Die Bewohnbarmachung der Erde

Brechts Verhältnis zu Stadt und Natur

von

VI
Als er am 21. Juli 1941 in San Pedro, dem Hafen von Los Angeles, landete, fand er das Gefühl, endlich von den 15 000 Kilometer entfernten europäischen Kriegsschauplätzen in Sicherheit zu sein, durchaus befreiend. Aber ansonsten begegnete er allem, worauf er hier stieß, von vornherein höchst skeptisch. Schließlich hatte ihn schon 1935 sein kurzer Besuch in New York maßlos enttäuscht. Doch Los Angeles wirkte auf Brecht noch abstoßender.27 Was ihn dort besonders befremdete, war das Künstliche des dort herrschenden Lebensstils, das heißt, auf einer weit ausgedehnten Sandfläche wohnen zu müssen, wo „alles Grüne nur durch Bewässerungsanlagen der Wüste abgerungen ist“.28 Zudem erschien ihm – aus Skandinavien kommend – das in Los Angeles herrschende Klima unerträglich heiß, ja geradezu tropisch. Nichts, aber auch nichts erinnerte ihn hier mehr an Europa. Er hatte fast das Gefühl, irgendwo in den Kolonien zu leben, wo man als Weißer nur hingehe, um „Geld zu machen“ und dann wieder nach Hause zu fahren.29
Ebenso verstört war er über den „würdelosen“ Charakter der dortigen Häuser, die alle so aussähen, als wären sie vorgestern aus billigstem Material zusammengezimmert worden. Nichts habe hier etwas Gediegenes, Alt bewohntes, Kunsthandwerkliches, beteuerte er immer wieder. Im Gegensatz zu den Häusern in Utting, am Skovsbostrand, in Lidingö und Marlebäk empfand er die kalifornischen „Puppenhäuschen“ mit ihren rosafarbigen, gelben oder türkisgrünen Innenwänden nicht nur als würdelos, sondern geradezu verkitscht.30 All diese „nuttigen Kleinbürgervillen“, heißt es in seinem Arbeitsjournal, die von zuhälterischen Maklern als „beautiful“ angepriesen würden, erschienen ihm weder schön noch brauchbar.31 Hier wirke alles so, erklärte er, „als ob man versucht habe, mit billiger Hübschheit den meisten Profit herauszuschlagen“. An sämtlichen Wänden, ja selbst an den Bäumen vor und hinter den Häusern, „die sich nur durch ständiges Sprengen am Leben erhalten ließen“, glaubte er irgendwelche „Preisschildchen“ zu erblicken. Wo gab es hier überhaupt Authentisches, wo war hier die „Natur“, fragte sich Brecht immer wieder. War diese Stadt nicht nur eine Durchgangsstation für Jobsuchende, die darauf hofften, in den verschiedenen Filmstudios Hollywoods einen „Fast Buck“ zu machen? In einer solchen Umgebung konnte sich Brecht nicht in den Garten setzen, um sich in das Lehrgedicht „De rerum natura“ von Lukrez zu vertiefen. Ein solcher Versuch wäre ihm – inmitten all dieser „deprimierenden Hübschheiten“ – wie eine weltabgewandte „Snoberie“ vorgekommen.32
Vor allem seine erste Nichtbleibe in der 25. Straße von Santa Monica mit ihren rosaroten Türen empfand er als etwas „unbeschreiblich Niedliches“, ja geradezu „Unedles“.33 Er bewunderte daher Jean Renoir, der in seinem Haus die kitschigen Stuckverzierungen einfach mit der Axt abgeschlagen habe, außerdem habe er sich möglichst „alte Möbel“ angeschafft, wodurch er endlich in halbwegs „kultivierter Umgebung“ lebe.34 Das Gleiche habe der Wiener Schauspieler Paul Henreid getan, dem es ebenfalls gelungen sei, „alte kalifornische Möbel“ zusammenzukaufen, an denen man ablesen könne, dass selbst Amerika früher einmal eine „Kulturnation“ gewesen sein müsse, wie es voller Verachtung auf die später eingetretene kapitalistische Verhunzung dieses Landes heißt.35
