Heft 03/2021
Der Sound der Algorithmen
Schwerpunkt Musiktheater
Broschur mit 72 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Für Potentaten wie Wladimir Putin sind die digitalen Medien Segen und Fluch zugleich. Während unzählige Bots tagtäglich versuchen, regierungsfreundliche Nachrichten in den Kanälen zu platzieren, platzen ebenso regelmäßig die Enthüllungsvideos des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny ins Geschehen. In Russland ist das Videoportal Youtube längst zum politischen Kampfplatz avanciert. Auch Telegram, Instagram oder Facebook tragen zur Dynamik der Ereignisse bei: „Seit den ersten Protesten am 23. Januar“, seit Nawalny in Moskau also wieder in Haft sitzt, „finden die wesentlichen Kämpfe“, schreibt Kristina Matvienko, „in den sozialen Netzwerken statt.“ Die Moskauer Theaterkritikerin und Kuratorin hat eine Vielzahl Theaterschaffender interviewt, die durch die Aufrufe im Internet bestärkt landesweit auf die Straße gehen und hier über ihre Ängste, die Polizeigewalt, ihren Mut und ihre Wut auf ein repressives System berichten.
„Ich höre Daten! Überall Daten! Zahlen, Ziffern, Algorithmen. Meine Sorge ist, wie wir darin noch das Menschliche identifizieren können“, sagt der Komponist Oscar Escudero. Auch unser Schwerpunkt zum zeitgenössischen Musiktheater, der in Zusammenarbeit mit dem Magazin Positionen. Texte zur aktuellen Musik entstanden ist, dreht sich um die Macht der Algorithmen. In einer Zeit, in der Apps wie TikTok und Instagram es jedem ermöglichen, sich öffentlich auf virtuellen Musikbühnen zu inszenieren, steht das aktuelle Musiktheater vor einem Paradigmenwechsel. Doch wohin soll die Entwicklung gehen? Das haben Bastian Zimmermann, Co-Herausgeber der Positionen, und Dorte Lena Eilers den Komponisten Oscar Escudero, die Komponistin Sara Glojnarić, die Musikwissenschaftlerin Marie-Anne Kohl sowie den Susanne-Kennedy-Sounddesigner Richard Janssen gefragt. Während Irene Lehmann die Grenzen des Digitalen aufzeigt, die in Pandemiezeiten selbst eine Szene wie die des experimentellen Musiktheaters in Berlin herausfordern, berichtet der norwegische Komponist Trond Reinholdtsen, der auch den Sound zu Arbeiten von Vegard Vinge und Ida Müller schuf, im Gespräch mit Harry Lehmann und Christine Wahl, wie er das Internet für sich zu nutzen weiß: Sein nächstes Werk in Dresden wird sich aus den Followern seiner Youtube-Filmreihe „Ø“ konstituieren, die in Hellerau ein affirmatives Agitprop-Oratorium aufführen. Der Titel wird lauten: „Zu den Waffen! Zu den Waffen!“
Auch Donald Trump wusste tragischerweise mit der Janusköpfigkeit des Internets prächtig zu spielen. Doch selbst die Sperrung seines Twitter-Accounts konnte nicht verhindern, dass das zweite Impeachment-Verfahren gegen ihn vor Kurzem scheiterte. Die politische Bühne ist Trump noch lange nicht los – und gerade deshalb ist es, wie Frank Raddatz in seinem von Sophokles und Michel Foucault inspirierten Essay „Trump, Tyrann“ deutlich macht, auch für die Theaterbühne unabdingbar, sich der Figur des Ex-Präsidenten mit schärferen Analysemitteln zu nähern, als es die bisherige Oberflächenkostümierung aus Perücke und roter Krawatte geleistet hat.
Ja, wäre die Welt doch berechenbar wie ein Algorithmus! Aber was wäre dann? Ganz einfach: Das allgemeine Gefühl von Unkontrollierbarkeit nähme zu. Paradox? Gewiss. Aber genau darin liegt der Kern der Kunst. In der sechsten Folge unserer Reihe Theater und Moral führt uns der Soziologe Dirk Baecker durch die aufregenden und erhellenden Schleifen der Systemtheorie. Im Zentrum steht eine These des österreichischen Kybernetikers Heinz von Foerster, der erklärte, dass es gerade die Unvorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens, sprich: die Irritation sei, welche das Gefühl der Kontrolle erhöhe. Die Kunst als Irritationsgenerator, so Baecker, mache dabei den Panzer gewahr, der uns vor Eindrücken schütze, die die eigene Vorstellungskraft überforderten.
