Grenzenlos
75 Jahre Saarländisches Staatstheater
Herausgegeben von Harald Müller und Dagmar Schlingmann
Paperback mit 208 Seiten, Format: 230 x 270 mm
ISBN 978-3-943881-57-8
Als am 9. Oktober 1938 mit Wagners „Fliegendem Holländer" der neue Theaterbau in Saarbrücken eröffnet wurde standen die Zeichen nicht gut für die Theaterkunst. Ein „Bollwerk deutscher Kultur", so Goebbels, sollte das Saarbrücker Theater direkt an der französischen Grenze werden. Doch schon ein Jahr nach der Eröffnung war erst einmal Schluss, die Stadt wurde evakuiert, 1942 fielen die ersten Bomben auf das Theater. Kurz nach Kriegsende spielten deutsche und französische Musiker wieder gemeinsam auf der Bühne des Theaters ...
Die Grenze ist in Saarbrücken spürbar. Vielleicht ist das der Grund, warum hier grenzüberschreitende Kooperationen leichtfallen. Dem legendären Intendanten Hermann Wedekind gelang es, in den siebziger Jahren über den eisernen Vorhang hinweg eine Theaterpartnerschaft mit Georgien zu begründen. Heute arbeitet das Saarländische Staatstheater in mehreren internationalen Netzwerken, so z. B. bei „Total Théâtre", einer Zusammenarbeit von Theatern in Luxemburg, Belgien und Frankreich.
Das Jubiläumsbuch des Saarländischen Staatstheaters macht die Grenze zum Thema. Die Entstehung des Theaters und das kulturpolitische Programm der NS-Zeit stehen auf der einen Seite - die Öffnung des Theaters zu einem Theater im Herzen Europas auf der anderen. Das Buch wirft Schlaglichter auf 75 Jahre wechselvoller Theatergeschichte.
Wie feiert man das Jubiläum eines Hauses, das ursprünglich Herberge sein sollte für nationalsozialistisches Gedankengut? Wie feiert man das Jubiläum eines Hauses, zu dessen Eröffnung Adolf Hitler und Joseph Goebbels eigens angereist sind? Wie feiert man das Jubiläum eines Hauses, das rein optisch nicht verbergen kann, wessen Geistes Kind sein Architekt war? Diese Frage haben wir uns immer wieder gestellt. Darauf gibt es nur eine Antwort: Indem wir die Anfangsgeschichte des Hauses aufarbeiten und auf den folgenden Seiten dokumentieren. Wir haben uns entschieden, uns mit der Vergangenheit dieses Theaters auseinanderzusetzen, dem fragwürdigen Jubiläum nicht aus dem Weg zu gehen, sondern aus der Geschichte heraus auch unsere Arbeit zu reflektieren.
Schnell wird der Leser feststellen, dass die Ideologie, die das Haus zu einem Bollwerk gegen einen vermeintlichen Kulturbolschewismus machen wollte, nicht sehr lange zum Zuge kam. Die Evakuierungen 1939 und 1944, dann die Bombardierungen 1942 und 1944/45 haben einen Spielbetrieb rasch unmöglich gemacht. Eindrucksvoll dokumentiert wird diese Geschichte durch die Fotoserie auf den Seiten 42– 47. Ein Bilderkonvolut ungewisser Herkunft von insgesamt ca. 600 Aufnahmen, das von unseren Technikern vor einigen Jahren vor der achtlosen Entsorgung gerettet wurde, zeigt hier von der Planung bis zur Eröffnung am 9. Oktober 1938 sämtliche Bauphasen des Theaters – ebenso wie seine Zerstörung durch den Bombenangriff in der Nacht des 29. Juli 1942. Im Bild des zerstörten Kronleuchters sieht man, wie mit den hunderten von Kristallen auch die Allmachtsfantasien der Nationalsozialisten zerborsten sind.
Man muss daran erinnern, dass mit der Saarabstimmung 1935 ein Kapitel saarländischer Theatergeschichte zu Ende ging, eine Zeit des langsamen Wachsens bis zu einer ers ten Blüte Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre. Maßgeblich für den Glanz dieser Zeit war auch der jüdische Generalmusikdirektor Felix Lederer, dem wie allen jüdischen Theatermitgliedern 1935 innerhalb kürzester Zeit die Existenzgrundlage entzogen wurde. Von einem jüdischen Konzertmeister, Alexander Schneider, der 1933 von Hamburg in die USA emigrierte, veröffentlichen wir hier ein berührendes Zeugnis über seine Saarbrücker Zeit Ende der zwanziger Jahre. Nur wenig wissen wir über das Schicksal der meisten anderen jüdischen Theaterkünstler, lautlos verschwanden sie aus dem Theater und aus dem Leben der Stadt. Nach dem Wiederaufbau in den Jahren 1945 – 1948 blieb die äußere Hülle zwar weitestgehend gleich, aber die Inhalte haben sich seitdem deutlich geändert. Kaum überraschend ist, dass sich die wechselvolle Geschichte des Saarlandes im Theater spiegelt. Einzigartig sind in den fünfziger Jahren die französischen Einflüsse und Impulse, die zahlreichen Gastspiele von Stars wie Maurice Béjart und Jean-Louis Barrault, die tiefen Eindruck auf Zuschauer wie Theatermacher in Saarbrücken gemacht haben. Umgekehrt gehört das Gastspiel unseres Theaters in Paris mit „Arabella“ und „Peer Gynt“ 1952 mit der blutjungen Leonie Rysanek zu einem der Höhepunkte unserer Theatergeschichte.
