Die Bewohnbarmachung der Erde

Brechts Verhältnis zu Stadt und Natur

von

III
Eine gewisse Änderung in dieser Hinsicht macht sich erst in jenen Werken Brechts bemerkbar, die er nach 1920 verfasste, als er sich entschloss, das heimatliche Augsburg zu verlassen und sich in den Dschungel der Großstadtmetropole Berlin zu begeben, um sich als genialisch auftretender Bürgerschreck auf möglichst provozierende Weise in die dort herrschenden literarischen Konflikte und Konfrontationen einzumischen. Angesichts der ihn in dieser Millionencity überwältigenden Häuserschluchten sah er sich plötzlich – halb berauscht, halb abgestoßen – nicht mehr von Wäldern und Seen, sondern von Asphalt und Steinen umgeben. Die bis dahin vielbeschworene „Natur“ tritt daher in seinen danach geschriebenen Werken immer stärker in den Hintergrund. Was blieb, war jedoch – trotz der Unzahl von Menschen, die ihm in Berlin begegneten – das Gefühl, weiterhin ein Einzelner zu sein. Während er bisher wenigstens das Einssein mit der Natur zu verspüren glaubte, kam ihm jetzt selbst das abhanden. Überall schien in dieser Asphaltwüste nur die kälteste Selbstsucht zu herrschen, überall dominierte ein erbarmungsloses Gewinnstreben, überall hatte sich eine berechnende Unnatur breitgemacht, die kein Untertauchen in naturverbundenen Rauschzuständen mehr erlaubte.
Sein erstes Drama, in dem er diesen Schockeffekt zu verarbeiten suchte, war das Stück Im Dickicht der Städte (1921–1924), das im Zuge der damaligen Amerika-Orientierung in einer imaginierten Chicago-Welt spielt, wo als zwingende Notwendigkeit der Großstadtwirklichkeit lediglich das Prinzip des Kampfes aller gegen alle zu herrschen scheint. Verglichen mit dem hier dargestellten Milieu wirkt sein Baal fast wie ein letzter Schwanengesang auf die Reize der natürlichen Umwelt. Während dort noch das Schreiben mit dem „heißen Herzen“ den Ton angegeben hatte, hat sich hier das Schreiben mit dem „kalten Blick“ durchgesetzt.7 In Im Dickicht der Städte geht es im Kampf zweier Männer um ökonomische Vorherrschaft nicht mehr um ein anarchisches Umhergetriebensein, sondern nur noch um genau kalkulierte Taktiken.
Und Brecht passte sich in seinem Bestreben um literarische Anerkennung diesem rücksichtslosen Behaviorismus so gut es ging an. „In der Asphaltstadt bin ich daheim“, heißt es 1925 mit zynischer Attitüde in seinem Gedicht „Vom armen B. B.“: „Versehen mit jedem Sterbsakrament: / Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein. / Mißtrauisch und faul und zufrieden am End.“8 Alles, was wir im „Dschungel der Großstädte erreichen können“, schrieb er kurz darauf in seinem „Lesebuch für Städtebewohner“ (1926/27), ist „ungestörte Bitterkeit“.9 Doch das war nur die halbe Wahrheit. Mitte der zwanziger Jahre ließ sich auch Brecht von der vielbeschworenen „relativen Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse“ der Weimarer Republik verführen, vorübergehend als ein Wortführer jener Neuen Sachlichkeit aufzutreten, die sich vor allem in Berlin als der letzte Schrei der neuen Großstadtmentalität verstand. Kurzum: Er kaufte sich ein Auto, nahm an Sportveranstaltungen teil, begann Kriminalromane zu lesen, ging ins Kino, interessierte sich für Jazz und was sonst noch an Errungenschaften der sogenannten „Moderne“ angepriesen wurde. Ja, selbst im Theater setzte er seine Hoffnungen auf das neue „Sportpublikum“, das vor allem am siegreichen „Finish“ der jeweils dargestellten Kämpfe interessiert sei, wie er am 26. Februar 1926 im Berliner Börsen-Courier erklärte.10
Doch das waren relativ kurzlebige Illusionen. Schon bald beschlichen ihn immer wieder Zweifel an seiner partiellen Übereinstimmung mit dem herrschenden „Zeitgeist“. So schrieb er in seinem „Lesebuch für Städtebewohner“ mit ironisierender Distanziertheit: „Und nicht schlecht ist die Welt / Sondern / Voll.“ Und: „Wir wissen nicht, was kommt, und haben nichts Besseres / Aber dich wollen wir nicht mehr.“11 Ebenso nachdenklich heißt es 1927 in seinen Autobiographischen Aufzeichnungen: „Ich habe mich schwer an die Städte gewöhnt.“12 Was ihn in diesem Zusammen hang besonders verstörte, waren die weitverbreiteten Lobeshymnen auf die fort schreitende Industrialisierung von Seiten jener „Sachlizisten“, wie sie damals hießen, die im Zeichen des allerorts gepriesenen Fordismus und Taylorismus selbst in den übelsten Auswüchsen der zunehmenden Technikverkultung nur Ausdrucksformen eines segenbringenden „Fortschritts“ sahen. Wohl die schärfste Attacke gegen diese zeitverhaftete Kurzsichtigkeit ist sein 1927 geschriebenes Gedicht „700 Intellektuelle beten einen Öltank an“, das sich gegen all jene wendet, die im Namen der „Elektrifizierung, der Ratio und der Statistik“ sogar die Anlage jener Ölfelder begrüßten, wo einstmals „Gras wuchs“, der „Wind wehte“ und „langsam mah lende Mühlen“ standen.13
Doch selbst in diesem Gedicht herrscht noch eher ein satirischer als ein kämpferischer Ton vor. Einen grundsätzlichen Abgesang auf die Neue Sachlichkeit stimmte Brecht erst an, als er sich 1928 in das Studium der marxistischen Klassiker vertiefte und ein Jahr später der New Yorker Börsenkrach vom 24. Oktober allen Hoffnungen auf einen unaufhörlichen Fortschritt und die sich daraus ergebende Wohlstandssteigerung ein jähes Ende bereitete.

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