Über die Kunst, Erinnerungen wachzuhalten und ins Heute und Morgen zu transformieren

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Die vorliegende Publikation schließt das Sonderprojekt „Unorte – Theater im öffentlichen – Raum“ ab. Dazu gehörten die Realisierung von 18 bundesweit geförderten Projekten professioneller freier Künstlergruppen und ein anschließendes internationales Symposium. Für diese Theaterprojekte wurde 2013 in der Ausschreibung als Zielsetzung formuliert, „Unorte zu theatralen Wirkungs- und zeitweiligen neuen Lebensräumen zu transformieren und somit zu nachhaltigem Bewusstsein für die ursprüngliche Bedeutung dieser Unorte sowie zu Diskursen für kreative Nutzungskonzepte anzuregen.“ Dafür warb der Fonds Darstellende Künste in Kooperation mit dem Bundesverband Theater im Öffentlichen Raum Sondermittel des Deutschen Bundestages in Höhe von 600 000 Euro ein, welche die Kulturstiftung des Bundes zur Verfügung stellte. Weil es sich um eine Komplementärförderung des Bundes handelte, musste über Kommunen und Länder mindestens ein weiterer Finanzierungsanteil von 25 Prozent akquiriert werden. Das gelang den Künstlergruppen mit zusätzlichen 750 000 Euro überaus beeindruckend, sodass insgesamt ein Budget von 1,35 Millionen Euro zur Verfügung stand.

Nach Beendigung der Inszenierungsphasen aller Projekte Ende 2014 stand für mich als Geschäftsführer des Fonds und Leiter des Sonderprojektes fest, dass von diesen außergewöhnlichen künstlerischen Arbeiten möglichst viele freie Theater- und Tanzschaffende erfahren müssten. Ich dachte an einen internationalen Diskurs für das gesamte Spektrum der darstellenden Künste im öffentlichen Raum, der über Transformationen von Unorten hinausgehen sollte. Dafür sprach auch die Bilanz unter statistischen Gesichtspunkten: Die Künstlergruppen erweiterten ihre Teams auf insgesamt 470 Beteiligte, die mit 150 Aufführungen in 23 deutschen Kommunen sowie in Israel und Bangladesch mehr als 25 000 Zuschauer erreichten.

In Absprache mit den Gremien des Fonds und dem Bundesverband folgte im März 2015 das mehrtägige Symposium in Berlin. Dort kündigte ich am Ende an, eine Publikation herauszugeben, in der die Projekte und das Symposium dokumentiert werden. Nun ist es geschafft, der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit dieser künstlerischen Interventionen und temporären Transformationen in Form des vorliegenden Buches etwas Bleibendes zu geben und damit die leidenschaftliche und fantasiereiche Arbeit dieser Künstlergruppen und aller Beteiligter des internationalen Symposiums nachhaltig zu würdigen. Darüber hinaus konnten renommierte Autoren für Gastbeiträge gewonnen werden, die sich seit Jahren mit der Thematik auseinandersetzen. Diese Texte komplettieren das Buch zu einem wichtigen und nachhaltigen Impulsgeber.

Im ersten Kapitel des Buches beschreiben die Künstlergruppen ihre Projekte hinsichtlich ihrer jeweiligen Schaffens- und Wirkungsästhetiken, ihrer Aneignungs- und Auseinandersetzungsstrategien am Unort und mit kommunalen Verwaltungen. Sie berichten über die Zusammenarbeit mit neu gewonnenen Partnern, partizipative Einbindung des gesellschaftlichen Umfelds und die Resonanz beim Publikum, den Medien und Kulturverwaltungen. Auch erste Selbsteinschätzungen gehören dazu, wie z. B. die Frage, ob ihre ästhetischen Interventionen den gewählten Unort nachhaltig beeinflussen.
Diese kompakten Darstellungen entstanden bereits für das Symposium und wurden dort nach einer Matrix formaler Vorgaben hinsichtlich der Ausschreibungskriterien präsentiert. In dieser Form habe ich sie mit ausgewählten Inszenierungsfotos für das Buch übernommen. Umfangreichere Projektbeschreibungen und Darstellungen, wie filmische Ausschnitte, Fotos und Medienberichte, sind auf den jeweiligen Webseiten der Gruppen eingestellt. Das gilt auch für neue Produktionen, die nach dem Sonderprojekt entstanden.
Den Projektdarstellungen schließen sich eine Einführung zu relevanten Unort-Theorien und detaillierte Aufführungsbeschreibungen sowie Einordnungen in diese Theorien und Fragen sozialer Nachhaltigkeit an. Diese Texte wurden von Matthias Däumer verfasst, den ich für das Sonderprojekt als akademischen Fachberater gewinnen konnte. Er war am gemeinsamen Sichtungsprozess der 165 eingereichten Projektanträge aus allen Bundesländern und den nachfolgenden Kuratoriumssitzungen beteiligt. Des Weiteren hatten Matthias Däumer und ich die Möglichkeit, fast alle Inszenierungen zu sehen. Die wenigen Projekte, die er nicht besuchen konnte, beschreibe ich in diesem Kapitel. Seine wie auch meine Texte sind Ergebnis unseres konstruktiven Gedankenaustauschs. Wir waren von den Experimenten der Künstlergruppen, den Transformationen der von ihnen ausgewählten Unorte und den facettenreichen Einbindungen von Experten des Alltags, Laiendarstellern und Einwohnern vor Ort sehr beeindruckt.

