Castorf, durchdekliniert

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1988 fuhren mein Vater und ich in einem verrosteten Auto der Marke Polski Fiat durch das nächtliche Ostberlin. Wir hielten am Alexanderplatz. Ich war nie zuvor in Berlin gewesen, aber dank Adolf Hitler, Max Otto von Stierlitz, Iggy Pop und David Bowie hatte mich die Stadt schon seit langem tief beeindruckt. Mitternacht war bereits vorüber und die ganze Bevölkerung Berlins schien sich ausschließlich aus Uniformträgern zusammenzusetzen. Der Alexanderplatz wurde gerade sorgfältig gereinigt. Ich wusste damals nicht, dass nur wenige hundert Meter entfernt das große Gebäude der Volksbühne steht. War Frank Castorf damals in Berlin? Oder in Karl-Marx-Stadt? Bin ich im Polski Fiat in Frankfurt an der Oder an ihm vorbeigefahren? Ich war fünfzehn, halb Kind, halb erwachsen, eine slawische Puppe vor dem Ausschlüpfen. Im nächsten Jahr sollte sich die Welt jäh verändern, ich aber hatte keine Ahnung, dass so viele Dinge darauf harrten, benannt zu werden. Im Theater. Und dass Castorf dies tun würde.

„Endstation Amerika“, Foto Marcus Lieberenz
„Endstation Amerika“, Foto Marcus Lieberenz

In jener Nacht war ich im Herzen Ostberlins, selbst angeblich aus dem Osten, aber aus einer Art nahem Osten, einem für Exotik nicht genug östlichen Osten, aus Warschau, nicht aus Moskau, aus dem gleichen Lager, wie behauptet wurde, aber ärmer, (genetisch) oppositioneller, zu Anfällen selbstmörderischer Anarchie neigend. Von Berlin eingeschüchtert, doch zugleich fasziniert, wie das sprichwörtliche Wild auf der Autobahn, das in die Schweinwerfer des sich unerbittlich nähernden Schicksals starrt. Damals brach am nächtlichen Alexanderplatz ein Gewitter los; natürlich, alles, was sauber gefegt worden war, verschlammte monumental. Und ein Blitz fuhr nieder. Ein kleiner, aber immerhin. Soweit meine Erinnerung.

Was mir der Blitz allerdings nicht verriet: dass die Volksbühne das Theater für immer verändern würde, dass ich davon lange Zeit keine Ahnung haben würde, bis ein Freund aus Stettin, dessen Mutter in Berlin als Putzfrau arbeitete, mir von diesem ungeheuerlichen und legendären Brandstifter Castorf und seinen brandschatzenden Exzessen erzählte. Die sah ich dann zunächst nur als Gastspiele in Polen. Den Anfang machten „Die Weber“, ein nuklearer Knockout. Das Gastspiel der Volksbühne im Rahmen der Warschauer Spotkania Teatralne fand im Teatr Polski statt – eine etwas paradoxe Wahl des Aufführungsortes, denn das Teatr Polski war eines der anachronistischsten Theater in Polen. Und hier im Museum landete ein Ufo. Ein wahrer ästhetischer und axiologischer Tornado fegte von der Bühne auf das elitäre Publikum herab, das sich von der ersten Minute an polarisierte. Als Erster verließ Andrzej Wajda seine Loge, später mehrere andere Geistesgrößen der polnischen Kultur. Ich dagegen hatte nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen, also harrte ich aus, harrte aus in Begeisterung. Und dabei ist es geblieben. Die Wirkung lässt seit jenem denkwürdigen Theaterbeben am 27. September 2000 nicht nach. Ich war damals arbeitslos und meine Frau mit Zwillingen schwanger. Ich kämpfte bereits im dritten Jahr um eine Chance debütieren zu dürfen und die Zukunft meiner noch ungeborenen Kinder sah nicht gerade rosig aus. Aber Papa erfuhr gerade eine Erleuchtung. Was auch was wert ist.

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