Heft 04/2020
Rechte Gewalt
Esra Küçük und Milo Rau im Gespräch
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Die Coronavirus-Pandemie hat das öffentliche Leben in zahlreichen Ländern weltweit zum Stillstand gebracht. Shutdown. Geschlossen sind auch die Theater. Ebenso die Grenzen. Nicht nur für Flüchtlinge. „Dies ist also eine Art Brief an mich selbst. In dem auch steht, dass diese Pandemie auch eine weitere Einübung in geschlossene Räume ist, deren Anzahl seit Jahren stetig zunimmt. Die Festung Europa, die Bubbles im Netz, die eingefrorenen Blicke, das Lagerdenken, der aufgedrängte Kulturkampf, die große Abschottung, von der wir fantasieren in unserem digitalen Mittelalter“, schreibt Kathrin Röggla in ihrer Kolumne. Und ergänzt: „Ob es allerdings ein Virus ist oder der ‚zynische Humanismus‘ (Milo Rau), der uns affiziert und immer engere Ringe um unseren Horizont legt, ob es eine vordergründige oder hintergründige Grippe ist, oder der Rassismus, der in Krisen reflexartig aufbrandet, an dieser Entscheidung sind wir zumindest beteiligt …“
Angesicht einer Welle rechter Gewalttaten in den letzten Monaten sieht sich Deutschland jedenfalls vor eine Entscheidung im Umgang mit rechtsextremistischen Strukturen und Tätern gestellt. Nach den Morden von Hanau, Halle und Kassel scheint rechte Gewaltpolitik eine neue Eskalationsstufe erreicht zu haben. Unser Themenschwerpunkt Rechte Gewalt geht in die Bestandsaufnahme. Der Historiker Massimo Perinelli analysiert für uns die Konjunkturen von Rassismus und rechter Gewalt in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute. Vor diesem Hintergrund haben wir mit der Sozialwissenschaftlerin Esra Küçük und dem Regisseur Milo Rau über die Mittel der Demokratie und der Kunst angesichts der aktuellen Entwicklungen gesprochen. Sowohl Rau als auch Küçük befürchten eine Normalisierung im Umgang mit rechter Politik – auf parlamentarischer Ebene, wie auch bei der Herstellung eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses. Dieser Konsens scheint nur noch schwierig herstellbar zu sein – „zwischen den Generationen, zwischen Linken und Rechten, im Binnenverhältnis der Linken oder innerhalb der Generationen: Lagerbildungen, wohin man auch blickt“, hebt Oliver Bukowski in einem Gespräch mit Gunnar Decker hervor. In seinem aktuellen Stück „Der Sohn“, das wir im Heft abdrucken, geht Bukowski diesen Spaltungen im Mikrokosmos einer Familie in der Lausitz exemplarisch nach.
Fragen von Identitätspolitik, Rassismus und Sexismus führen zurzeit auch zu Spaltungen in den Debatten um künstlerische Ausdrucksweisen, politische Haltungen sowie Teilhabe bisher ignorierter Minderheiten auf und hinter deutschen Bühnen. Mit unserer neuen Reihe „Theater und Moral“ wollen wir den dabei virulenten Konflikten nachgehen. Den Auftakt macht Jakob Hayner mit seinem Essay „Unter dem Shitstorm der Strand“.
Die Coronakrise verdrängt derzeit nicht nur die notwendige Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus aus dem öffentlichen Bewusstsein, sondern zum Beispiel auch die Diskussion um den fragwürdigen und kostenintensiven Neubau von Theaterhäusern. Der Architekt Philipp Oswalt hat eine Petition gegen den Abriss der Städtischen Bühnen Frankfurt initiiert und hält in einem Kommentar fest, dass die damit verbundenen Immobilienspekulationen auch den exorbitanten Ausstattungsanforderungen an heutige Kultureinrichtungen geschuldet sind. In Rostock plant man ebenfalls einen neuen Theaterbau. Die dafür veranschlagten Kosten haben sich mittlerweile von vierzig auf einhundertzehn Millionen Euro fast verdreifacht. Ralph Reichel, der neue Intendant des Volkstheaters Rostock, versucht unterdessen im alten Theaterbau, in dem, wie Gunnar Decker beschreibt, schon die Fensterrahmen bröckeln, aus einem nach den lokalpolitischen Querelen der letzten Jahre angeschlagenen Theater wieder ein attraktives kulturelles Zentrum zu machen. Während Reichel gerade anfängt, geht am Theater Konstanz die Ära Christoph Nix zu Ende. Durchaus kämpferisch, wie Bodo Blitz schreibt und noch einmal auf Nix’ gesellschaftskritische Spielplangestaltung wie auch seinen Afrika-Schwerpunkt mit kontinuierlichen Kooperationen auf Augenhöhe verweist. In Afrika war auch die Costa Compagnie unterwegs, im Rahmen einer weltweiten Recherchereise für ihr zweijähriges Projekt „Fight (for) Independence“, in dem sie Unabhängigkeitsbewegungen untersuchte. Felix Meyer-Christian hat für uns einen Reisebericht von der letzten Recherche in Mosambik geschrieben.
