Recherchen 20
AufBrüche
Theaterarbeit zwischen Text und Situation
Herausgegeben von Patrick Primavesi und Olaf A. Schmitt
Paperback mit 392 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-934344-39-9
Dieses Buch ist leider vergriffen
Die Beiträge dieses Buches, Hans-Thies Lehmann zum 60. Geburtstag gewidmet, befassen sich mit der Situation der Aufführung im postdramatischen Theater wie auch mit der Tradition und Gegenwart literarischer Texte. Beteiligt sind zahlreiche Theatermacher, Schriftsteller und Wissenschaftler wie Tim Etchells, Erika Fischer-Lichte, Heiner Goebbels, Ulrike Haß, Jean Jourdheuil, Christoph Menke, René Pollesch, Tom Stromberg, Anna Viebrock, Bernhard Waldenfels, Andrej Wirth u.a.
Gegenwärtige Theaterformen entziehen sich mehr denn je der Reduktion auf eine einheitliche Tendenz oder Ästhetik. Das hat auch mit einem sich immer rascher wandelnden Umfeld zu tun: Veränderte Strukturen von Wahrnehmung und Öffentlichkeit, Sparzwänge und eine zunehmende Ohnmacht oder Gleichgültigkeit kulturpolitischer Instanzen haben die im deutschen Sprachraum traditionell noch privilegierte Position des Theaters in Frage gestellt. Andererseits gibt es ein breites Spektrum von Darstellungsformen, das sich auch kaum mehr auf Schlagworte wie Literaturtheater, Regietheater, Bildertheater, musikalisches Theater, Tanz- oder Körpertheater reduzieren lässt. So hat die von den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts ausgehende Öffnung des Theaters gegenüber nicht-literarischen Attraktionen, technischen Medien und neuen Auffassungen von Körperlichkeit die Ästhetik und den Ort des Theaters in der Gesellschaft radikal verändert, in einem bis heute anhaltenden Prozess von Brüchen und Aufbrüchen. Der Versuch, diesen Prozess zu analysieren und produktiv zu machen, stellt Kritik und Wissenschaft ebenso wie die Künstler selbst vor das Problem, neue Beschreibungsformen zu finden - nicht nur Begriffe, sondern auch Redeweisen und Gesten, die in der Konfrontation mit ungewohnten Erfahrungen ein tradiertes Verständnis von Theater immer wieder aufs Spiel zu setzen hätten. In diesem Sinne, zur möglichst genauen und unvoreingenommenen Beschreibung einer komplexen und veränderlichen Theaterlandschaft hat sich der von Hans-Thies Lehmann in seinem gleichnamigen Buch geprägte Begriff »Postdramatisches Theater« bewährt, als Arbeitsformel und nicht etwa als Dogma einer neuen Stilrichtung oder eines isolierten ästhetischen Programms. Dementsprechend vielfältig sind die Beiträge des vorliegenden Bandes, die sich mit aktuellen Theaterformen und ihren Beziehungen zu anderen Künsten und technischen Medien ebenso befassen wie mit der Tradition und Gegenwart literarischer Werke.
Alle hier versammelten Texte und Bildbeiträge beziehen sich mehr oder weniger direkt auf Lehmanns Arbeit, sind inspiriert von seinen Schriften (auch denen zum antiken Theater, zur materialistischen Literaturtheorie, zu Bertolt Brecht und Heiner Müller sowie zum politischen Schreiben) oder von seiner Art, Fragen zu stellen und Interesse zu wecken. So war sein 60. Geburtstag ein willkommener Anlass, gerade die Vielfältigkeit der von ihm ausgehenden Anregungen zu dokumentieren, Berührungspunkte im Denken von Wissenschaftlern und Theatermachern zum Ausdruck zu bringen. Als Fokus hierfür bot sich ein Spannungsfeld an, das bereits die verschiedenen Tendenzen und Entwicklungslinien im Theater des 20. Jahrhunderts geprägt hat, vor allem aber die gegenwärtige Suche nach neuen Theaterformen und ihre Auseinandersetzung mit der Rolle und Funktion des Publikums markiert - die Polarität zwischen Text und Situation. Dabei ist unter »Text« nicht allein das dramatische Werk zu verstehen, sondern ebenso andere Texte, mit denen das Theater arbeitet. Gleichzeitig kommt den dramatischen Texten eine veränderte Bedeutung zu, wenn ein differenzierterer Blick auf das Potenzial der Inszenierung möglich geworden ist. In ähnlicher Weise ist auch »Situation« nicht mehr nur zu verstehen im Sinne der dramatischen Kollision, eines intersubjektiven Konflikts, oder als die psychologische und biografische Situation von Rollenfiguren, in die Schauspieler sich einzufühlen gewohnt sind. Im Gegenteil geht es um die Situation des Theaters als solche, dass Zuschauer und Akteure zusammenkommen, um miteinander etwas zu erleben: die Arbeit an einer ›geteilten‹ Präsenz, bei der sich die Zuschauer ihrer Funktion bewusst werden, deshalb auch nie bloß Zuschauer sind, sondern immer schon Teil des Geschehens. Eine Situation also, die nicht auf die dramatische Handlung beschränkt bleibt, sondern zugleich den äußeren Rahmen, die Funktion des Theaters als eines sozialen und kulturellen Ortes thematisiert.
