Recherchen 132
Das verschüttete Schweigen
Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft
von Helmar Schramm
Herausgegeben von Erhard Ertel, Joachim Fiebach, Michael Lorber und Anne Schramm
Paperback mit 356 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-95749-102-2
Dieser Band versammelt eine Auswahl von Texten des renommierten Theaterwissenschaftlers Helmar Schramm aus vier Jahrzehnten. Immer wieder über das Theater hinausgehend, hat er in seinen Arbeiten theatrale Phänomene in Alltag, Kunst, Wissenschaft und Politik in den Blick genommen und damit maßgeblich zur Neukonturierung der deutschen Theaterwissenschaft beigetragen. Mit Essays zur kunst- und kulturhistorischen Rolle bedeutender Vertreterinnen und Vertreter der Bildenden Kunst, des Theaters und der Musik sowie kritischen Einlassungen zu aktuellen Entwicklungen gewährt die Textauswahl Einsicht in den Reichtum und die Vielfalt seiner Lebensarbeit. Damit werden die wichtigsten Veröffentlichungen, mit denen Helmar Schramm die internationale Forschung zur europäischen Geschichte und Theorie des Verhältnisses von Kunst, Theater, Öffentlichkeit und Wissenschaft innovativ vorangebracht hat, erstmals in einem Band kompakt zugänglich gemacht.
Editorische Notiz
Unter den Studierenden, die Helmar schon besser kannten, waren Sprechstundentermine immer auch mit einer gewissen Angst verbunden. In der Seminar- oder Doktorarbeit war man auf ein ganz konkretes Problem gestoßen, mit dem man einfach nicht weiterkam, weswegen ein Gespräch mit dem Betreuer weiterhelfen sollte. In der Regel konnte zwar für das Problem, wegen dem man gekommen war, eine gute Lösung gefunden werden, allerdings ging man auch – so die mit der Zeit unter seinen Studierenden zum Running Gag gewordene Erfahrung – mit mindestens zehn neuen offenen Fragen aus der Sprechstunde wieder raus, die sich vorher so eigentlich noch gar nicht gestellt hatten. Die Welt wurde in den Seminaren und Gesprächen mit Helmar eben immer komplexer, damit aber auch interessanter und aufregender. Trotz oder wohl eher wegen dieser dem herrschenden Zeitgeist in einem durchaus doppelten Sinne zuwiderlaufenden unökonomischen Denk- und Arbeitsweise – alles hat immer viel länger gedauert als geplant, und man wusste eigentlich nie, wohin die eigene Reise langfristig gehen sollte – waren seine Lehrveranstaltungen sehr beliebt, auch wenn sie meist einen beträchtlichen Mehraufwand an Arbeit bedeuteten.
Ein Band mit ausgewählten Aufsätzen aus vier Jahrzehnten zu seinem Gedenken widerspricht auf den ersten Blick geradezu dieser unökonomischen Denk- und Arbeitsweise Helmars, scheint damit doch das Versprechen verbunden zu sein, sich schnell – praktisch zwischen zwei Buchdeckeln eingepasst – über wesentliche Züge seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit informieren zu können. Unsere Motivation, den vorliegenden Band zu realisieren, war eine gänzlich andere und ist vielmehr aus dem Wunsch hervorgegangen, dass die vielfältigen und streitbaren Einlassungen Helmars in ganz unterschiedliche Themenbereiche, bislang in diversen Publikationen verstreut, auf diese Weise nicht aus dem Blick geraten, sondern dass seine Stimme weiterhin laut und wahrnehmbar bleibt. Gerade angesichts der zu diesem Zeitpunkt noch kaum einschätzbaren Bedrohungen eines aufsteigenden postfaktischen Zeitalters sind seine stets aus historischen Tiefendimensionen heraus entwickelten Analysen politischer Öffentlichkeiten, der Theatralität alltäglichen Verhaltens sowie der Wirksamkeit von epistemologischen Blickschranken und symbolischer Gewalt von allergrößtem Wert. Einerseits erweisen sie sich als ein scharfes Instrument im Begreifen von gesellschaftlichen Langzeitprozessen und können damit – ganz im Sinne Bertolt Brechts – als Orientierung für die sich stellenden politischen Herausforderungen dienen. Andererseits stellen diese Analysen zugleich eine wichtige Mahnung an die gegenwärtigen Geisteswissenschaften dar, sich nicht immer weiter aus der Gesellschaft in ihre angestammten und gut abgesicherten Reiche zurückzuziehen, um dort im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari als Königin zu herrschen – wie Helmar in den letzten Jahren mit wachsender Sorge festgestellt hat. Stattdessen sind sie aufgefordert, sich den alltäglichen Gefahren des politischen Lebens auszusetzen, nomadenhaft und marodierend durch die Straßen der Welt zu ziehen, um der normierenden Gewalt neoliberaler Ökonomien Widerstand zu leisten und alternative Denk- und Lebensstile zu entwerfen: „So sind denn auch wissenschaftliches Arbeiten und situationsgerechtes politisches Agieren bis ins kleinste einander verbunden, durchdringen einander in praktischem Verhalten, in Wahrnehmungsweise und Denkart.“ (S. 69)
