Heft 01/2021
Das Lachen der Medusa
Feminismus Theater Performance u. a. mit Barbara Vinken
Broschur mit 72 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Einmal begegnete Valie Export, Ikone der feministischen Performancekunst, kurz nach ihrer Aktion mit dem Tapp- und Tastkino – einer vor den Bauch geschnallten Box mit Löchern, durch die Passanten ihre nackten Brüste ertasten konnten –, auf der Straße einem Kollegen aus der Szene der Wiener Aktionisten. „Mei, Valie“, habe dieser abfällig gesagt, „was du so alles treibst!“ Dann habe er gelacht und sei weitergegangen. Das war Ende der sechziger Jahre. Seitdem, würde man als Frau jetzt gerne schreiben, ist viel passiert, doch seltsamerweise sprechen wir 2020 immer noch über die gleichen Themen: über Sexismus, stereotype Frauenbilder, strukturelle Ungleichbehandlung.
So ist es also kein Wunder, dass auch auf deutschsprachigen Bühnen nach wie vor – und nach #MeToo umso mehr – das Bild der Frau unermüdlich dekonstruiert und neu zusammengesetzt wird. Besonders „hart“ trifft es dabei die Schauspielerinnen an den Stadttheatern, die sich in den auf den Kanon fixierten Institutionen unablässig in die gleichen Frauenrollen gedrängt sehen: Iphigenie, Gretchen, Medea … – die Liste der leidenden, sich opfernden Frauen ist lang. Doch stimmt diese Lesart überhaupt? In unserem Schwerpunkt zu Feminismus Theater Performance hat sich Christine Wahl eine Reihe aktueller Antikenaufführungen von jungen Regisseurinnen vorgeknöpft, um deren Inszenierungen von Weiblichkeit im Umgang mit antiken Frauencharakteren zu analysieren. Zudem sprechen wir mit der Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken über starke Frauenrollen in der Theaterliteratur und das Missverständnis von Kunst als Selbstermächtigungslehre.
Auch Rebekka Kricheldorf, deren Stück „Der goldene Schwanz“ wir in dieser Ausgabe drucken, hält nichts vom „Kuschelmuschelwohlfühlzeug“ der sogenannten Awareness-Kultur. Viel spannender sei es doch, sagt sie im Gespräch, zu schauen, welche Selbstgewissheiten im eigenen Milieu zu einer gewissen Blindheit führen. Mit einem ähnlich perforierenden Blick auf die eigene Bewegung trat 1976 die anarchofeministische Zeitschrift Die Schwarze Botin an, deren Forderungen, wie Dorte Lena Eilers zeigt, bestens für eine aktuelle Sichtung der jüngsten Premieren der freien Szene taugen, welche mit ihren Verhandlungen identitätspolitischer Diskurse ebenfalls gerne unter Kuschelverdacht steht. Doch siehe da: Dem ist nicht so. Zumindest die ausgewählten Performances von She She Pop bis Vanessa Stern zeigen ein wohltuend struppiges, feministisch-anarchisches Potenzial.
Um die öffentliche Darstellung von Geschlecht in seiner vermeintlich skandalösen Variante dreht sich auch die fünfte Folge in unsere Reihe zu Theater und Moral. Die Geschlechterforscherin Patsy l’Amour laLove hat sich der Geschichte des It-Girls Anna Nicole Smith angenommen, die als „Busenwunder“ medialen Ruhm erlangte – daran aber vor aller Kamera-Augen zerbrach. Ein typisches Opfer der Schönheits- und Entertainmentindustrie? Nein, sagt Patsy l’Amour laLove. Anna Nicole Smith sei eine Ikone gewesen, gerade auch für die Welt der Tuntigkeit und Travestie, die mit ihren Inszenierungen die Geschlechter seit jeher in Bewegung versetze, ohne das Subjekt mit seinen Wünschen und Tragödien zu negieren.