Brecht war daher froh, als er Anfang August 1942 in eines der „ältesten kalifornischen Holzhäuser“ in der 26. Straße umziehen konnte, das bereits „30 Jahre alt“ sei, wie er sich in seinem Arbeitsjournal ironisierend ausdrückte.36 Doch selbst in diesem Haus, wo er im angrenzenden Garten wieder seinen Lukrez lesen konnte, fühlte er sich nur „halbwegs wohl“.37 Schließlich war es auch hier unerträglich heiß. Und auch sonst hatte sich nicht viel verändert. Die Nachbarn wechselten „unaufhörlich“, da sie „anscheinend ohne viel nachzudenken ihre Arbeitsstellen“ aufgäben und in „leichter erreichbare Bezirke oder Städte“ umzögen. Gefühle wie „Heimat“ oder „Vaterhaus“ seien ihnen völlig fremd.38 Aus diesem Grund gebe es unter ihnen weder „Freundschaften“ noch „Feindschaften“, schrieb Brecht in seinen „Briefen an einen erwachsenen Amerikaner“.39 Jeder gehe in dieser Stadt an den anderen einfach lächelnd vorbei. In einem besonders deprimierten Moment notierte daher Brecht mit einem ironischen Achselzucken: „Hier kommt man sich vor wie Franz von Assisi im Aquarium, Lenin im Prater (oder Oktoberfest), eine Chrysantheme im Bergwerk oder eine Wurst im Treibhaus.“40
Das Einzige, was Brecht in dieser Stadt gefiel, waren lediglich einige Gärten, besonders die von Lion Feuchtwanger und Charles Laughton, wo man wenigstens für eine kurze Weile den unaufhörlichen Verkehrslärm der mit mickrigen Palmen umsäumten Boulevards und das Schäbige des sich gewaltsam ausbreitenden Kommerzbetriebs vergessen könne. Doch selbst sie erschienen ihm – genauer betrachtet – letztlich ebenso unnatürlich wie die gesamte Lebensweise in dieser durch hässliche „Bewässerungsanlagen der Wüste abgerungenen Welt“,41 in der ansonsten nur gesichtslose „Menschenströme“ in die Kontorgebäude der „Geschäftsviertel“ strömten und auf den Straßen herausgerissene „Zeitungsblätter“ umherwimmelten.42 Angesichts dieser Zustände fragte sich daher Brecht im Hinblick auf die „Große Unordnung“, wie er den Kapitalismus meist nannte, in seiner bitteren „Adresse eines sterbenden Dichters an die Jugend“, wann endlich die Zeit kommen werde, in der man anfangen könne, „Das Land zu bebauen, das wir verfallen ließen, und / Die wir verpesten, die Städte / Bewohnbar zu machen“.43
Doch auf diese Frage hatte er vorerst keine Antwort. Was er in Los Angeles sah, war zwar viel „Entwicklung“, aber nichts, was sich in Richtung auf etwas Andersartiges, Besseres, Naturgemäßeres „entwickele“, wie er sich in sein Arbeitsjournal notierte.44 Brecht war demzufolge froh, dass er als Marxist nach dem infamen Verhör des House Un-American Activities Comittee 1947 die USA endlich verlassen konnte. Dabei stellte sich jedoch wiederum die Frage: jetzt wohin? Er entschied sich vorerst für die Schweiz, um von dort aus die deutschen Verhältnisse besser sondieren zu können, statt sich angesichts des einsetzenden Kalten Kriegs zwischen den USA und der UdSSR sofort für eine der westlichen Besatzungszonen oder den von der Sowjetunion verwalteten Teil Ostdeutschlands entscheiden zu müssen.
Auch in der Schweiz entschloss sich Brecht, lieber in Feldmeilen auf dem Lande als in der Großstadt Zürich seine Zelte aufzuschlagen. Eines seiner ersten Notate aus dieser Zeit lautet daher im April 1948 fast wie erwartet: „Das erste europäische Frühjahr seit 8 Jahren. Die Farben der Pflanzenwelt, so viel frischer und so viel weniger krud als die der kalifornischen.“45 Was er dagegen an Neubauten sah, gefiel ihm auch hier keineswegs. Vor allem die neuen „städtischen Siedlungen“ mit ihren „Drei- und Vierzimmerwohnungen in riesigen Häuserblöcken“, die ihm wie „Gefängniszellen“ erschienen, deren winzige „Räumchen“ so aussähen, als sollten sie lediglich der „Wiederherstellung der Arbeitskraft“ dienen, lehnte er trotz des „bißchen Grüns dazwischen“ als „verbesserte Slums“ entschieden ab.46 Als sich daher Ende 1948 für ihn die Möglichkeit eröffnete, in Ostberlin seine vielen im Exil geschriebenen, aber unaufgeführten Stücke inszenieren zu können, hoffte er, dort sowohl eine politische als auch literarische Wirkungsstätte zu finden, in der er endlich daran mitwirken könne, seine bisher nur utopisch anvisierten Ansichten über eine „Bewohnbarmachung der Erde“ in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen.