Eine neue Ära läutete in den Sechzigern Hermann Wedekind ein. Er stand für ein Theater, das alle Grenzen überwinden kann. Die Brücke nach Georgien, die er zu Zeiten des kalten Krieges geschlagen hat, wird immer im Gedächtnis unseres Theaters bleiben. Wedekinds Leidenschaft für das Theater als völkerverbindende Kunst setzte dem ursprünglichen Auftrag des Theaters endgültig ein Ende und ist uns auch jetzt Verpflichtung für unsere Arbeit.
Neugier und Offenheit sind für das Saarländische Staatstheater heute wesentlich. Wir arbeiten ganz selbstverständlich in internationalen Netzwerken und über die Grenzen hinweg gemeinsam mit Künstlern aus aller Welt. Menschen aus 34 Nationen sind an unserem Theater beschäftigt und prägen mit ihrer kulturellen Identität unsere Kunst. Eine Kunst, die sich der Toleranz und gesellschaftlichen Relevanz verpflichtet fühlt. Wir haben einige unserer Kollegen und Autoren eingeladen, für dieses Buch ihren Blick auf das Theater, auf Saarbrücken zu formulieren. Entstanden ist so ein Mosaik eines Theaters im Herzen Europas. In bewusster Erinnerung an die dunkle Entstehungszeit dieses Theaterbaus, im tiefen Gedenken an die ehemaligen Ensemblemitglieder, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden, möchten wir gemeinsam mit unserem Publikum weiter daran arbeiten, die lebendige Gegenwart dieses Hauses als eine Zeit der Menschlichkeit und Aufgeschlossenheit zu bewahren.
Dagmar Schlingmann
Generalintendantin des Saarländischen Staatstheaters
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Grußwortvon Annegret Kramp-Karrenbauer | Seite 7 |
Zum Geleitvon Ulrich Commerçon | Seite 8 |
I. Die Instrumentalisierung der Kunst | |
Blicke ins DunkelFacetten des Führertheaters 1938 bis 1944von Alexander Jansen | Seite 20 |
Saarbrücken 1929Aus den Erinnerungen eines jüdischen Konzertmeisters. (Deutsch von Wolfgang Heuss, Ursula Thinnes und Peter Ziegler)von Alexander Schneider | Seite 39 |
Aufbau und Zerstörung 1936 bis 1942Eine Dokumentation in Bildern | Seite 42 |
II. Der Rückweg nach Europa | |
Aufbruch nach 1945von Ursula Thinnes | Seite 50 |
August Johann DrescherDer Versuch einer Annäherung an ein Leben im Nachlassvon Bettina Hanstein | Seite 58 |
Weltoffenheit – Unterhaltung mit HaltungDas Saarbrücker Theater unter Hermann Wedekind und Kurt Josef Schildknechtvon Holger Schröder | Seite 62 |
III. Theater im Herzen Europas | |
G – r – e – n – z – e – n – l – o – sStichworte zu einem Theater im Herzen Europasvon Dagmar Schlingmann | Seite 78 |
Musiktheater in <echtzeit>von Berthold Schneider | Seite 90 |
Theater für alle – aber wie?von Ursula Thinnes | Seite 98 |
Im halben Schritttempo voranTotal Théâtre – Theaterarbeit zwischen Mittel- und Westeuropavon Andreas Wagner | Seite 104 |
Pile et face / Kopf und Zahlvon Frédéric Simon | Seite 106 |
Saarsarre / Sarresaarvon Gustave Akakpo | Seite 108 |
La princesse sans souci / Die sorglose Prinzessinvon Marion Aubert | Seite 110 |
Musique / Musikvon Philippe Malone | Seite 112 |
Arrivé à Saarbrücken ... / Angekommen in Saarbrücken ...von William Pellier | Seite 114 |
Eine tolle Geschichtevon Felicia Zeller | Seite 117 |
Keine Integration mehr, bitte!von Nino Haratischwili | Seite 118 |
Grenzenlos – Die Entwicklung des Tanzes in Saarbrückenvon Anja von Witzler | Seite 120 |
Abenteuer Bühnentechnikvon Matthias Almstedt | Seite 130 |
IV. Chronik | |
1938 – 2013 | Seite 143 |
Bildnachweis | Seite 206 |
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