Ein für eurozentristische Perspektiven gänzlich abseitiger geografischer Bezugspunkt, und vielleicht sogar von Corona-Infektionen frei, ist jedenfalls der Gora Parasit, ein Berg auf einer Vulkaninsel zwischen Russland und Japan. Er ist der Namenspatron der litauischen Künstlerin Dr. GoraParasit, die Erik Zielke eingangs in unserem Künstlerinsert als eine Grenzgängerin zwischen Theater und Installation, Oper und Film porträtiert.
Im Maiheft werden wir uns dann in einem großen Schwerpunkt den Folgen des Coronavirus für den Kulturbetrieb widmen. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Arbeiten der Künstlerin Dr. GoraParasitvon Dr. GoraParasit | Seite 4 |
Latex on the BeachDie litauische Künstlerin Dr. GoraParasit ist eine Grenzgängerin zwischen Theater und Installation, Oper und Film – und versieht ihre Werke mit einer subtilen Erotikvon Erik Zielke | Seite 8 |
Thema | |
Migration, Einwanderung und rechter TerrorZu den Konjunkturen rassistischer Mobilmachung gegen die Gesellschaft der Vielenvon Massimo Perinelli | Seite 11 |
Gegen rechte NormalisierungDie Sozialwissenschaftlerin Esra Küçük und der Regisseur Milo Rau über Theater in Zeiten rechter Gewaltpolitik im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Anja Nioduschewskivon Dorte Lena Eilers, Anja Nioduschewski, Milo Rau und Esra Küçükzum Online-Extra: Gegen rechte Normalisierung | Seite 14 |
Theater und Moral | Seite 18 |
Unter dem Shitstorm der StrandEin Versuch über Öffentlichkeit, Moral und Kunstvon Jakob Hayner | |
Protagonisten | Seite 22 |
Bella Ciao!Am Theater Konstanz endet nach 14 Jahren die Ära Christoph Nixvon Bodo Blitz | |
Kolumne | Seite 25 |
Ansteckung und HygieneÜber geschlossene Räume und verengte Horizonte in Zeiten von Coronavon Kathrin Röggla | |
Protagonisten | |
Frankfurter AbrissfreundeReaktionärer Geist und globalisiertes Standortmarketing geben sich beim Abriss der Städtischen Bühnen Frankfurt die Handvon Philipp Oswalt | Seite 26 |
Bauen und flickenDer neue Intendant des Volkstheaters Rostock Ralph Reichel versucht aus einem angeschlagenen Theater wieder ein attraktives kulturelles Zentrum zu machenvon Gunnar Decker | Seite 28 |
Ausland | Seite 32 |
Unabhängigkeitskämpfe – gestern und heuteFür ihr Projekt „Fight (for) Independence“ recherchierte die Costa Compagnie in Mosambik – ein Reiseberichtvon Felix Meyer-Christian | |
Look Out | |
Erfolgreich und etwas größenwahnsinnigDie Netzwerkgründer von Cheers for Fears entwerfen in ihrem Labor neue Formen künstlerischer Zusammenarbeitvon Friederike Felbeck | Seite 34 |
KlischeeverkehrungsspieleDas Kollektiv hannsjana unterläuft kulturelle Stereotype mit radikaler Freundlichkeitvon Theresa Schütz | Seite 35 |
Auftritt | |
Berlin: The Mad ParadeTheater an der Parkaue: „Maria Stuart“ von Friedrich Schiller. Regie und Ausstattung Albrecht Hirchevon Dorte Lena Eilers | Seite 39 |
Bautzen: Medizin gegen rechtsDeutsch-Sorbisches Volkstheater: „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing. Regie Carsten Knödler, Ausstattung Frank Hänigvon Michael Bartsch | Seite 39 |
Cottbus: Der Mensch im JammertalStaatstheater Cottbus: „Antifaust“ (UA) von Jo Fabian. Regie und Bühne Jo Fabian, Kostüme Pascale Arndtzvon Gunnar Decker | Seite 40 |
Döbeln: Mistkäfer flieg!Mittelsächsisches Theater: „Der Frieden“ von Peter Hacks nach Aristophanes. Regie Ralf-Peter Schulze, Bühne Peter Gross, Kostüme Nina Reichmannvon Gunnar Decker | Seite 42 |
Dortmund: Ein deutscher ExorzismusSchauspiel Dortmund: „Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer selbst!“ von Jonathan Meese. Regie und Ausstattung Jonathan Meesevon Sascha Westphal | Seite 43 |
