Ästhetik und Gemeinsinn

Das unverminderte Faszinosum „Brecht“

von

I
Wer erinnert sich noch daran, was man nach dem Zusammenbruch des Nazifaschismus in der US-amerikanischen Besatzungszone unter „Kultur“ verstanden hat? Im Gegensatz zu heute, wo im Zuge der steigenden Wohlstandsvermehrung sogar von Ess-, Reise-, Fernseh-, Wohn- und Badezimmerkultur die Rede ist, galt damals innerhalb der meinungsbestimmenden Bevölkerungsschichten nur das als „Kultur“, was einen „höheren Anspruch“ vertrat, also Dramen, Gedichte, hochstilisierte Romane, Opern, Symphonien, Kammermusikwerke, Ölgemälde oder Skulpturen, mit denen das zutiefst gedemütigte Bildungsbürgertum den als „kulturlos“ hingestellten „Amis“ beweisen wollte, dass es in der deutschen Vergangenheit nicht nur eine auf das Dritte Reich zusteuernde Populärkultur, sondern auch eine geradezu überbordende Fülle klassisch-romantischer sowie religiöser Werke gegeben habe, die zu den bedeutendsten Zeugnissen des Weltkulturerbes gehörten.1
Dementsprechend wurden „wir“, womit die 4,5 Prozent jener bildungsmäßig privilegierten Oberschüler gemeint sind, die damals wie ich in Kassel, der nördlichsten Stadt der US-amerikanischen Besatzungszone, lebten, in den Jahren 1946 bis 1950 ständig dazu angehalten, keine Aufführung von Goethes Iphigenie auf Tauris, Lessings Nathan der Weise, Mozarts Zauberflöte, Beethovens Fidelio, Wagners Tannhäuser, Pfitzners Kantate Von deutscher Seele oder Bachs Matthäuspassion zu versäumen, alle Symphoniekonzerte mit klassisch-romantischer Musik zu besuchen, Dramen von Goethe, Schiller und Kleist zu lesen, Werke von Heinrich Schütz, Leonhard Lechner und Michael Praetorius zu singen und in den Schulferien an sogenannten Musischen Lehrgängen teilzunehmen, wo wir Zeichenunterricht erhielten, Laienspiele aufführten, Gedichte schrieben sowie Bach-Motetten und das Mörike-Chorliederbuch von Hugo Distler einstudierten.
Damit wurde auch in uns jener für diese Zeit bezeichnende „Hochkulturhunger“ geweckt, der einen elitär gesinnten Kulturphilosophen wie Theodor W. Adorno zutiefst beglückte, als er 1948 aus den von ihm ebenfalls als „kulturlos“ bezeichneten, das heißt einer faschistoiden Massenmedienindustrie frönenden Vereinigten Staaten nach Frankfurt zurückkehrte. Demzufolge spielte ich damals nicht nur Klavier, sondern nahm zugleich an Abendkursen der Kasseler Malakademie teil, schrieb Gedichte im Stil Hölderlins, Rilkes und Hesses, trat 1949 als Abiturient in der Titelrolle von Goethes Drama Des Epimenides Erwachen auf und begann sogar, selber Dramen zu schreiben.2 Allerdings ging mir und meinen Klassenkameraden dabei nicht auf, dass all dies eine geradezu nahtlose Weiterführung jener bildungsbürgerlichen Inneren Emigration war, mit der schon die Nazifaschisten die „unvergleichliche Größe“ der älteren deutschen Kultur herausgestrichen hatten, um die kulturbewusste Oberschicht von ihren ins Auge gefassten Fernzielen abzulenken. Noch viel zu jung und uns ideologisch bedenkenlos in die Hochkultur der Vergangenheit vertiefend, begriffen wir von dem, was sonst um uns herum auf politischer und sozioökonomischer Ebene vor sich ging, fast nichts. Und es gab auch niemanden, weder in der Schule noch sonst wo, der uns darauf hingewiesen hätte.
Und daran änderte sich auch zu Beginn unserer Marburger Studienzeit, als wir – vor allem die kulturbesessenen Geisteswissenschaftler unter uns – ab 1950 die sogenannte „moderne“ Kunst zu entdecken begannen, kaum etwas. Jetzt waren es plötzlich im Bereich der Literatur nicht mehr Hölderlins „Schicksalslied“, Rilkes „Sonette an Orpheus“ oder Hesses Glasperlenspiel, die uns in ihren Bann zogen, sondern die Werke Franz Kafkas, Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, der Doktor Faustus von Thomas Mann, ja sogar die Romane von James Joyce, Marcel Proust und Italo Svevo, die wir in deutschen Übersetzungen lasen. Als Lyriker faszinierte uns vor allem Gottfried Benn, dessen Gedichte wir – nach seinem im August 1951 im Marburger Auditorium maximum gehaltenen Vortrag „Probleme der Lyrik“ – geradezu sklavisch nachzuahmen versuchten.3
Was uns an diesen Werken anzog, war vornehmlich das Elitäre, Modernistische, Ästhetisch-Subtile, sich vom „pöbelhaften“ Geschmack der sogenannten „breiten Massen“ Absondernde, während wir irgendwelchen ins gesellschaftliche Leben „eingreifenden“ Tendenzen keinerlei Beachtung schenkten. Überhaupt blieb alles Politische wie auch alles Populäre weitgehend außerhalb unseres Gesichtskreises. Weder die Realien der Vergangenheit noch die Realien der Gegenwart interessierten uns. Ob nun Adolf Hitler oder Konrad Adenauer: all das war uns „Hekuba“, wie es bei Shakespeare heißt. Wir lebten als angehende Neugermanisten fast ausschließlich im Haus der hohen Kultur, fühlten uns als die Elite der Nation und waren nur an Dingen interessiert, in denen wir eine höchstmögliche ästhetische Perfektion sowie ein gesellschaftliches Außenseitertum aufzuspüren glaubten.