Im Mai 2016 befragte ich die jeweiligen künstlerischen Leiter, wie sie rückblickend die Ausschreibung zum Sonderprojekt einschätzen und ihre Inszenierungen mit den nachhaltigen Folgewirkungen innerhalb der Kunstsparte einordnen. Bei dieser Form der Evaluation interessierte mich auch, was ihre künstlerische Arbeit im öffentlichen Raum grundsätzlich behindert, ob sie die Fortsetzung eines ähnlichen Sonderprojektes befürworten und welche Bedeutung sie künftigen ästhetischen Interventionen im öffentlichen Raum geben. Die Zusammenfassung der Reflexionen schließt das erste Kapitel ab.

Im zweiten Kapitel sind die lebendigen Diskussionen und themenorientierten Impulsreferate des internationalen Symposiums zum breiten Spektrum ästhetischer, konzeptioneller und kulturpolitischer Fragen zu den darstellenden Künsten im öffentlichen Raum sowie zu Diskursen zum öffentlichen Raum im Allgemeinen zusammengefasst. In den vier Podiumsrunden und zwölf einleitenden Impulsreferaten analysierten und diskutierten 45 interdisziplinär agierende Fachleute aus Theorie und Praxis Fragen der gesellschaftlichen Relevanz des öffentlichen Raumes und die Wirkmächtigkeit der in ihm intervenierenden Künstler.1 Sie erörterten neue ästhetische Handlungsfelder und kulturpolitische Rahmensetzungen sowie Strategien für die Stärkung dieser Kunstsparte. Zwei Fazit-Beiträge bilanzieren die unmittelbaren Eindrücke von den Debatten und schließen dieses Kapitel ab.

Die offenen Diskussionsrunden der insgesamt 250 anwesenden Künstler, Wissenschaftler, Kuratoren, Förderer und Kulturpolitiker sind zusammengefasst an das Ende der jeweiligen Podien gestellt. Der lebendige Gestus des mündlich Vorgetragenen während des Symposiums wurde erhalten.

Alle Beteiligten des Symposiums plädierten für die Herausgabe des vorliegenden Buches zur Kunstsparte darstellende Künste im öffentlichen Raum, mit dessen Erkenntnissen und Empfehlungen der notwendige kulturpolitische Aushandlungsprozess und einzuleitende Paradigmenwechsel begleitet und unterstützt werden soll. Insgesamt wurde eine überaus positive Bilanz des Symposiums gezogen. Gefordert wurde eine spürbare Erweiterung und Verbesserung der Förderstrukturen und Arbeitsbedingungen der professionellen freien Theater- und Tanzschaffenden – insbesondere durch effizientere und offensivere Kooperationen von Kommunal-, Landes- und Bundespolitik.

Im dritten Kapitel stellen zehn Autoren aus Wissenschaft und Forschung, angewandter Kuratoren- und Kunstpraxis sowie internationaler Publikationstätigkeit ihre jeweiligen Sichtweisen auf die gesellschaftlichen und künstlerischen Gestaltungs- und Transformationsprozesse im öffentlichen Raum zur Diskussion. Das breite Spektrum der Beiträge umfasst temporäre und nachhaltige Auswirkungen für Städte, den ländlichen Raum und die Gesellschaft insgesamt. Es werden Fragen nach dem individuellen Recht auf öffentlichen Raum, die Definition und Übertragung von Nachhaltigkeit auf künstlerische Projekte und die Ambivalenz partizipativer Beteiligungen aufgeworfen. Die Rolle des Politischen, des Privaten und des Öffentlichen bei ästhetischen Interventionen sowie Auswirkungen digitaler Medien im öffentlichen Raum werden ebenfalls erörtert. Die hier versammelten Beiträge sind zum Teil exklusiv für dieses Buch geschrieben oder dankenswerterweise zur Verfügung gestellt worden.

