Castorf, durchdekliniert
von Jan Klata
Im Dezember 2002 kam die Volksbühne nach Breslau, mein lang ersehntes Debüt (Budget der Vorstellung: 150 Euro, einschließlich Honorare) lag gerade erst einige dutzend Stunden hinter mir, und ich hatte die Gelegenheit, „Endstation Amerika“ zu sehen. Die Eindrücke waren wieder verheerend, nicht nur wegen des wie immer phänomenalen Bühnenbildes von – Gott hab ihn selig – Bert Neumann. Alles war erneut anders, neu, originell, unverschämt begeisternd: das Spiel der Schauspieler, der Umgang mit dem Text, der geniale Rhythmus der Aufführung, die Musik als Bedeutungsträger. Um „Endstation Amerika“ in Breslau sehen zu können, riskierte ich, bei der Geburt meiner jüngsten Tochter in Warschau zu fehlen, aber Janina Klata war so lieb, mit der Ankunft in diesem Tränental noch etwas zu warten. Wir lebten damals im Warschauer Stadtteil Praga, dessen postsozialistischfrühturbokapitalistische Raumordnung einem Castorf’schen Bühnenbild nachempfunden zu sein schien. Imitation of life?
Meine deutschen Freunde beklagen sich gelegentlich, dass Castorf viel mache, die Inszenierungen lang seien, einander ähneln … Dann denke ich bei mir: Verdorbene, blasierte Vertreter des dekadenten Westens, geht in euch, fallt nach einem Augenblick reiflicher Überlegung zunächst auf die Knie, dann auf das Gesicht, klatscht Beifall, schlagt euch in der Horizontalen in einem Akt der Sühne gegenseitig ins Gesicht. Denn wahrlich, ich sage euch, ihr habt Glück, in der Ära Frank Castorf leben zu dürfen.
Zum Abschluss eine Bemerkung (nicht nur) linguistischer Natur: in der polnischen Sprache haben wir sieben Fälle. Wir sind exzentrisch genug, dass wir auch die Nachnamen beugen. Die durchdeklinierte Ode an den Titanen lautet: der Castorf, des Castorfs, dem Castorf, den Castorf, mit Castorf, in Castorf, o Castorf!
Aus dem Polnischen von Andreas Volk.