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Über die revolutionären Kräfte des Theaters mit Kindern

Kampnagel Hamburg stellt Bühnenstücke mit Kindern für erwachsenes Publikum vor

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Eine kleine, introvertierte Gemeinschaft mit seltsamen Ritualen in einem dystopischen Setting zwischen Bildschirmflimmern und Steinhaufen und ein illustres Team aus schrillen Einzelgänger-Typen inmitten eines kargen Trümmerfelds nach der Implosion des heilsversprechenden Schlaraffenlandes: Im Frühjahr 2016 waren auf Kampnagel unter dem Stichwort „GenerationISM“ u. a. die Produktionen „Eyes wide open“ der Hamburger Choreografin Barbara Schmidt-Rohr und „Exodus“ der Künstlergruppe SKART/Masters of the Universe zu sehen, zwei Arbeiten, in denen Kinder (auch) vor einem erwachsenen Publikum auftraten. Zwei künstlerische Handschriften, zwei unterschiedliche Konzepte, zwei komplett verschiedene Inszenierungen – aber ein seltsam ähnliches inhaltliches Grundsetting: Nach einem jeweils nicht (weiter) thematisierten apokalyptischen Zwischenfall treffen die Zuschauer auf eine Gemeinschaft von jungen Überlebenden, die sich auf unterschiedliche Weise als solche organisieren – in einer verdichteten Situation absoluter Gegenwärtigkeit, zwischen gescheiterter Vergangenheit und den Gefahren der Zukunft.1

„Exodus“ von SKART/Masters of the Universe mit Schülerinnen und Schülern der Neuen Schule Hamburg und der Freien Schule Frankfurt. Foto: Florian Krauß
„Exodus“ von SKART/Masters of the Universe mit Schülerinnen und Schülern der Neuen Schule Hamburg und der Freien Schule Frankfurt. Foto: Florian Krauß

Bühnenstücke mit Kindern, die einem erwachsenen Theaterpublikum gegenüberstehen, haben momentan Konjunktur. Fünf solcher Arbeiten, die international Aufsehen erregten, entstanden bei CAMPO im belgischen Gent.2 Allen CAMPO-Werken dieser Reihe ist gemeinsam, dass sie von international renommierten Künstlern aus dem Performance-Bereich entwickelt wurden, die üblicherweise nicht mit Kindern arbeiten, und dass die Werke explizit für ein erwachsenes Publikum bestimmt sind. Anders als gewöhnlich in der Theaterarbeit mit Kindern geht es hier nicht primär um die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Beteiligten, nicht um den sozialen Faktor, nicht um kulturelle Bildung. Es geht in erster Linie um die künstlerische Qualität der Arbeit – die Kinder auf der Bühne sind performativer Trumpf. Was hat es auf sich mit der kindlichen Präsenz?

Voyeuristischer Blick auf kleine, exotische Gemeinschaft

Die Hamburger Choreografin und Dramaturgin Barbara Schmidt-Rohr arbeitet als Mitbegründerin der Tanzinitiative Hamburg seit vielen Jahren generationenübergreifend mit Laien. „The Bee Treasure“ war das erste Projekt, für das sie 2014 eine Gruppe von Kindern als Performer castete, die ein erwachsenes Publikum in Form eines Blind-Walks über das Kampnagel-Gelände führten. Für Barbara Schmidt-Rohr werden Kinder als Darsteller zwangsläufig zu Projektionsflächen des Publikums. Bei ihrer Arbeit geht es ihr darum, den erwachsenen Blick auf die Kinder von diesen permanent spiegeln zu lassen; das Voyeuristische, das in ihm liegt, wird offenbar und damit durchbrochen. Mit „Eyes Wide Open“ haben Schmidt- Rohr und ihr junges Ensemble ein Bühnenstück entwickelt, das wie schon die erste gemeinsame Arbeit interaktiven Charakter hat: Das Publikum betritt einen düsteren, minimalistisch eingerichteten, weitläufigen Bühnenraum, in dem einige wenige Naturmaterialien angeordnet sind: niedrige Holzhütten, Steinhaufen, Äste, schwach von bläulichem Neonlicht beleuchtet. Das Publikum bewegt sich dort mehr oder weniger frei, wenn nötig wortlos navigiert von elf Kindern zwischen 10 und 12 Jahren, die den Ort offensichtlich behausen. Als kleine, exotische Gemeinschaft öffnen sie ihre Welt den erwachsenen Besuchern, teilen Zeit und Raum mit ihnen und lassen sie beobachten, bleiben aber unmissverständlich unter sich. Sie sprechen eine unverständliche Sprache und haben kryptische Rituale. Irgendwann reichen sie den Zuschauern Tablet-Computer, auf denen ein Film abläuft, collagiert aus Versatzstücken der digitalen Welt, der Assoziationen dazu erlaubt, was mit der uns bekannten Gegenwart geschehen ist.