VIII
Dass er in Berlin eine weitgehend zerbombte Stadt wiederfand, störte Brecht anfangs keineswegs. Schließlich war ihm diese betriebsame Metropole schon vorher als ein Ort der „Großen Unordnung“ erschienen:

Die 15 Jahre des Exils über verspürte ich keinerlei Bedauern, nicht mehr in meiner Heimatstadt oder in Berlin sein zu können. [...] Dazu kommt, daß in meiner Vorstellung diese Städte immer das Mal der Zerstörbarkeit auf der Stirn getragen hatten, als hätte man geplant, auf dem freilich etwas kostspieligen Umweg über die Zerbombung eigens aufgestellter Städte zu den riesigen Schutthaufen zu kommen, die einem vorschwebten. Ich sehe große Städte, die heute noch stehen, mit demselben Kainsmal behaftet.47

Was Brecht anfangs besonders vermisste, war, dass es in dieser Stadt so wenig „Grünes“ gab. Er lobte daher die „Einwohner am Karlsplatz“, weil sie im Winter 1946/47, als viele Menschen froren und das „Holz rar war“, wenigstens eine der dortigen Pappeln nicht abgehackt hätten.48 Als man mit dem Bau der Stalinallee begann, bedauerte er sofort, dass dieser Boulevard „noch keine Bäume“ habe.49 Überhaupt hatte er sich diesen Baukomplex wesentlich „kiezartiger“ und nicht so monumentalisierend im Stil älterer Großstädte vorgestellt. „Ich habe gewußt, daß Städte gebaut wurden“, schrieb er enttäuscht, aber: „Ich bin nicht hingefahren. / Das gehört in die Statistik, dachte ich / Nicht in die Geschichte.“50 In einem dieser Neubauten zu wohnen, zog er darum nicht in Erwägung. Am liebsten hätte er sich in einem Landhaus in Pankow eingenistet, das sich – obwohl mitten in der Stadt gelegen – in einem Park „mit großen alten Bäumen“ befand.51 Obendrein hatte dieses Haus jene „edlen Maße“, wie er erklärte, die „Einfachheit zur Kultur“ machen.52 Aber in ihm war schon ein Kindergarten untergebracht und daher bezog Brecht schließlich zwei Stockwerke in dem Hinterhofgebäude der Chausseestraße 125, die er in seinem Sinne umgestalten ließ.
Dieses Quartier erschien ihm, der lieber zwischen alten Bäumen gewohnt hätte, zwar nicht ideal, aber es erlaubte ihm vom ersten Stockwerk aus wenigstens einen Ausblick auf das parkartige Gelände der alten Hugenottengrabstätten und den angrenzenden Dorotheenstädtischen Friedhof. Relativ zufrieden schrieb er daher mit detaillierter Genauigkeit an seinen Verleger Peter Suhrkamp, dass er jetzt in einem Hinterhaus wohne, das wie das Vorderhaus etwa 150 Jahre alt sein solle:

Die Zimmer sind hoch und so die Fenster, die angenehme Proportionen haben. […] Eigentlich alle Maße sind anständig, es ist wirklich ratsam, in Häusern und mit Möbeln zu wohnen, die zumindest 120 Jahre alt sind, also in früherer kapitalistischer Umgebung, bis man eine spätere sozialistische haben wird.53