Die Tragödie der Corona-Pandemie – auch damit geht es in diesem Heft weiter. Elisabeth Maier hat in einer groß angelegten Recherche die Lage der 24 Landesbühnen erkundet, die als reisende Theater in der Fläche besonders vom Lockdown betroffen sind, mit fantasievollen Aktionen jedoch unermüdlich um Sichtbarkeit ringen. „Theater kann das“, lautet der Slogan des Landestheaters Memmingen. Und: Theater kann sogar auch Kino. Diesen Eindruck gewann man als Zuschauer der in diesem Lockdown neu entstandenen Hybridformate für die Live-Übertragung ins Internet. Fritz Göttler, langjähriger Filmautor der Süddeutschen Zeitung, hat sich den „Zauberberg“ von Thomas Mann in der Regie von Sebastian Hartmann angeschaut und ihn mit der 3Sat-Aufzeichnung von „Der Mensch erscheint im Holozän“ in der Regie von Alexander Giesche verglichen. Die wunderbare Erkenntnis: Schon lange treiben Film und Theater ein doppeltes Spiel, inspirieren sich gegenseitig und kommen sich nun in einem neuen „Mischmasch“ wieder ganz nah. Wann aber ist die Pandemie endlich zu Ende? Beantworten kann dies auch der bildende Künstler Markus Selg nicht, wenngleich seine neueste Produktion mit Regisseurin Susanne Kennedy ein veritables Orakel besaß. Tom Mustroph sprach mit ihm über seine Cyberästhetik. Seine spektakulären Räume zeigen wir in unserem Künstlerinsert.
Verabschieden müssen wir uns von den großartigen Schauspielern Jutta Lampe und Peter Radtke, an deren Leben und Wirken auf der Bühne Patrick Wildermann und Gerd Hartmann erinnern, dabei einen Satz ausgestaltend, den in diesem Heft Ralph Hammerthaler formuliert: „Ein guter Nachruf“, schreibt er in seiner Kolumne, „ist keine schlechte Kunst.“
Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern trotz der widrigen Umstände einen hoffnungsvollen Start ins neue Jahr. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Bühnenräumevon Markus Selg | Seite 4 |
Wie ein Einstieg in den eigenen KopfDer bildende Künstler Markus Selg über Höhlenmalerei, virtuelle Welten und seine Zusammenarbeit mit Susanne Kennedy im Gespräch mit Tom Mustrophvon Tom Mustroph und Markus Selg | Seite 8 |
Thema | |
Meine Hobbys sind Lasagne und Cordon bleuAntike Frauenfiguren sind en vogue bei jungen Regisseurinnen – doch wieso trägt ihr Bühnen-Feminismus so oft Behauptungen vor sich her, statt sie performativ einzulösen?von Christine Wahl | Seite 11 |
Das Lachen der MedusaDie Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken im Gespräch über starke Frauenfiguren und besseren Sexvon Dorte Lena Eilers, Christine Wahl und Barbara Vinken | Seite 14 |
Auf sie mit GebrüllDie freie Szene ist „schlechter“ als ihr Ruf. Etwas Besseres kann ihr derzeit kaum passieren: Über das anarchofeministische Potenzial in den performativen Künstenvon Dorte Lena Eilers | Seite 18 |
Kolumne | Seite 21 |
Leben lassenVerpatztes Timing von Nachrufenvon Ralph Hammerthaler | |
Theater und Moral #5 | Seite 23 |
Schlicht Anna NicoleWarum das It-Girl Anna Nicole Smith nicht nur Antworten auf eine bigotte Schönheitsmoral gibt, sondern auch das homowie transsexuelle Subjekt vor der Verflüssigung schütztvon Patsy l’Amour laLove | |
Theater trifft Kino | Seite 26 |
Das unsichtbare DritteWenn Theater auf Kino trifft: Über die Hybridkunst des Bühnenfilmsvon Fritz Göttler | |
Protagonisten | Seite 29 |
Marktplatztheater bei MinusgradenDie Ungewissheit in der Corona-Pandemie trifft die 24 deutschen Landesbühnen hart – dennoch versuchen sie sichtbar zu bleiben mit fantasievollen Aktionenvon Elisabeth Maier | |
Abschied | |