Die Interpretation und Neugestaltung dramatischer Werke, die Vorführung grandioser Bilder oder schauspielerischer Virtuosität üben weiterhin ihre Faszination aus, aber eben nicht mehr isoliert, sondern verstärkt mit Blick auf den Vorgang, der sich da gerade ›jetzt‹, im Moment der Aufführung abspielt. So geht es im Theater der letzten Jahrzehnte häufiger um die Situation der Aufführung als eine Art anthropologischen Ausnahmezustand, in dem die Normen des alltäglichen Verhaltens ein Stück weit aufgehoben sind. Und längst gibt es eine Vielzahl performativer Aktivitäten im städtischen Raum, die bereits auf die Krisen oder auch das Verschwinden der traditionellen Institutionen reagieren und weder belehren noch bloß konsumiert werden wollen. Diese Theaterformen reflektieren insbesondere Verschiebungen im Verhältnis von öffentlichem und privatem Raum, eine zunehmende Überwachung und Funktionalisierung des alltäglichen Lebens. Aber auch innerhalb der Stadt- und Staatstheater gibt es inzwischen ein Gespür dafür, dass die schon von ihrer Architektur her vor allem das Repräsentationsbedürfnis des Bürgertums des 19. Jahrhunderts manifestierenden räumlichen Strukturen dieser Häuser eher hinderlich sind, wenn es darum geht, das Verhältnis von Öffentlichkeit und Repräsentation selbst zum Thema zu machen. Daraus resultieren Strategien, den Rahmen der Aufführung zu verdoppeln oder aufzubrechen, indem die Position des Publikums auf der Bühne gespiegelt oder das gesamte Gebäude ›bespielt‹ und so die traditionelle Funktionsaufteilung zwischen Bereichen der Produktion und der Rezeption durchkreuzt und bewusst gemacht wird. Damit geht es aber nicht in erster Linie um ein kognitives Wissen, vielmehr um die Störung von Wahrnehmungsgewohnheiten und um Erfahrungen, die nicht auf bloße Informationen zu reduzieren sind.
Dass die Arbeit an der Situation der Theateraufführung und zugleich an einer neuen, eher musikalischen und rhythmischen Sensibilität für Texte immer auch eine Arbeit an veränderten Wahrnehmungsweisen ist, reflektieren aus theoretischer und praktischer, künstlerischer Sicht vor allem die Beiträge des ersten Kapitels »Postdramatisches«. Gattungsübergreifende Untersuchungen insbesondere zu literarischen Werken der Moderne enthält das Kapitel »Lektüren«, wobei Verflechtungen zwischen der dramatischen Literatur, der Tradition des Musiktheaters und der bis auf die Antike zurückgehenden Geschichte mythologischer Gestalten und Stoffe thematisiert werden. Ein eigener Abschnitt ist den Autoren Bertolt Brecht und Heiner Müller gewidmet, deren Texte eine Herausforderung für die Erfindung neuer Theaterformen und die Auseinandersetzung mit theatertheoretischen Fragestellungen bleiben. Den Schwerpunkt des letzten Kapitels »Spielräume« bildet die Arbeit einzelner Theaterkünstler und die Analyse übergreifender Entwicklungen. Die Heterogenität der gegenwärtigen Theaterlandschaft wird aber nicht nur durch die behandelten Themen manifestiert, sondern ebenso durch die jeweiligen Schreibweisen der Beiträge von Wissenschaftlern und Theatermachern verschiedener Generationen. Nicht eine homogene ›Schule‹ oder Richtung zeichnet sich damit ab, eher eine produktive Vielfalt verschiedener Perspektiven und durchaus konträrer Positionen.