Ich kann mich daher nicht entsinnen, dass wir uns als Marburger Studenten jemals über Politik unterhalten hätten. Nicht einmal unsere eigenen Erlebnisse im Dritten Reich, ob nun in der Hitler-Jugend, den KLV-Lagern oder den Bombennächten, beschäftigten uns mehr. Die meisten von uns blieben bis 1956 hochgebildete Schöngeister ohne jedes Interesse an irgendeiner „Vergangenheitsbewältigung“. Was scherten uns Auschwitz, die Reichsparteitage, die Aufmärsche der SS, die Germanisierung des Warthegaus oder die Liquidierung der KPD, solange es eine „Klassik“ und einen „High Modernism“ gab? Alles andere überließen wir den sogenannten Ungebildeten innerhalb der unteren achtzig bis neunzig Prozent der westdeutschen Bevölkerung, die sich – in unserer Sicht – von den banalen Parolen der neu gegründeten Parteien einfangen ließen und sich ansonsten jenen „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ hingaben, welche ihnen in Form der schon im Dritten Reich äußerst beliebten Schlagerschnulzen, Heimatfilme und Tanzrhythmen sowie von der sich allmählich entwickelnden westdeutschen Unterhaltungsindustrie beziehungsweise den US-amerikanischen Entertainmentkonzernen geboten wurden.
Aufgrund dieser Einstellung plante ich 1952/53 als 22-Jähriger, meine Doktorarbeit über die Rolle der klassischen und modernistischen Musik in Thomas Manns Roman Doktor Faustus zu schreiben, konnte aber keinen Neugermanisten finden, der ein solches Thema für „dissertationswürdig“ hielt.4 Dass diese Professoren zumeist ehemalige Nazis waren und daher in Mann nach wie vor insgeheim einen „Vaterlandsverräter“ sahen, ging mir, da ich damals für solche Zusammenhänge noch gar keinen Blick besaß, erst viel später auf. Derartige „Statthalter des deutschen Geistes“, wie sie sich selber nannten, hielten zu diesem Zeitpunkt unter den noch lebenden deutschen Autoren lediglich Edelnazis wie Ernst Jünger und Gottfried Benn für lesenswert. Dass es irgendwo im Osten, das heißt jenseits der Zonengrenze, auch eine andere deutsche Literatur gab, ja, dass man dort Stücke von Bertolt Brecht und Friedrich Wolf aufführte sowie Romane von Bruno Apitz, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Anna Seghers und Arnold Zweig las, davon wussten wir nichts. Diese Literatur wurde nicht einmal kritisiert, sondern einfach totgeschwiegen, was meist viel wirksamer ist. Und falls man solche Autoren und Autorinnen überhaupt erwähnte, galten sie weitgehend als „ideologische Handlanger jenes Schinderregimes in der Sowjetzone“, wie sich einige BRD-Feuilletonisten ausdrückten, denen man unter ästhetischer Perspektive keine Beachtung zu schenken brauche.
Das einzige „politische“ Drama, das damals in Marburg über die Bühne ging, war Georg Büchners Dantons Tod. Da es als wildes expressionistisches Stück aufgeführt wurde, bei dem zwanzig im Publikum verteilte Komparsen die Marburger Stadtsäle in den französischen Nationalkonvent zu verwandeln suchten, konnten wir mit dieser Form der Inszenierung sowie der politischen Botschaft des Ganzen wenig anfangen. Als mir Jahre später der Programmzettel dieser Aufführung wieder in die Hände fiel, sah ich zu meinem Erstaunen, dass die Regie kein Geringerer als Erwin Piscator geführt hatte, der in den fünfziger Jahren – als ein aus dem Exil zurückgekehrter „Linker“ – offenbar im Klima des Kalten Kriegs fast nur in westdeutschen Provinzstädten wie Marburg Theater machen durfte. Ein solcher Name sagte mir 1952 noch gar nichts. Selbst wenn auf dem Programmzettel „Regie: Bertolt Brecht“ gestanden hätte, hätte mir das nichts bedeutet.
Und auch als ich 1953/54 dazu verdonnert wurde, meine Dissertation nicht über Thomas Mann, sondern über „Die literarische Formenwelt des Biedermeiers“, also die konservativ gesinnte Metternichsche Restaurationsperiode, zu schreiben, ahnte ich noch nicht, dass man die Zeit zwischen 1815 und 1848 damals in der DDR als die Ära des deutschen Vormärz bezeichnete, um somit den Hauptakzent vor allem auf die liberal- oder radi kaldemokratischen Tendenzen innerhalb dieser Epoche zu legen. Auch dass die Adenauersche Restaurationsperiode, wie sie später von manchen westdeutschen Historikern genannt wurde, zu diesem Zeitpunkt in untergründiger Parallele häufig mit der Metternich-Ära verglichen wurde, war mir nicht bewusst. Ja, selbst die anderen 15 Doktoranden, die in den folgenden Jahren bei dem gleichen Neugermanisten über die Literatur der Biedermeierzeit promovierten, nahmen sicher noch nicht an, dass man sie damit von irgendwelchen linksliberalen oder gar sozialistischen Anschauungen fernzuhalten versuchte.

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