Mit Ausnahme des ersten und des letzten Beitrags sind alle in diesem Band aufgenommenen Texte bereits von Helmar veröffentlicht worden. Wir haben uns für eine chronologische Anordnung entschieden, um gegenüber den unterschiedlichen Themen und Textformaten eine neutrale Haltung einzunehmen. In ähnlicher Absicht haben wir bei der Auswahl der Texte darauf geachtet, dass sie das große thematische Spektrum von Helmars Interessen widerspiegeln. Darunter befinden sich auch zwei Einleitungen zu Sammelbänden, die es erlauben nachzuvollziehen, mit welchem theoretischen Ansatz und auch mit welchem Anspruch Helmar thematisch großangelegte interdisziplinäre Forschungsprojekte entwickelt und realisiert hat. Für die erneute Drucklegung haben wir alle Texte nochmals lektoriert und offensichtliche Fehler stillschweigend korrigiert. Einen größeren editorischen Eingriff bedeutete die Vereinheitlichung der bibliographischen Angaben, die zudem ergänzt und heutigen Standards angepasst wurden. Hierfür wurde aber nur auf die Helmar bei der Abfassung tatsächlich zur Verfügung stehenden und von ihm tatsächlich benutzten Ausgaben zurückgegriffen, d. h. eine Anpassung der Zitation an heute gängige Werkausgaben wurde aus editorischer Sorgfaltspflicht bewusst vermieden.
Ganz besonders bedanken möchten wir uns bei den Verlagen, die uns großzügigerweise die Rechte für den Wiederabdruck der Texte in diesem Band unentgeltlich zur Verfügung gestellt haben. Namentlich möchten wir besonders Dr. Manuela Gerlof (Walter de Gruyter Verlag) danken, die uns für mehrere Beiträge die Wiederabdruckgenehmigung überlassen hat. In chronologischer Reihenfolge der in diesem Band abgedruckten Beiträge möchten wir auch noch Dr. Matthias Oehme (Eulenspiegel Verlagsgruppe), Ulrike Eilers (Seemann Henschel), Prof. Dr. Bianca Matzek (Verlag Peter Lang Bern), Dr. Tessa Debus (Wochenschau-Verlag Dr. Kurt Debus), Prof. Dr. Christopher Balme (LMU München), Prof. Dr. Andreas Kotte (Universität Bern), Stefanie Eggert (J. B. Metzler Verlag), Dr. Thomas Neumann (Königshausen & Neumann) und Stefanie Hanneken (transcript Verlag) sowie auch den Herausgeberinnen und Herausgebern der entsprechenden Sammelbände sehr herzlich für die Unterstützung dieses Bandes danken. Die vollständigen Angaben zu den Erstabdrucken und den gewährten Wiederabdruckrechten sind im Anhang zu finden. Des Weiteren sind wir auch dem Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, namentlich dem Geschäftsführenden Direktor Prof. Dr. Matthias Warstat, für die ideelle und finanzielle Unterstützung der Publikation außerordentlich dankbar. Dem Verlag Theater der Zeit danken wir für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und die Möglichkeit, diesen Band in der wunderbaren Reihe ‚Recherchen‘ veröffentlichen zu können.
Begleitend zu dieser Publikation befindet sich derzeit unter der Webadresse ‚www.helmar-schramm.de‘ eine Homepage im Aufbau, auf der Videomitschnitte aus Helmars Konferenzen, Seminaren und Vorlesungen zugänglich gemacht werden.
Das Lieblingsspielzeug von Helmar war das Kaleidoskop. Er hatte eine kleine Sammlung in ganz unterschiedlichen Ausführungen. An sogenannten Themenabenden in seiner Kreuzberger Wohnung am Görlitzer Park, zu denen Mitarbeiter und Studierende zum lebhaften Diskutieren, Politisieren, Philosophieren und Trinken von reichlich und immer hervorragendem Rotwein eingeladen waren und die bis spät in die Nacht dauern konnten, hat Helmar manchmal seine Sammlung hervorgeholt – und immer wieder einige seiner Sammlerexemplare verschenkt. Großzügig und kaleidoskophaft war auch sein Denken.