Im gemeinsamen Arbeitsprozess sind die Rollen klar verteilt; Barbara Schmidt-Rohr arbeitet mit den Kindern genauso wie sonst mit erwachsenen Laien: nicht kollektiv. Die Entscheidungen werden vom künstlerischen Team, also von Erwachsenen getroffen; die jungen Performer bekommen Anweisungen, was ihre Haltung, die Szenenfolge und die Abläufe betrifft. Der inhaltliche Rahmen ist vorgegeben, innerhalb dieses Rahmens werden Ideen mit den Kindern gemeinsam entwickelt, basierend auf Texten und Zeichnungen der Kinder entstehen Kostüme und Figuren. Die digitale Welt, die dem Zuschauer als Film auf dem Tablet-Computer gezeigt wird, speist sich aus dem Know-How der Kinder. Explizit geht es nicht darum, den Kindern schauspielerische Fähigkeiten anzutrainieren, die an die von erwachsenen Profis nie heranreichen würden. Trainiert wird in den Proben vor allem eine Haltung, mit der die Kinder in der interaktiven Situation auch spontan agieren und reagieren können, die ihnen auf der Bühne als Schutz dient und Souveränität gewährleistet. Diese Haltung macht sich die kindliche Körperlichkeit zunutze. Eine teilweise verstörende Unverwandtheit, bestimmend und gleichzeitig sanft, lässt die Kinder wie Exemplare einer fremden Spezies erscheinen: klein, androgyn und nicht greifbar. Ihre Haltung verleiht den Kindern Autorität und Würde, ja geradezu eine Aura, die ihr Gegenüber verunsichert und durch die das Hierarchieverhältnis zu den erwachsenen Zuschauern umgekehrt bzw. aufgelöst wird.

Performancetheater im altersgemischten Kollektiv

Das altersgemischte Ensemble SKART/Masters of the Universe mit Mitgliedern zwischen neun und 33 Jahren arbeitet in leicht veränderter Konstellation seit drei Jahren als Kollektiv zusammen. Mit „Exodus“ zeigt die Gruppe den Abschluss einer Trilogie. Gegründet mit dem Vorsatz „anspruchsvolle Performancekunst für ein generationenübergreifendes Publikum“ zu machen, stehen hier mehrere Ziele im Vordergrund: Performancetheater, das dem professionellen Anspruch erwachsener Zuschauer gerecht wird, das sich aber auch an junges Publikum richtet, sowie ein alternatives Modell (kultureller) Bildung, das sich an dem Prinzip freier Schulen orientiert. Die meisten der beteiligten Kinder besuchen die basisdemokratisch organisierte Neue Schule in Hamburg und sind selbstorganisiertes Arbeiten gewohnt, die Theaterarbeit mit Philipp Karau und Mark Schröppel alias SKART ist Teil des Unterrichts. Die Struktur der Schule erlaubt es, mit den Kindern acht Wochen lang täglich von 10 bis 16 Uhr zu proben – die Performances entstehen also unter professionellen Bedingungen. Über die drei Jahre der kontinuierlichen Zusammenarbeit mit Gastspielen, Publikumsgesprächen und Presseauftritten hat sich eine Teamstruktur mit Aufgabenverteilung ergeben, eine Routine in der Stückentwicklung sowie eine bemerkenswerte eigene Ästhetik. Bei der Zusammenarbeit geht es darum, einerseits den Erfahrungsvorsprung und das Wissen der erwachsenen Künstler zu nutzen, andererseits die Ideen und die performative Kraft der Kinder fruchtbar zu machen; jeder ist auf seine Weise Experte. Die erwachsenen Künstler haben ein Veto-Recht und fungieren als Moderatoren und Leiter des Prozesses, die künstlerische Handschrift von SKART hat den Stil der altersgemischten Gruppe sichtbar geprägt. Dennoch sind alle gleichberechtigter Teil der Gruppe, jede Entscheidung ist für jeden nachvollziehbar, die Wünsche und Einwände jedes Einzelnen werden ernst genommen. Jeder Beteiligte steht vollständig hinter jeder Szene, die auf der Bühne zu sehen ist – das macht sich auch in den Publikumsgesprächen bemerkbar, bei denen selbstverständlich alle mitreden.