Da jedoch dieses Haus an einer der verkehrsreichsten Straßen Ost berlins lag, erwarb Brecht 1952 zugleich ein kleines, mitten in der weitgehend naturbelassenen Gegend der Märkischen Schweiz gelegenes Landhaus am Schermützelsee in Buckow, von dem es in einem seiner Gedichte heißt, dass es „tief zwischen Tann und Silberpappel“ liege, beschirmt von einer Mauer und einen Garten: „So weise angelegt mit monatlichen Blumen / Daß er vom März bis zum Oktober blüht“.54 Und für dieses „alte, nicht unedel gebaute“ Haus sowie die Wohnung in der Chausseestraße fahndeten darauf er und Helene Weigel – höchst entschieden, nicht inmitten industrieller Massenprodukte leben zu müssen – monatelang nach alten Möbeln und vorindustriellen Gebrauchsgegenständen, denen im Bereich der Möbeltischlerei, der Eisenschmiedekunst oder der Keramik noch die Würde des ästhetisch Gediegenen anhafte.55
Man sollte diese Vorliebe für Kunsthandwerkliches keineswegs mit jenem bürgerlich-parvenühaften Prunkbedürfnis verwechseln, wie er sich in all jenen vollgestopften Wohnungen äußert, in denen nicht das Brauchbare und zugleich Schöne, also Kulturvolle, sondern das Überflüssige, Sinnlose, auf Verschleiß Bedachte, also Kulturlose, im Vordergrund steht.56 Wenn Brecht in diesen Jahren die Schönheit eines Tischs, einer Lampe, eines Bechers herausstrich, so tat er das nicht aus Eitelkeit oder Besitzerstolz. Er tat es, um im Umgang mit den Dingen des täglichen Gebrauchs einen Sinn für Ästhetik und zugleich ein schonendes, ja geradezu pflegliches Verhältnis zu diesen Dingen zu demonstrieren. Statt sich mit Gebrauchsgegenständen zu umgeben, die man nur benutzt, also auch wegschmeißen oder mutwillig zerstören kann, bevorzugte er lieber Dinge, die noch vorindustriell, das heißt vor- oder frühkapitalistisch, ja am liebsten bäuerlich-kunsthandwerklich anmuteten, also noch nicht jene Konsum- und Verbrauchermentalität aufwiesen, denen als einziger Fetisch die auf dem Prinzip der ständigen Innovationssucht beruhende Akzelerierung der ökonomischen Expansionsrate zugrunde liegt.
Überhaupt erschien Brecht in diesen Jahren das Bäuerliche – als Aus druck einer vorindustriellen Lebensweise, welche noch nicht den Entartungen der kapitalistischen Industrialisierung ausgesetzt war – immer wichtiger. Stolz darauf, dass er selber „von Bauern abstamme“, wie er schon vorher behauptet hatte,57 wollte er diese Haltung und die damit verbundene Einstellung zu einer stärkeren Naturverbundenheit und zugleich einem Sinn für kunsthandwerkliche Gediegenheit auch in der DDR propagieren. Wie im Hinblick auf seine Naturgedichte der Exiljahre sollte man das, wie gesagt, nicht mit einer neuromantischen Naturschwärmerei verwechseln. Brecht war weder ein bürgerlicher Naturtourist noch ein ökologisch gesinnter Grüner. Er wollte nicht im Walde still vor sich herwandeln, sondern sich lieber im Sinne der Konzeption einer naturgemäßen „Bewohnbarmachung der Erde“ an den Bäumen vor seinem Haus erfreuen.58