Diesem Ansatz folgte auch der schwedische Dramatiker und Regisseur Lars Norén, der im Januar an einer Covid-19-Infektion verstarb. Die Schauspielerin Anne Tismer erinnert an die gemeinsame Arbeit mit ihm, an das Ringen um Konkretion und die Kraft, die es erfordert, in die Abgründe zu schauen. In unserem Stückabdruck veröffentlichen wir zudem Lars Noréns „Terminal 3“, ein Stück, das im deutschsprachigen Raum noch seiner Erstaufführung harrt.
Für Licht in dieser dunklen Zeit sorgt derweil Miriam Ferstl, deren Arbeiten wir in unserem Künstlerinsert vorstellen. Die Münchner Künstlerin hat vor einigen Jahren ihre Liebe zu Deckenbeleuchtungen in Sakralbauten und Theatern entdeckt. Von unten fotografiert, wirken die Zentralgestirne dieser Gebäude sonderbar lebendig. Fast wie ein Einzeller. Oder ein Virus.
Gut sei es daher, „wenn du jemanden kennst, der ein Theater hat. Und der dich in diesen Tagen hineinlässt“. Unser Kolumnist Ralph Hammerthaler hat dieses Glück in Oberhausen gefunden, wo er nicht nur in der undurchsichtigen Welt der Hooliganszene recherchierte, sondern auch im Gdańska, einem polnischen Restaurant, ein beeindruckendes Kunstobjekt entdeckte: ein dickes Stück Holz, umwickelt mit einem Tau. Titel des Werks: „Das letzte Rettungsbrett“. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
---|---|
Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Fotografienvon Miriam Ferstl | Seite 4 |
Es werde Licht!Die Münchner Künstlerin Miriam Ferstl fotografiert Kronleuchter in Kirchen und Theatern – und öffnet damit den Blick auf verborgene Verbindungen zwischen Spiritualität, Kunst und Naturwissenschaftvon Sabine Leucht | Seite 8 |
Thema | |
Der Sound der AlgorithmenDer Komponist Óscar Escudero, die Komponistin Sara Glojnarić, die Musikwissenschaftlerin Marie-Anne Kohl sowie der Sounddesigner Richard Janssen im Gespräch über Talentshows, Hubba-Bubba-Opern und denvon Oscar Escudero, Sara Glojnarić, Marie-Anne Kohl und Richard Janssen | Seite 11 |
Neue Intendanz!Der Komponist Trond Reinholdtsen über die Norwegian Opra, die Krise der zeitgenössischen Musik und seine Arbeiten mit Vinge/Müller im Gespräch mit Harry Lehmann und Christine Wahlvon Christine Wahl, Harry Lehmann und Trond Reinholdtsen | Seite 17 |
Klirr, sssssstEin Streifzug durch die Szene des experimentellen Musiktheaters in Berlinvon Irene Lehmann | Seite 21 |
Ausland | Seite 24 |
Im Fleischwolf eurer RepressionIn ganz Russland protestieren Menschen gegen die Verurteilung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny – Hier berichten Theaterschaffende über ihre Angst, ihren Hass und ihren Mutvon Kristina Matvienko | |
Protagonisten | Seite 28 |
Trump, Tyrann!Warum das Theater mit Donald Trump jenseits der Karikatur nicht umzugehen weiß – obwohl seine Gestalt mit Blick auf die antike Dramengeschichte leicht zu entzaubern wärevon Frank M. Raddatz | |
Kolumne | Seite 31 |
Meine polnische FamilieEin Mann trinkt Wodka, ein anderer schaut zuvon Ralph Hammerthaler | |
Theater und Moral #6 | Seite 33 |
Von Foersters Vermutung und die Kunstoder Wie Unvorhersehbarkeit paradoxerweise das Gefühl der Kontrolle erhöhtvon Dirk Baecker | |
neuerscheinungen: theater der zeit-buchverlag | Seite 37 |
Das Drama des Anthropozäns (Exklusiver Vorabdruck)von Frank M. Raddatz | |
Look Out | |
Feminismus ohne schwere TheorieDas Berliner Duo cmd+c durchleuchtet mit den Mitteln der „Transkunst“ Themen wie Machtmissbrauch im Theatervon Paula Perschke | Seite 40 |
Virtuelle KomplizenschaftenDas Bochumer Kollektiv Anna Kpok befragt die Welt mittels digitaler Verfremdungvon Sascha Westphal | Seite 41 |