„Exodus“ ist ein finsteres Stück. Nachdem es in den vorigen Performances um Glücksversprechen einer materiellen Welt gegangen war und um die Qual des Überflusses, so ist man jetzt am Point of No Return: Die Welt des Zuviel ist implodiert, die letzten Überlebenden bewegen sich in einer Art Vakuum, distanzieren sich vom Publikum und beschäftigen sich mit Gedanken an Tod und Depression. Zu düster und traurig für Kinder zwischen neun und zwölf Jahren, finden einige Erwachsene im Publikum, die oftmals nicht wahrhaben möchten, dass die Texte von den Kindern gemeinsam assoziativ entwickelt wurden. Die typischen Debatten, die die Arbeit des Masters of the Universe-Kollektivs von Zuschauerseite begleiten, handeln von verklärten Bildern, die die Erwachsenen von Kindheit im Kopf haben (möchten), von Unterstellungen und Bevormundungen. Auf der Künstlerseite wird immer wieder an einem Kultur - system gearbeitet, das nicht nach einem hegemonialen Prinzip einen Kanon oktroyiert, sondern das in einem Prozess, der alle Akteure gleichberechtigt beteiligt, immer wieder neu geformt und verhandelt wird – ein Vorgang, der im Kleinen auch Utopie ist für die Entwicklung einer Transkultur für die heterogene Gesellschaft der Zukunft.

Die inhaltliche Setzung beider Produktionen, eine Gruppe von Kindern als Akteure einer zukünftigen Gemeinschaft auftreten zu lassen, scheint symptomatisch zu sein für eine Gegenwart, in der die Erwachsenen sich ratlos vor den gesellschaftlichen Entwicklungen zeigen, orientierungslos vor den Trümmern einer Gemeinschaft, die nur noch Illusion scheint. Es bleibt, der jungen Generation – den Kindern, die in diese Gesellschaft hineinwachsen – das Projekt Menschheit zu überantworten und selbst zurückzutreten. Beide Künstlergruppen arbeiten auch über die inhaltliche Setzung hinaus an der Aufhebung bzw. Umkehrung der Hierarchien zwischen Jung und Alt, sei es formal in der Inszenierung des Aufeinandertreffens von erwachsenem Publikums mit den jungen Performern bei Barbara Schmidt-Rohrs „Eyes wide open“ oder strukturell in der kollektiven Arbeitsweise der Masters of the Universe. Es gibt – so heißt es bei Walter Benjamin – „keinen möglichen Standort für überlegenes Publikum“3. Jeweils auf eigene Weise entsteht hier der Raum für etwas, das man mit Benjamin „das geheime Signal des Kommenden, das aus der kindlichen Geste spricht“4 nennen könnte: revolutionäres Potential.

1 Neben den genannten in Hamburg entstandenen Produktionen gehörte zu dem GenerationISM-Schwerpunkt auch das Gastspiel „Next Day“ des französischen Regisseurs Philippe Quesne/CAMPO, eine Arbeit, die ebenfalls eine Gruppe von Kindern als eine auf sich allein gestellte, sich selbst organisierende Gemeinschaft inszeniert. Als Auszubildende in einer Superhero-Academy kommt ihnen die Aufgabe zu, die Welt vor den Bedrohungen der Zukunft zu retten. Die vierte Arbeit des Themenschwerpunkts war ein Gastspiel des französischen Choreografen Mickaël Phelippeau, „Avec Anastasia“. Alle vier Arbeiten sind (auch) für ein erwachsenes Publikum konzipiert.
2 Die erste Arbeit der Reihe war bereits 2001 Josse De Pauws „üBUNG“. Es folgte Tim Etchells „That Night Follows Day“ (2007), Gob Squads „Before Your Very Eyes“ (2011), Philippe Quesnes „Next Day“ (2014) und Milo Raus „Five Easy Pieces“.
3 Benjamin, Walter: „Programm eines proletarischen Kindertheaters“, in: Ders.: Über Kinder, Jugend und Erziehung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 82
4 ebd., S. 86.

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