zu verstehen, darauf verweist Anja Nioduschewski in ihrem Beitrag „Der Code als Kultur“. Denn die Digitalisierung, die sich als radikale Revolution unserer gesamten Lebensweise erweist, zeitige neuartige (zwischen)menschliche, soziale und politische Konflikte, die auf den Bühnen verhandelt werden müssten. In seinem künstlerischen Selbstverständnis müsse das Theater die digitalen Technologien hacken und kreativ umwidmen. Dazu braucht es Expertise. Die von Regisseur und Intendant Kay Voges neu gegründete Akademie für Theater und Digitalität soll sie liefern. Wir sprachen mit ihm über seine digitale Agenda, die Akademie und das Theater als Ort der Medienmündigkeit. Für den Theaterwissenschaftler Ulf Otto entscheidet sich das Schicksal des Theaters im Digitalen keineswegs in der virtuellen Realität oder mittels Robotik, sondern vielmehr mit der Frage nach der Repräsentation: als Vielfalt von Positionen und Stimmen im und über das Theater. In seinem Essay hält aber auch er fest: „Sinn zu machen (oder zu finden), ohne dass Algorithmen in der einen oder anderen Weise daran beteiligt wären, geht nicht mehr.“ Die Regisseurin Susanne Kennedy macht in ihren Inszenierungen den Modus des Menschen in diesem synthetischen Sein des digitalen Zeitalters erfahrbar. Thomas Oberender zeigt anhand ihrer Arbeiten wie sich unser Verständnis vom Körper, von Wirklichkeit oder Narration völlig verändert und hybrider darstellt.
Ganz ohne Digitales eröffnet Andreas Beck seine erste Spielzeit als Intendant des Münchner Residenztheaters, doch auch hier lautet das Motto „Was ist der Mensch?“. Christoph Leibold hat sich die ersten Produktionen angesehen, unter anderem die Uraufführung von Ewald Palmetshofers „Die Verlorenen“ – fast eine Antwort auf diese Frage. Am Schauspiel Hannover wiederum startete Sonja Anders als neue Intendantin. Hier erfüllt sich Ulf Ottos Anspruch an Vielfalt im Theater. Dorte Lena Eilers war bei diesem Neustart dabei und stellte fest, dass die Institutionskritik der vergangenen Jahre hier programmatisch umgesetzt wurde: vom Critical-Whiteness-Workshop bis zur 360-Grad-Stelle für mehr Diversität. Alles richtig gemacht?! Hat Peter Handke zweifelsohne nicht. Dennoch muss Josef Bierbichler in seiner Kolumne das schriftstellernde Subjekt, gegen das das Feuilleton anlässlich des Nobelpreises zum Angriff blies, verteidigen. Richtig will und soll die Kunst nämlich nichtsmachen. Genau das würdigt Thomas Irmer an der Arbeit des Teatr Polski in Poznań, das entgegen der von der PiS-Regierung erwünschten nationalen Kunst mehr politische Komplexität auf die Bühne bringt. //
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Künstlerinsert | |
Arbeitenvon CyberRäuber | Seite 4 |
Hacken für das TheaterDie CyberRäuber kreieren Hyperbühnen, in denen sich virtuelle und erweiterte Realität sowie künstliche Intelligenz mit konventionellem Theater verbindenvon Tom Mustroph | Seite 8 |
Thema | |
Der Code als KulturTheater und Digitalitätvon Anja Nioduschewski | Seite 11 |
Theater als Schule der MedienmündigkeitKay Voges, Intendant des Schauspiels Dortmund und Gründungsdirektor der Akademie für Theater und Digitalität, über die digitale Moderne auf der Bühne im Gesprächvon Anja Nioduschewski und Kay Voges | Seite 14 |