Der Dank der Herausgeber gilt vor allem den Autor/innen, die spontan dazu bereit waren, durch ihre Beiträge ihre Verbundenheit mit Hans-Thies Lehmann zum Ausdruck zu bringen, den Fotograf/innen für die freundliche Genehmigung zum Abdruck ihrer Bilder, den Übersetzer/innen einiger fremdsprachiger Beiträge und nicht zuletzt dem Verlag Theater der Zeit, insbesondere Harald Müller und Julia Niehaus, die das Erscheinen dieses Bandes ermöglicht haben.
Frankfurt am Main, im August 2004
Patrick Primavesi und Olaf A. Schmitt
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
I Postdramatisches | |
Lehmann, Nichtverstehenvon Tom Stromberg | Seite 12 |
Die Geburt des postdramatischen Theaters beim Schneeschaufeln im Vogelsbergvon Martin Apelt | Seite 15 |
Mille-neuf-cent-quatre-vingt-septEin Logbuch aus Gießenvon Bettina Milz | Seite 18 |
Praxis und SpielBemerkungen zur Dialektik eines postavantgardistischen Theatersvon Christoph Menke | Seite 27 |
Die Wiederverzauberung der WeltEine Nachbemerkung zum Begriff des postdramatischen Theatersvon Erika Fischer-Lichte | Seite 36 |
Glaubensfragen – postdramatischvon Christel Weiler | Seite 44 |
Theater und Religion – mit dem Überrest arbeitenvon Patrick Primavesi | Seite 53 |
Mimetische Differenz und pathische Impulsevon Bernhard Waldenfels | Seite 62 |
Text, Theater und responsive Leiblichkeitvon Kristin Westphal | Seite 68 |
Die Dramatik des Raumes»Plötzlich brichst du ein auf der Stelle, auf der du stehst.«von Susanne Traub | Seite 75 |
Gegnungvon Wanda Golonka | Seite 78 |
Kunst im Zwischenraumvon Elisabeth Schweeger | Seite 79 |
Freedom, Beauty, Truth & LoveDas revolutionäre Unternehmenvon René Pollesch | Seite 86 |
Refugee Camp for the First World Citizensvon Emil Hrvatin und Peter Šenk | Seite 90 |
3 notebook fragmentsvon Tim Etchells | Seite 94 |
Where is the theatre?von Mike Pearson | Seite 95 |
Automatischesvon Jennifer Elfert | Seite 98 |
Rettung im Theater des TodesZum Status der Videoaufzeichnung in Pierre Legendres - Das Verbrechen des Gefreiten Lortievon Sabine Nessel | Seite 101 |
Kulturrecycling auf KnopfdruckFlussers Utopie der telematischen Gesellschaftvon Harald Hillgärtner | Seite 107 |
II Lektüren | |
»Es waren nichts als Noten«Die beiden Schlüsse von Verdis Don Carlosvon Uwe Schweikert | Seite 114 |
Das Vergehen der Zeit in Wagners Ring des Nibelungenvon Ulrike Kienzle | Seite 122 |
»Il n’y a plus de temps …«.Zum musikalischen Zeitbegriff bei Strawinsky, Adorno und B. A. Zimmermannvon Regine Elzenheimer | Seite 129 |
Die unerklärliche Gewalt im Mythos des SubjektsEin Kommentar zu Wolfgang Rihms »Musiktheater« des Oedipusvon Martin Zenck | Seite 136 |
Ödipus Faustvon Rainer Nägele | Seite 146 |
»Giorno mai non verrà di gioja«oder: Tragische Obsession Von Sophokles zu Ugo Foscolovon Friedrich Wolfzettel | Seite 150 |
Antigone oder Die Erscheinung des Antitheosbei Hölderlin, Wagner und Nietzschevon Wolfgang Storch | Seite 160 |
Sturmwarnungen aus GothlandNotizen zu meteorologischen Phänomenen in Grabbes Herzog Theodor von Gothlandvon Lutz Keßler | Seite 169 |