Demzufolge legte er bei seinen Bekenntnissen zur DDR, als einem „Staat der Arbeiter und Bauern“, den ideologischen Hauptakzent eher auf das Bäuerliche als auf das Proletarische. Dafür spricht unter anderem, wie intensiv er sich um eine Bearbeitung und Inszenierung von Erwin Strittmatters Bauerndrama Katzgraben (1953) bemühte,59 während er sein „Büsching“-Projekt, in dem es um den heroischen Einsatz des Maurers Hans Garbe beim Bau der Stalinallee gehen sollte, nach mehreren Ansätzen wieder aufgab. Und dafür spricht zugleich, wie energisch er sich 1952 – entgegen der kritischen Haltung einiger SED-Kulturfunktionäre – für eine Hochschätzung jener bäuerlichen Statuen Ernst Barlachs einsetzte, in denen dieser Künstler mit großer kunsthandwerklicher Fertigkeit den Gestalten dieser „so lange unterdrückten Klasse“ das „Monopol der Menschlichkeit“ verliehen habe.60
Was Brecht dabei besonders beeindruckte, war, wie gesagt, jene vorindustrielle Lebensweise, in der – trotz aller Unterdrückung – noch ein Sinn für Handwerklich-Gediegenes und zugleich Naturbezogenes geherrscht habe, der im Rahmen des heutigen Fabrikwesens mehr und mehr verlorengegangen sei. Aus den älteren Lebenszusammenhängen herausgerissen, spiele sich das Leben der gegenwärtigen Fabrikarbeiter, wie es in seinen Notizen zu „Arbeiter und bildende Kunst“ heißt, in einer völlig entnaturierten Welt ab, in der jeder Sinn für eine naturgemäße Lebens- und damit auch Herstellungsweise abhandengekommen sei.61
Doch Brecht wäre nicht Brecht, wenn er sich mit derartigen Lamentationen begnügt hätte. Er hielt auch oder gerade in der DDR an seiner Utopie fest, sich weiterhin für eine naturgemäßere „Bewohnbarmachung der Erde“ einzusetzen, in der man sich nachhaltig für eine Begrünung der Städte sowie eine kunsthandwerkliche Fertigung der täglichen Gebrauchsgüter bemühen würde, statt lediglich durch eine gesteigerte industrielle Massenproduktion die in der kapitalistischen Welt des Westens herrschende Konsumfreudigkeit einzuholen oder gar überbieten zu wollen. Nur das verstand er unter einem wahren Sozialismus, der sich – noch längst nicht verwirklicht – für eine bessere Integration von Mensch und Natur und eine damit verbundene sinnvollere Produktionsweise einsetzen würde.
Ob eine solche Haltung bereits auf das vorausweist, was heutzutage viele Menschen unter einem „ökologischen Bewusstsein“ verstehen, sei da hingestellt. Manches deutet schon in diese Richtung, aber weniger in einer Perspektive, welche die Schuld an der zunehmenden „Entnaturierung“ der uns umgebenden Mitwelt allein in der unaufhörlich fortschreitenden Industrialisierung, sondern – unter sozialistischer Perspektive – auch und vor allem in dem immer hektischer angekurbelten Konsumgetriebe der gegenwärtig herrschenden kapitalistisch arrangierten Market-driven Society sieht, in der sich die meisten Menschen nur noch „als Teilstück verschiedener Massen und als Zubehör des Marktgeschehens“ empfinden, wie es 2009 der Philosoph Gerd Irrlitz in seinem weit ausholenden Essay „Ästhetische Naturanschauung und philosophischer Naturbegriff bei Brecht“ formuliert hat.62 Und er schloss daraus im Hinblick auf die soziale Fragestellung, die sich aus all diesen Problemkomplexen und besonders aus Brechts Ablehnung der Anonymität des großstädtischen Lebens ergibt, mit dem dringlichen Statement:

Heute ist es fast Gemeingut politischer Rhetorik, zu sagen, dass wir das menschliche Leben bedrohen, wenn wir die Natur weiter so strangulieren. Brecht urteilte in entgegengesetzter Richtung. Weil wir die menschlichen Verhältnisse mit unmenschlicher Kälte gebildet haben, darum zerstören wir auch die uns lebensfähig machende Natur.63

1 Vgl. Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln, 2 Bde., Berlin 1986.
2 Vgl. Richter, Gerhard: „Plumpes Denken. Ein Brechtscher Begriff neu gedacht“, in: ders.:
Ästhetik des Ereignisses. Sprache – Geschichte – Medium, München 2005, S. 155–166, hier S. 155.
3 Vgl. meinen Aufsatz: „‚Der kaukasische Kreidekreis‘. Brechts utopischer Ort zwischen Partei und Volk“, in: Hermand, Jost: Die Toten schweigen nicht. Brecht-Aufsätze, Frankfurt a. M. 2010, S. 119–124.
4 Brecht, Bertolt: Tagebücher 1920–1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920–1954,
hrsg. von Herta Ramthun, Frankfurt a. M. 1975, S. 38.
5 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 1, hrsg. von Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M. 1967, S. 35 (im Folgenden mit Sigle GW plus Band und Seitenzahl angegeben).
6 GW 4, S. 209.
7 Vgl. Arendt, Christine: Natur und Liebe in der frühen Lyrik Brechts, Frankfurt a. M. 2001, S. 12.
8 GW 4, S. 261.
9 Ebd., S. 282.
10 Vgl. Koopmann, Helmut: „Großstadtdschungel und Raubtierwelt. Brecht geht freudig
nach Berlin“, in: Hillesheim, Jürgen (Hrsg.): „Man muß versuchen, sich einzurichten in
Deutschland!“ Brecht in den Zwanzigern, Würzburg 2015, S. 85–110.
11 GW 4, S. 269.
12 Brecht: Tagebücher, S. 213.
13 GW 4, S. 316 f.
14 Ebd., S. 475 ff.
15 Brecht: Tagebücher, S. 218.
16 Brecht, Bertolt: Briefe, Bd. 1, hrsg. von Günter Glaeser, Frankfurt a. M. 1981, S. 207.
17 GW 4, S. 418.
18 Ebd.
19 Ebd., S. 530.
20 Ebd., S. 723.
21 Ebd., S. 744.
22 Ebd., S. 579.
23 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal, Bd. 1, hrsg. von Werner Hecht, Frankfurt a. M. 1973, S. 54 [15. Juli 1939].
24 Ebd., S. 129 [5. Juli 1940].
25 Ebd., S. 132 [8. Juli 1940].
26 Ebd., S. 129 [5. Juli 1940].
27 Vgl. meinen Aufsatz: „Brecht in Hollywood“, in: Hermand: Die Toten schweigen nicht, S. 107–118.
28 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 1, S. 293 [9. August 1941].
29 Ebd., S. 303 [22. Oktober 1941].
30 Vgl. Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht, Bd. 2, S. 22 ff.
31 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 1, S. 469 [18. Juni 1942].
32 Ebd., S. 494 [16. Juli 1942].
33 Ebd.
34 Ebd., S. 480 [29. Juni 1942].
35 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 2, S. 509 [12. August 1942].
36 Ebd.
37 Ebd., S. 511 [14. August 1942].
38 GW 8, S. 851.
39 Ebd.
40 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 1, S. 392 [23. März 1942].
41 Ebd., S. 293 [9. August 1941].
42 GW 4, S. 878.
43 Ebd., S. 942.
44 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 1, S. 361 [19. Januar 1942].
45 Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 2, S. 826 [12. April 1948].
46 Ebd., S. 833 [11. Juni 1948].
47 GW 8, S. 867.
48 GW 4, S. 975.
49 Ebd., S. 1003.
50 Ebd., S. 1010.
51 Zit. nach: Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht, Bd. 2, S. 560.
52 Ebd., S. 558.
53 Ebd., S. 560.
54 GW 4, S. 1009.
55 Vgl. Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 2, S. 996 [26. November 1952].
56 Vgl. auch meinen Aufsatz: „Vom schonenden Umgang mit schönen Dingen. Einer von Brechts Vorschlägen zu Lebenskunst“, in: Hermand, Jost: „Das Ewig-Bürgerliche widert
mich an“. Brecht-Aufsätze, Berlin 2001, S. 274–285.
57 GW 4, S. 755.
58 Vgl. Müller, André/Semmer, Gerd (Hrsg.): Geschichten von Herrn B., Frankfurt a. M. 1967, S. 101.
59 Vgl. meinen Aufsatz: „Erwin Strittmatters Bauernkomödie ‚Katzgraben‘“, in: Hermand, Jost: Unerfüllte Hoffnungen. Rückblicke auf die Literatur der DDR, Oxford 2012,
S. 41–56.
60 GW 8, S. 516.
61 Vgl. ebd., S. 519 f.
62 Irrlitz, Gerd: „Ästhetische Naturanschauung und philosophischer Naturbegriff bei
Brecht“, in: Kleinschmidt, Sebastian (Hrsg.): Das Angesicht der Erde. Brechts Ästhetik der
Natur. Brecht-Tage 2008, Berlin 2009, S. 28–86, hier S. 79.
63 Ebd., S. 80.

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