Die Bewohnbarmachung der Erde

Brechts Verhältnis zu Stadt und Natur

von

II
In Brechts Anfängen ist von seiner späteren Forderung einer friedlichen „Bewohnbarmachung der Erde“ noch nirgendwo die Rede. Als Sohn aus sogenanntem guten Hause legte er seinem subjektiv-instinkthaften Durchsetzungsdrang erst einmal keinerlei Zügel an. Mit „kaltem“ Intellekt und „heißem“ Herzen, wie er in seinen frühen Autobiographischen Aufzeichnungen beteuerte,4 erschien dem zwanzigjährigen Brecht nur das als wahrhaft lebenswert, was ihm – jenseits aller konventionellen Moral- und Berufsvorstellungen – eine möglichst genussvolle Absättigung seines persönlichen Lustverlangens versprach. Und das waren in erster Linie sexuelle Libidoempfindungen, orgienhafte Gelage mit Freunden, Ausflüge in die „freie Natur“ sowie literarische „Schocker“, mit denen er die Leisetreter und Ich-Leichen seiner bürgerlichen Umwelt so krass wie möglich vor den Kopf zu stoßen versuchte.
Wohl das beste Beispiel dafür ist sein Erstlingsdrama Baal (1918/19), dem Brecht anfangs den Titel „Baal frißt! Baal tanzt! Baal verklärt sich!!!“ gab. In ihm geht es um einen vagabundierenden Dichter, der sich angesichts der Sinnleere der Schöpfung alles, was ihm momentane Lustbereicherung verschafft, ob nun Alkoholika, Jungfrauen oder Damen der höheren Gesellschaft, ohne die geringsten moralischen Skrupel einverleibt. Unter „Natur“ wird also in diesem Drama nur das verstanden, was im Rahmen der lebensfeindlichen Konventionen seiner Umwelt als triebhaft-ungezügelt und damit lasterhaft gilt. Während sich die Spießer weiterhin an Gottes Gebote halten, heißt es einmal, ist Baals Himmel „voll von Bäumen und Leibern“.5 Daher zieht es ihn am Schluss in den „ewigen Wald“, wo er im Einssein mit der Natur nach all seinen wahllosen Triebbefriedigungen einsam verröchelt.
Die gleiche Stimmung herrscht in vielen Gedichten und Balladen Brechts aus diesen Jahren. Auch in ihnen geht es ständig um eine möglichst „natürliche“, das heißt betont antireligiöse, ja geradezu nihilistische Lusterfüllung. Statt dabei in die mystischen Gefühlswelten der neuromantischen Naturverklärung oder die naturverkultenden Heimatkunstkonzepte der Zeit um 1900 zurückzufallen, ist in ihnen fast durchgehend vom „Schwimmen in Flüssen und Seen“ oder vom „Klettern in Bäumen“ die Rede,6 was wie in seinem Baal-Drama lediglich als ein lustvolles Hingegebensein an momentane Gefühlsaufwallungen beschworen wird. Wie in seinen Gedichten über die Seeräuber oder andere Abenteurer dominiert in ihnen ein hemmungsloses Umhergetriebensein, das unter wahrhafter Lebenserfüllung – ohne Rücksicht auf irgendeine Mitmenschlichkeit – allein einen ungezügelten Egoismus zu verstehen scheint.

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