Und Paro lächeltVon digitalen Figuren, bürgerlichen Ängsten und der Multiplizität des Theaters jenseits des Produktdesignsvon Ulf Otto | Seite 18 |
Im Glitch den Vorhang öffnenDie Regisseurin Susanne Kennedy macht das Betriebssystem unseres digitalen Zeitalters erfahrbarvon Thomas Oberender | Seite 22 |
Protagonisten | Seite 26 |
Die mit dem Wolf spieltFür die Schauspielerin Lilith Stangenberg ist Kunst auch Bekenntnisvon Gunnar Decker | |
Kolumne | Seite 29 |
SprengstoffpreisPeter Handke und der Feuilletonistenkriegvon Josef Bierbichler | |
Protagonisten | |
Das menschliche Tier, rabenschwarzAndreas Beck untersucht in seiner ersten Spielzeit als Intendant des Residenztheaters München die conditio humanavon Christoph Leibold | Seite 30 |
Es regnet heftig oder gar nichtSonja Anders unterzieht in ihrer ersten Spielzeit als neue Intendantin des Schauspiels Hannover das Haus einer grundlegenden Institutionskritik – Was macht das mit der Kunst?von Dorte Lena Eilers | Seite 34 |
Ausland | Seite 38 |
Hamlets SchlachthausWie das Teatr Polski in Poznań dem PiS-regierten Polen politisch wie ästhetisch hochspannendes Theater entgegensetztvon Thomas Irmer | |
Look Out | |
Die EinzigartigeDie Schauspielerin Amina Merai riskierte den Sprung von Berlin nach Stuttgart – und findet das immer noch richtigvon Otto Paul Burkhardt | Seite 40 |
Spielendes DenkenDie Cottbusser Schauspielerin Sophie Bock will die Wirklichkeit begreifen – und auf ihre Widersprüche reagieren Sophie Bock. Foto Rahel Metznervon Jakob Hayner | Seite 41 |
Auftritt | |
Bregenz: Demokratie und DemagogieVorarlberger Landestheater Bregenz: „COLD SONGS: ROM“ „Coriolanus“ von William Shakespeare; „Der ideale Staat in mir“ (UA) von Bettina Erasmy; „Julius Caesar“ von William Shakespearevon Bodo Blitz | Seite 43 |
Bamberg: Völkischer PantoffelheldETA Hoffmann Theater Bamberg: „Der Reichskanzler von Atlantis“ (UA) von Björn SC Deigner. Regie Brit Bartkowiak, Ausstattung Nikolaus Frinkevon Sabine Leucht | Seite 43 |
Berlin: Deutsches NervensägenmassakerVolksbühne: „Germania“ (UA) von Claudia Bauer nach Heiner Müller. Regie Claudia Bauer, Bühne Andreas Auerbach, Kostüme Patricia Talackovon Jakob Hayner | Seite 44 |
Bruchsal: Wer Blut säuft, muss bezahlenBadische Landesbühne Bruchsal: „Der Illegale“ (UA) von Günther Weisenborn und Konstantin Wecker. Regie Carsten Ramm, Bühne Tilo Schwarz, Kostüme Kerstin Oelkervon Elisabeth Maier | Seite 46 |
Greifswald: Kopfsprung in die blinde PraxisTheater Vorpommern: „Hamlet“ von William Shakespeare. Regie Reinhard Göber, Bühne Johann Jörg, Kostüme Kerstin Laube; „Die Hamletmaschine“ von Heiner Müller. Regie A. Kruschke, Ausstattung I. Nauckvon Gunnar Decker | Seite 47 |
Heilbronn: Die Toten sind unruhigTheater Heilbronn: „Germania 3. Gespenster am Toten Mann“ von Heiner Müller in einer Fassung von Axel Vornam und Mirjam Meuser. Regie Axel Vornam, Ausstattung Tom Muschvon Björn Hayer | Seite 48 |
Hof: Anklingender BocksgesangTheater Hof: „Besucher“ von Botho Strauß. Regie Reinhardt Friese, Ausstattung Annette Mahlendorfvon Michael Bartsch | Seite 50 |