Auftritt | |
Augsburg: Der unsichtbare DritteStaatstheater Augsburg: „Oleanna – ein Machtspiel“ von David Mamet. Regie Axel Sichrovsky, Ausstattung Jan Steigertvon Christoph Leibold | Seite 43 |
Berlin: Von Provinz zu ProvenceTheaterdiscounter: „Bodentiefe Fenster“ nach dem Roman von Anke Stelling; Ballhaus Ost: „Brigitte Reimann besteigt den Mont Ventoux! – Der Film“ von Marlene Kolatschny und Jan Koslowskivon Erik Zielke | Seite 44 |
Bochum: Bye-bye LifeSchauspielhaus Bochum: „Die Befristeten“ von Elias Canetti. Regie Johan Simons, Kostüme Britta Brodda und Sofia Dorazio Brockhausenvon Martin Krumbholz | Seite 45 |
Greifswald: Wo ist Alice?Theater Vorpommern/Borgtheater: „Customerzombification 1 / Mein fremder Wille“ von Rolf Kasteleiner. Regie Rolf Kasteleiner, Gamedesign Rolf Kasteleiner und Markus Schubert, Visual Content Daniel Müllvon Tom Mustroph | Seite 46 |
München: Seelen-SelfieMünchner Kammerspiele: „Gespenster – Erika, Klaus und der Zauberer“ von Lothar Kittstein; „Flüstern in stehenden Zügen“ von Clemens J. Setzvon Christoph Leibold | Seite 47 |
St. Gallen: Dr. phil. PiratTheater St. Gallen: „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz. Regie Jonas Knecht, Ausstattung Markus Karnervon Brigitte Schmid-Gugler | Seite 49 |
Der schrille DonWuppertaler Bühnen: „Café Populaire” von Nora Abdel-Maksoud. Regie Maja Delinić, Ausstattung Ria Papadopoulouvon Martin Krumbholz | Seite 50 |
Stück | |
Wenn du Angst hast, redest du einfach lauterErinnerungen an eine gemeinsame Arbeit mit dem an Covid-19 verstorbenen Dramatiker und Regisseur Lars Norénvon Anne Tismer | Seite 52 |
Terminal 3Deutsch von Angelika Gundlachvon Lars Norén | Seite 54 |
Magazin | |
Antigone in MolenbeekDie digitalen Lessingtage des Hamburger Thalia Theaters bringen die Stimmenvielfalt europäischer Künstlerinnen und Künstler ins Wohnzimmervon Natalie Fingerhut | Seite 65 |
Der Hörer spielt mitBrecht probt Galilei. 1955/56. Ein Mann, der keine Zeit mehr hat. Hg. von Stephan Suschke, speak low, 3 CDs und Booklet mit 50 S., 151 Min.von Erik Zielke | Seite 66 |
Matt geküsstMasha Qrella: Woanders. Staatsakt 2021, CD, 68:41 Min.von Erik Zielke | Seite 66 |
Kein Künstler ist eine InselFreies Musiktheater in Europa/Independent Music Theatre in Europe. Vier Fallstudien/Four Case Studies. Hg. von ITI Zentrum Deutschland/M. Rebstock, transcript Verlag, Bielefeld 2020, 302 S., 35 EUR.von Dorte Lena Eilers | Seite 67 |
Aktuell | Seite 68 |
Meldungen | |
Impressum/Vorschau | Seite 71 |
Autorinnen und Autoren März 2021 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 72 |
Was macht das Theater, Peter Schneider?von Sabine Leucht und Peter Schneider |
Dirk Baecker
Dorte Lena Eilers
Oscar Escudero
Miriam Ferstl
Natalie Fingerhut
Sara Glojnarić
Ralph Hammerthaler
Richard Janssen
Marie-Anne Kohl
Martin Krumbholz
Harry Lehmann
Irene Lehmann
Christoph Leibold
Sabine Leucht
Kristina Matvienko
Tom Mustroph
Lars Norén
Paula Perschke
Frank M. Raddatz
Trond Reinholdtsen
Brigitte Schmid-Gugler
Peter Schneider
Anne Tismer
Christine Wahl
Sascha Westphal
Erik Zielke
€ 6,99
Zu den Apps
Versandfertig in 1 - 3 Werktagen. Kostenfreier Standardversand innerhalb Deutschlands, zzgl. Versandkosten ins Ausland. Alle Preisangaben inkl. MwSt.
Die elektronische Ausgabe steht direkt nach dem Kauf zur Verfügung. Unsere eMagazine können Sie mit nahezu allen Geräten lesen, da das PDF ein plattformunabhängiges Format ist.
Zeitschrift
Neue Bücher
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
Newsletter abonnieren