Die Bewohnbarmachung der Erde

Brechts Verhältnis zu Stadt und Natur

von

V
Doch jetzt: wohin? Statt wie viele von Brechts Gesinnungsfreunden nach Moskau, Prag, Paris oder Wien zu fliehen, entschied sich Brecht für ein Exil auf der dänischen Insel Fünen, um nicht wieder in den konfliktreichen Strudel der großen Städte zu geraten. Und zwar wählte er dort als seine Wohnstätte ein strohgedecktes Fischerhaus am Skovsbostrand nahe Svendborg, das von hohen, kräftig wirkenden Bäumen umgeben war. „So weit man blickt, ist alles grün“, schrieb er 1934 als „Herr der Strohhütte“ an den „Herrn der Wolkenkratzer“ George Grosz in New York.16 All das gemahnte ihn wenigstens von Ferne an sein „Haus mit dem großen Garten“, den „vielen Baumgruppen“ und „weißen Rhododendronbüschen“ in Utting, wie es in dem gleichzeitig geschriebenen Gedicht „Zeit meines Reichtums“ heißt.17
Auch im Hinblick auf sein neues Haus genoss also Brecht wiederum das Althergebrachte, das noch nicht von der kapitalistischen Massenproduktion Verhunzte. In Utting waren es die „getäfelten Hölzer zur Decke“, die „mächtigen eisernen Öfen“ mit ihren „Bildnissen arbeitender Bauern“, die „eichenen Bänke und Tische“ und die „starken Türen“ mit ihren „Erzklinken“ gewesen,18 in Skovsbostrand waren es das Strohdach und das Fachwerk der Außenwände. All das, das heißt auf Bäuerliches und damit vorkapitalistische Zustände Zurückgehende, machte Brecht immer skeptischer, in der zunehmenden Industrialisierung einen tiefgreifenden „Fortschritt“ zu der allerseits gepriesenen „Moderne“ zu sehen. Er arbeitete daher zur gleichen Zeit an einem Stück unter dem Titel „Das Ölfeld“, von dem sich leider nur wenige, in Gedichtform abgefasste Zeilen erhalten haben, in welchem er den zerstörenden Eingriff in die Natur von Seiten jener Konzernherren thematisieren wollte, die wegen der von ihnen angeordneten Bohrungen den Ziegenhirten ihre Wiesen und den Bauern ihre Äcker wegnehmen, ja selbst „hundert Jahre alte Wohnhäuser“ abreißen lassen.19
In den folgenden Jahren, die Brecht im dänischen Exil verbrachte, ist daher ständig von der ihn umgebenden Natur die Rede. Allerdings überkamen ihm dabei – angesichts des mörderischen Vorgehens der Nazifaschisten – oft Zweifel, ob „ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“, wie es in dem bekannten Gedicht „An die Nachgeborenen“ heißt.20 Ja, in dem kurz darauf geschriebenen Gedicht „Schlechte Zeit für Lyrik“ fasste er diesen Konflikt in folgenden Zeilen zusammen: „In mir streiten sich / Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum / Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers. / Aber nur das zweite / Drängt mich zum Schreibtisch.“21
Doch trotz aller antikapitalistischen und antifaschistischen Werke, die Brecht in diesem Zeitraum schrieb, behielt er dabei – in seiner universalen Sehweise – stets auch das erst in Zukunft zu lösende Problem einer besseren Integration bewohnbarer menschlicher Ansiedlungen und unzerstörter Natur im Auge. Daher finden sich in seinen Gedichten der mittdreißiger Jahre, wie gesagt, immer wieder Zeilen, wo von Büschen, Hecken, Rasenflächen oder einem „knorrigen Birnbaum mit hangenden Zweigen“ die Rede ist,22 während er seine Stippvisiten nach Kopenhagen, London, Paris oder New York – außer der Reise nach Moskau – fast nirgends erwähnt.
Und auch als sich Brecht kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs genötigt sah, nach Schweden auszuweichen, war er froh, dort in Lidingö wieder ein Haus beziehen zu können, das – fern der Großstadt Stockholm – von einem „Tannenwald“ umgeben war.23 Ja, selbst als die politische Situation im Jahr 1940 immer brenzliger wurde und er mit seiner Familie nach Finnland übersiedelte, war er wiederum froh, dass ihm die dortige Dichterin Hella Wuolijoki auf ihrem Landsitz Marlebäk in Kausala zeitweilig ein Haus „zwischen schönen Birken“ zur Verfügung stellte.24 Wie in Skovsbostrand und Lidingö war Brecht auch hier von der ihn geradezu urtümlich anmutenden Landschaft hellauf begeistert. „Es ist verständlich“, notierte er sich am 8. Juli 1940 in sein Arbeitsjournal, „daß die Leute hierzulande ihre Landschaft lieben“:

Sie ist so sehr reich und zeigt großes Gemischt. Die fischreichen Gewässer und schönbäumigen Wälder mit ihrem Beeren- und Birkengeruch. […] Und welch eine Musik füllt diesen heiteren Himmel! Beinahe unaufhörlich geht Wind, und da er auf viele verschiedene Pflanzen trifft, Gräser, Korn, Gesträuche und Wälder, entsteht ein sanfter, an- und abschwellender Wohlklang, der kaum mehr wahrgenommen wird und dennoch immer da ist.25

Ebenso angetan war er von dem „über 100 Jahre alten Gutshaus“ mit seinem „Eisen und herrlichen Holz, der rötlichen Fichte des Nordens“, wie es in einem Notat aus der gleichen Zeit heißt.26
Doch auch hier galt es – angesichts der sich ständig verschärfenden Kriegsläufte – bald wieder Abschied zu nehmen und weiterzufliehen, um nicht von den Häschern der Nazifaschisten festgenommen zu werden. Und zwar entschied sich Brecht diesmal für die auf der anderen Seite des Planeten liegenden Vereinigten Staaten, um sich nicht noch einmal einer neuen Gefahr auszusetzen.

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