Karlsruhe: Girls Just Wanna Have …Badisches Staatstheater Karlsruhe: „Passion – Sehnsucht der Frauen“ (UA) von Ingmar Bergman in einer Fassung von Anna Bergmannvon Elisabeth Maier | Seite 51 |
Kiel: Hinter dem Firnis der westlichen ZivilisationTheater Kiel: „Amsterdam“ von Maya Arad Yasur. Regie Josua Rösing, Ausstattung Michael Lindnervon Jens Fischer | Seite 52 |
Mülheim: Rette sich, wer kannTheater an der Ruhr: „Der Untergang der Titanic” von Hans Magnus Enzensberger. Regie Philipp Preuss, Bühne Ramallah Aubrecht, Kostüme Eva Karobathvon Martin Burkert | Seite 53 |
Stück | |
Bist du ein Geheimnisieren?Das neurale Netzwerk GPT-2 (Model 345M) der CyberRäuber im Gespräch mit Martina Clavadetscher über ihr Stück „Frau Ada denkt Unerhörtes“von Martina Clavadetscher und CyberRäuber | Seite 54 |
Frau Ada denkt Unerhörtesfrei nach der Biografie von Ada Augusta Lovelace und der Alpensage „Sennentuntschi“von Martina Clavadetscher | Seite 56 |
Magazin | |
Im Gesicht sind alle Menschen nacktBeim Münchner Spielart-Festival dominieren persönliche Geschichten aus aller Welt – am Ende begeistern vor allem starke Frauenvon Sabine Leucht | Seite 73 |
Helden der GroßstadtIn Tirana verteidigen Künstler ihr Theater gegen gierige Investoren, in Prishtina klagt ein Theaterstück die Baumafia an – zwei nicht ganz ungefährliche Aktionenvon Tom Mustroph | Seite 74 |
Geschichten vom Herrn H.: Stimmen einer Generationvon Jakob Hayner | Seite 75 |
Was folgt auf die Zerstörung?Das 59. Theaterfestival MESS in Sarajevo findet unter massiven Budgetkürzungen stattvon Senad Halilbasic | Seite 76 |
Schaufenster in den baltischen RaumDie Biennale Theater-Hanse geht in Stralsund in die erste Rundevon Kevin Hanschke | Seite 78 |
Ein großer EnsemblespielerDer Leipziger Schauspieler Dieter Jaßlauk ist gestorbenvon Matthias Caffier | Seite 79 |
Skizzen aus dem blauen ZimmerAngela Winkler: Mein blaues Zimmer. Autobiographische Skizzen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 240 S., 22 EUR.von Holger Teschke | Seite 80 |
Mehr als eine feministische FußnoteShelagh Delaney: A Taste of Honey. Hg. von Tobias Schwartz und André Schwarck, Aviva Verlag Berlin, 400 S., 22 EUR.von Martin Krumbholz | Seite 81 |
Ein Konzertveranstalter klagt anBerthold Seliger: Vom Imperiengeschäft. Konzerte – Festivals – Streaming – Soziales. Wie Großkonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören. Edition Tiamat, Berlin 2019, 344 S., 20 EUR.von Chris Weinhold | Seite 81 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 82 |
PremierenDezember 2019 | Seite 84 |
TdZ on Tour | Seite 86 |
Impressum/Vorschau | Seite 87 |
Autoren Dezember 2019/Vorschau | |
Gespräch | Seite 88 |
Was macht das Theater, Bettina Schültke und Peter Staatsmann?von Peter Staatsmann, Jakob Hayner und Bettina Schültke |
Michael Bartsch
Josef Bierbichler
Bodo Blitz
Martin Burkert
Otto Paul Burkhardt
Matthias Caffier
Martina Clavadetscher
CyberRäuber
Gunnar Decker
Dorte Lena Eilers
Jens Fischer
Senad Halilbasic
Kevin Hanschke
Björn Hayer
Jakob Hayner
Thomas Irmer
Martin Krumbholz
Christoph Leibold
Sabine Leucht
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