Eisenach: Starke Frauen, eitle GockelLandestheater Eisenach: „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller. Regie Christine Hofer, Ausstattung Dirk Seesemannvon Joachim F. Tornau | Seite 44 |
Naumburg: Der neue AdamTheater Naumburg: „Das Maß der Dinge“ von Neil LaBute. Regie Stefan Neugebauer, Ausstattung Rainer Holzapfelvon Thomas Irmer | Seite 45 |
Schwerin: Der letzte Cowboy der ParteiMecklenburgisches Staatstheater: „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ von Heiner Müller. Regie Milan Peschel, Ausstattung Magdalena Musialvon Jakob Hayner | Seite 46 |
Stuttgart: Heißt das, wir können jetzt weinen?Schauspiel Stuttgart: „Weltwärts“ von Noah Haidle (UA). Regie Burkhard C. Kosminski, Bühne Florian Etti, Kostüme Lydia Kirchleitnervon Otto Paul Burkhardt | Seite 47 |
Wiesbaden: Die eiserne LadyHessisches Staatstheater: „Wassa Schelesnowa“ von Maxim Gorki. Regie Evgeny Titov, Bühne Duri Bischoff, Florian Schaaf, Kostüme Eva Desseckervon Shirin Sojitrawalla | Seite 48 |
Stück | |
Lagerbildung, wohin man auch blicktOliver Bukowski über sein neuestes Stück „Der Sohn“ im Gespräch mit Gunnar Deckervon Gunnar Decker und Oliver Bukowski | Seite 50 |
Der Sohnvon Oliver Bukowski | Seite 52 |
Magazin | |
Wahlkampf im RiesenradStaunen, Schreck und Attraktionen – Unter den neuen Künstlerischen Leitern Tom Kühnel und Jürgen Kuttner wird das Brechtfestival in Augsburg zum Spektakelvon Chris Weinhold | Seite 67 |
Mehrfachbelichtung eines KünstlersBettina Böhlers Dokumentarfilm „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ ist eine ästhetische und durchaus politische Hommagevon Anja Nioduschewski | Seite 68 |
Geschichten vom Herrn H.: Heul leise, Larsvon Jakob Hayner | Seite 69 |
Auf unermüdlicher Suche nach dem Wesen des Menschen und der WeltIn Erinnerung an die Schauspielerin, Regisseurin und Dozentin Gertrud-Elisabeth Zillmervon Gisela Kahl und Anu Saari | Seite 70 |
Volker, ahoiIn Gedenken an den Schauspieler Volker Spenglervon Frank M. Raddatz | Seite 71 |
Die Tyrannei der FormlosigkeitByung-Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart. Ullstein Verlag, Berlin 2019, 128 S., 20 EUR.von Jakob Hayner | Seite 72 |
Köfers KomödiantenlebenHerbert Köfer: 99 und kein bisschen leise. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2020, 176 S., 14,99 EUR.von Holger Teschke | Seite 72 |
Echos aus dem JenseitsSamuel Beckett: Echos Knochen. Hg. von Mark Nixon, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 123 S., 24 EUR.von Holger Teschke | Seite 73 |
Meldungen | Seite 74 |
PremierenApril 2020 | Seite 76 |
Impressum / Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Kornelia Kilga?von Margarete Affenzeller und Kornelia Kilga |
Margarete Affenzeller
Michael Bartsch
Bodo Blitz
Oliver Bukowski
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Dorte Lena Eilers
Friederike Felbeck
Dr. GoraParasit
Jakob Hayner
Thomas Irmer
Gisela Kahl
Kornelia Kilga
Esra Küçük
Felix Meyer-Christian
Anja Nioduschewski
Philipp Oswalt
Massimo Perinelli
Frank M. Raddatz
Milo Rau
Kathrin Röggla
Anu Saari
Theresa Schütz
Shirin Sojitrawalla
Holger Teschke
Joachim F. Tornau
Chris Weinhold
Sascha Westphal
Erik Zielke
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Thema | Seite 14 |
Gegen rechte NormalisierungDie Sozialwissenschaftlerin Esra Küçük und der Regisseur Milo Rau über Theater in Zeiten rechter Gewaltpolitik im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Anja Nioduschewskivon Dorte Lena Eilers, Anja Nioduschewski, Milo Rau und Esra Küçükzum Online-Extra: Gegen rechte Normalisierung |
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