Ein Grundrissvon Jean Jourdheuil | Seite 174 |
Vom Wünschen und ErzählenEine chassidische Geschichte und ihre Variationen bei Ernst Bloch und Walter Benjaminvon Günther Oesterle | Seite 183 |
Auf dem Weg zur »infra-geringen« Berührungvon Helmut Lethen | Seite 187 |
Scherben der ErinnerungVier Seiten aus Hans-Thies Lehmanns Beiträgen zu einer materialistischen Theorie der Literatur, wiedergelesenvon Ruth Fühner | Seite 189 |
III Brecht / Müller | |
Brechts Gedicht von Kranich und Wolkevon Burkhardt Lindner | Seite 192 |
Das Liedvon Eva Holoch | Seite 200 |
Fatzervon Eva Holoch, Matthias Naumann und Jan Mech | Seite 204 |
Brechtbeatzvon Alexander Karschnia und Nicola Nord | Seite 208 |
Der Prolog oder: Fragen eines lesenden Studentenvon Andrzej Tadeusz Wirth | Seite 215 |
Heiner Müllers »unmögliche« Texte in New York und Lyonvon Carl Weber | Seite 225 |
Jenseits des Todes 1 / Philoktetvon Josef Szeiler und Samuel Zach | Seite 232 |
Vom Sprechen das nicht aus einem Mund kommtChor und Geografie bei Heiner Müllervon Ulrike Haß | Seite 237 |
»… die Wolken still / Sprachlos die Winde«Heiner Müllers Schweigenvon Nikolaus Müller-Schöll | Seite 247 |
Spätmoderne WaldgängerÜber Ernst Jünger und Heiner Müllervon Francesco Fiorentino | Seite 257 |
Totentrompeten von Einar Schleef – Eine Erwiderungvon Heike Oehlschlägel | Seite 267 |
IV Spielräume | |
Bildervon Anna Viebrock | Seite 274 |
Sprünge – Verknüpfungen – RahmenErinnerungs-Stücke von Gesprächen mit Hans-Thies Lehmannvon Christof Nel | Seite 280 |
»Ein Schauspieler ist immer peinlich – deshalb muss er bleiben«Laurent Chétouane über seine Arbeit mit Schauspielernvon Laurent Chétouane | Seite 284 |
Theater … Theorie»Ein unstoffliches Zusammenspiel von Kräften«von Theresia Birkenhauer | Seite 292 |
FamilienbandeAnsichten der Gemeinschaft im Inter-Medium des (Gegenwarts)Theatersvon Günther Heeg | Seite 302 |
Carmelo Bene (1937 – 2002)Skizze für ein Porträtvon Gaetano Biccari | Seite 312 |
Snowvon John Jesurun | Seite 320 |
»Ich wollte doch nur eine Erzählung machen …«Jean-Luc Godard als Komponistvon Heiner Goebbels | Seite 327 |
Die konstruktiven Prinzipien der Montage im zeitgenössischen Theatervon Valentina Valentini | Seite 332 |
»Den gordischen Knoten noch mehr verwirren«.Auszug aus einem Gespräch von Bettina Milz mit Sergio Morabito über seine Opernarbeit mit Jossi Wieler und Anna Viebrockvon Bettina Milz | Seite 339 |
Siegfried im Lichttunnelvon Olaf A. Schmitt | Seite 350 |
Sich selbst im Blick?Irritationen des Publikums im gegenwärtigen Schauspiel- und Musiktheatervon Hans-Peter Bayerdörfer | Seite 358 |
Von der Katastrophe des Sehensvon Gerald Siegmund | Seite 368 |
Marginality, pop-ambient and mainstream-jamming in new forms of theatrevon Knut Ove Arntzen | Seite 371 |
Schneevon Susanne Winnacker | Seite 375 |
As you like itvon Kattrin Deufert, Thomas Plischke und Greta Gantcheva | Seite 378 |
Möglichkeits(t)räume – Ein Dialogvon Christine Peters | |
IV Spielräume | Seite 382 |
Hans-Thies Lehmann als Gastvon Stephan Wackwitz | |
Autorinnen und Autoren |