Wandlerin im BirkenwäldchenDie Schauspielerin Jutta Lampe – eine kurze Erinnerung aus traurigem Anlassvon Patrick Wildermann | Seite 32 |
Ich werde nicht besetzt, weil ich ein netter Kerl binZum Tod von Peter Radtke – Schauspieler und Aktivist avant la lettrevon Gerd Hartmann | Seite 34 |
Look Out | |
Leben, nicht verzweifeln!Die Berliner Schauspielerin Vidina Popov kann über furchtbare Dinge lachen und wirft sich mit Wucht ins Unbekanntevon Paula Perschke | Seite 36 |
Die Wendigkeit eines BoxersDer Osnabrücker Schauspieler Philippe Thelen verwandelt sich mühelos vom Wirbelwind zum Nervenbündelvon Christine Adam | Seite 37 |
Auftritt | |
Aarau/Bregenz: Aventiure und AusbeutungTheater Marie/Vorarlberger Landestheater: „Geld, Parzival“ (UA) von Joël László. Regie Olivier Keller, Bühne Dominik Steinmann, Kostüme Tatjana Kautschvon Bodo Blitz | Seite 39 |
Gütersloh: Life Is a PigstyTheater Gütersloh: „Oinkonomy“ (UA) von Nora Gomringer. Regie und Bühne Christian Schäfer, Kostüme Anna Sun Barthold-Torpaivon Sascha Westphal | Seite 39 |
Halle: Diskurs-KaraokeNeues Theater Halle: „Geht das schon wieder los – White Male Privilege“ von Annelies Verbeke. Regie, Ausstattung und Video Niko Eleftheriadisvon Lara Wenzel | Seite 40 |
Mülheim: Trüffel-Gnocchi an Lars-von-Trier-KlößchenTheater an der Ruhr: „Europa oder die Träume des Dritten Reichs“ von Lars von Trier und Charlotte Beradt als Livestream. Regie Philipp Preuss, Bühne Ramallah Aubrecht, Kostüme Eva Karobathvon Martin Krumbholz | Seite 41 |
Tübingen: ArgumentationssplittergranatenINSTITUT FÜR THEATRALE ZUKUNFTSFORSCHUNG / ZIMMERTHEATER TÜBINGEN: „Wie ein zarter Schillerfalter“ von Peer Mia Ripberger. Regie Peer Mia Ripberger, Ausstattung Raissa Kankelfitzvon Elisabeth Maier | Seite 42 |
Stück | |
Dem Kuschelmuschelwohlfühlzeug glaube ich nichtDie Dramatikerin Rebekka Kricheldorf über ihr Stück „Der goldene Schwanz“ im Gespräch mit Christine Wahlvon Christine Wahl und Rebekka Kricheldorf | Seite 44 |
Der goldene SchwanzEine Aschenputtel-Variante nach den Brüdern Grimmvon Rebekka Kricheldorf | Seite 46 |
Magazin | |
Von Thälmann bis RacketeDie Berliner Schaubude veranstaltet eine gelungene Hybridversion ihres Festivals der Dingevon Tom Mustroph | Seite 63 |
Nasen, Pässe und Klagen tauschenDie Tanz-Biennale in Venedig trotzt Coronavon Renate Klett | Seite 64 |
(Post-)Pandemische ImpulseLernen aus dem Lockdown? Nachdenken über Freies Theater. Hg. für das NRW-Kultursekretariat von Haiko Pfost, Wilma Renfordt und Falk Schreiber, Alexander Verlag, Berlin 2020, 229 S., 14 Euro.von Martin Krumbholz | Seite 66 |
Nebenbeimedium im Wischbetrieb?Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. Heinrich Böll Stiftung, Schriften zu Bildung und Kultur Band 14, Berlin 2020, 128 S., kostenlos.von Tom Mustroph | Seite 66 |
Erinnerungen an die ZukunftGunnar Decker: Zwischen den Zeiten: Die späten Jahre der DDR. Aufbau Verlag, Berlin 2020, 432 S., 28,80 EUR.von Holger Teschke | Seite 67 |
Aktuell | Seite 68 |
Meldungen | |
Impressum/Vorschau | Seite 71 |
Autorinnen und Autoren Januar 2021 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 72 |
Was macht das Theater, Michel Brandt?von Elisabeth Maier und Michel Brandt |
Christine Adam
Bodo Blitz
Michel Brandt
Dorte Lena Eilers
Fritz Göttler
Ralph Hammerthaler
Gerd Hartmann
Renate Klett
Rebekka Kricheldorf
Martin Krumbholz
Patsy l’Amour laLove
Elisabeth Maier
Tom Mustroph
Paula Perschke
Markus Selg
Holger Teschke
Barbara Vinken
Christine Wahl
Lara Wenzel
Sascha Westphal
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