Ein zweites Fazit, das ein Jahr nach dem Symposium unter dem Eindruck nachfolgender Debatten zur Gesamtthematik entstand, schließt den Diskurs ab. Die beiden Autoren befragen sich im Dialog, welche Prioritäten und Empfehlungen sie ins Zentrum künftiger Strategien für die darstellenden Künste im öffentlichen Raum stellen würden und werfen dabei diskutierbare Fragen auf. Aus Kapazitätsgründen konnte die umfangreiche Literaturliste leider nicht ins Buch aufgenommen werden.Das Buchprojekt ist zugleich der Abschluss meiner langjährigen Tätigkeit als Berater und Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste. Das im Anhang aufgenommene Interview beschreibt beispielhaft diese Zeit.

Die positive Resonanz zum Gesamtprojekt seitens der geförderten Künstlergruppen, der Einwohner und Zuschauer vor Ort, der Teilnehmer des Symposiums und der kommunalen Verwaltungen wirft erneut die Frage auf, ob und wann es ähnliche Nachfolgeprojekte geben soll und kann. Diese Überlegungen standen auch während der Inszenierungs- und Aufführungsphasen immer wieder im Raum und durchzogen viele Statements während des Symposiums. Es ging vielen eben um eine ganz praktische Nachhaltigkeit des Geleisteten.
Meine Antwort auf diese Forderung ist: Ja, sie muss es angesichts der gesellschaftlichen Relevanz des öffentlichen Raumes geben. Gerade hier werden essentielle Fragen gestellt: Wie wollen wir zusammenleben und wie müssen wir unsere öffentlichen Räume gestalten?
Für Folgeprojekte braucht es den politischen Willen der Verantwortlichen in den Kommunen und Ländern, auch, um den Bund zu überzeugen, sich als Komplementärförderer zu beteiligen. Und selbstverständlich sind auch die Künstlerinnen und Künstler, ihre Verbände, Förderinstitutionen, Kuratoren und Wissenschaftler gefordert, be währte Fördermodelle weiter zu entwickeln und vor allem neue Ideen zu konzipieren, welche die Politik überzeugen und Stabilität und Perspektiven für diese besondere und äußerst fragile Kunstsparte ermöglichen. Am Geld allein können Veränderungen nicht scheitern. Wirtschaftlich wie auch hinsichtlich der Steuereinnahmen der öffentlichen Haushalte geht es der Bundesrepublik Deutschland so gut wie lange nicht. Und wie oft wird immer wieder betont, dass es bei Förderungen von Kunst und Kultur um Investitionen in die Zukunft geht und Kulturpolitik zugleich Stadtpolitik ist.3 Und zudem sind sich inzwischen auch alle Parteien darin einig, dass die permanente Selbstausbeutung freier Künstler ein unhaltbarer Zustand ist.

Ähnlich wie bei diesem Sonderprojekt plädiere ich aufgrund meiner langjährigen Erfahrungen für thematische Ausschreibungen von Sonderprojekten bzw. für mehrjährige Fördermodelle mit Anforderungsprofilen, die im Dialog mit Künstlern entstehen. Mit diesem Sonderprojekt gaben die Gremien des Fonds lediglich eine konkrete Rahmung vor, die eine breite Vielfalt der ästhetischen Handschriften und Auswahl unterschiedlichster Unorte eröffnete. Im Zentrum der konzeptionellen Überlegungen aller 18 Künstlergruppen standen zuerst Fragen nach geeigneten Unorten und danach, wie sie mittels ästhetischer Interventionen zu temporären Heterotopien verwandelt werden können. Jedes einzelne Projekt war ein Experiment, ein ästhetisches und soziales Laboratorium, auf das sich die Gruppen wie auch der Fonds einließen – ohne zu wissen, was letztlich in der Öffentlichkeit zu betrachten ist und wie das Publikum darauf reagiert. Dafür stellten der Bund, Länder und Kommunen finanzielle Ressourcen für die einzelnen Projekte mit jeweils 40 000 bis zu 200 000 Euro zur Verfügung.

Die freien Theater- und Tanzschaffenden benötigen für ihre künftigen Experimente und Laboratorien deutlich nachhaltigere politische Rahmenbedingungen sowie bessere finanzielle Ausstattungen. Ihre Erwartungen an uns sind auch mit diesem Buch begründet – machen wir uns dafür gemeinsam stark!

1 Grundsätzlich wird in der Buchreihe „Recherchen“ aus Gründen der Lesbarkeit geschlechter gerechte Sprache nicht durch Binnen-I, Sternchen o. ä. gekennzeichnet. 2 Es sind jedoch stets Personen jeglichen Geschlechts gemeint. Verfasserin: Frauke Surmann, online verfügbar unter www.theater-im-oeffentlichenraum. de
3 Vgl. Deutscher Städtetag: Kulturpolitik als Stadtpolitik. Positionspapier des Deutschen Städtetages, September 2015. Online: http://www.staedtetag.de/imperia/md/content/dst/veroeffentlichungen/mat/positionspapier_kulturpolitik_als_stadtpolitik_sept_2015.pdf (Zugriff am 15.11.2017).

November 2017, Günter Jeschonnek

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