Michael Lorber
Berlin, Januar 2017
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Helmar Schramm: Das verschüttete SchweigenEditorische Notizvon Michael Lorber | Seite 9 |
Das Wuchern des Theatralen im Gewebe der Gesellschaftvon Joachim Fiebach | Seite 12 |
Das verschüttete Schweigen | |
Eine knallrote Kugel(undatiert)von Helmar Schramm | Seite 23 |
Rückkehr nach zwanzig JahrenArbusows Erwartung in Wittenberg (1980)von Helmar Schramm | Seite 25 |
Roman-Verschnitt auf glattfurnierter BühneKippenberg im Theater im Palast uraufgeführt (1980)von Helmar Schramm | Seite 27 |
Mit vollem Mund spricht man nicht(1983)von Helmar Schramm | Seite 31 |
Rollenspiel hinter spanischen WändenDie heilige Hure von Antonio Gala als DDR-Erstaufführung im bat (1984)von Helmar Schramm | Seite 37 |
Dem Zuschauer auf den Leib rückenDer Regisseur Frank Castorf (1987)von Helmar Schramm | Seite 40 |
Das Haus der Täuschungen (Bacon)Einige Überlegungen zu Brechts Ansatz eines „alltäglichen Theaters“ (1987)von Helmar Schramm | Seite 50 |
Lebende Bilder auf der Suche nach öffentlichem RaumPerformance-Akzente im Rahmen der Berliner Kunstausstellung (1989)von Helmar Schramm | Seite 71 |
Abschreckung und ZerstreuungskunstPlädoyer für eine Geschichte der symbolischen Gewalt (1990)von Helmar Schramm | Seite 78 |
ZeitspielräumeRobert Wilsons Orlando in der Schaubühne Berlin (1990)von Helmar Schramm | Seite 86 |
Theatralität und ÖffentlichkeitVorstudien zur Begriffsgeschichte von ‚Theater‘ (1990)von Helmar Schramm | Seite 91 |
LichtraumcollagenRobert Rauschenberg im Berliner Alten Museum (1990)von Helmar Schramm | Seite 128 |
Übung im VerstummenZu Heiner Müllers Mauser-Inszenierung am Deutschen Theater (1991)von Helmar Schramm | Seite 132 |
Hypochondrie und TheaterZur Inszenierung von Text bei Montaigne (1992)von Helmar Schramm | Seite 136 |
Theatralität und Schrift/KulturÜberlegungen zur Paradoxie des Theaterbegriffes (1993)von Helmar Schramm | Seite 150 |
Vermessung der HölleÜber den Zusammenhang von Theatralität und Denkstil (1995)von Helmar Schramm | Seite 160 |
Das offene Buch der Alchemie und die stumme Sprache des TheatersTheatralität als ein Schlüssel gegenwärtiger Theaterforschung (1995)von Helmar Schramm | Seite 168 |
SpalierstehenZur Dynamik der kulturgeschichtlichen Relation von zeremoniellem Schein und Theater (1995)von Helmar Schramm | Seite 184 |
Demokratie als kategorialer ScheinZur dramaturgischen Modellierung geselligen Verhaltens (1996)von Helmar Schramm | Seite 194 |
Wahrnehmung im 17. Jahrhundert(2001)von Helmar Schramm | Seite 204 |
Schauraum/DatenraumOrte der Interferenz von Wissenschaft und Kunst (2003)von Helmar Schramm | Seite 209 |
Feuerwerk und Raketentechnik um 1700Zur Theatralität pyrotechnischer Experimente (2003)von Helmar Schramm | Seite 222 |
Kunstkammer – Laboratorium – Bühne im ‚Theatrum Europaeum‘Zum Wandel des performativen Raums im 17. Jahrhundert (2003)von Helmar Schramm | Seite 245 |
Schweigen lernenKleine Erinnerung an Max Picard (2004)von Helmar Schramm | Seite 266 |
Meta-Maschinen-TheaterZum Verhältnis von Technikgeschichte und Verhaltensökonomie (2005)von Helmar Schramm | Seite 272 |
BlickschrankenZum Verhältnis von Experiment und Spiel im 17. Jahrhundert (2005)von Helmar Schramm | Seite 278 |
Kunst des Experimentellen, Theater des Wissens(2006)von Helmar Schramm | Seite 294 |
Pathos und MelancholieRethinking ‚Theatre‘ in Times of Doubt (2009, gemeinsam mit Barbara Sušec Michieli)von Helmar Schramm | Seite 316 |
Modell + Risiko(2014)von Helmar Schramm | Seite 336 |
Anhang | |
Nachweis der Erstabdrucke | Seite 343 |
Bildnachweise/Bildrechte | Seite 345 |
Personenregister | Seite 346 |
Über Helmar Schramm | Seite 352 |
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