Theater HORA
Der einzige Unterschied zwischen uns und Salvador Dalí ist, dass wir nicht Dalí sind
Herausgegeben von Marcel Bugiel und Michael Elber
Klappen-Broschur mit 672 Seiten, Format: 230 x 270 mm
ISBN 978-3-943881-76-9
- Inkl. Film-DVD mit Praxis-Vorführungen und Theatertrainings
„Da sah ich plötzlich den Nachwuchs, die Zukunft.“ Thomas Thieme bei der Übergabe des Alfred-Kerr-Darstellerpreises an die HORA-Schauspielerin Julia Häusermann, 2013
Das Theater HORA aus Zürich ist spätestens seit der Produktion „Disabled Theater“, die in Zusammenarbeit mit dem französischen Star-Choreografen Jérôme Bel entstanden ist und 2013 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, auch überregional in aller Munde. Dennoch haben nur wenige Menschen eine konkrete Vorstellung davon, wie die Theaterarbeit mit „geistig behinderten“ Schauspielern in der Praxis eigentlich aussieht.
Die ungewöhnlich frei wirkende Spielweise der HORA-Performer hat durchaus Methode, und die Sonderrolle, die das Theater HORA auch im Kontext integrativer Theaterarbeit einnimmt, hat maßgeblich mit der Philosophie des Theater-Außenseiters Michael Elber zu tun. Er hat „das HORA“ 1993 gegründet und in den zwanzig Jahren seines Bestehens maßgeblich geprägt. Wie aus einem Theaterkurs in einem Züricher Wohnheim für geistig behinderte Frauen ein mittlerweile weltweit tourendes Theaterunternehmen wurde, vermittelt dieses Buch in Bildern, Gesprächen, Werkstattberichten, Praxisanleitungen, Erinnerungen, Karten und zahlreichen Dokumenten aus dem HORA-Archiv. Beigelegt ist eine DVD u. a. mit Praxis-Vorführungen von Michael Elbers Theatertraining und Videoschnipseln aus 20 Jahren Theater HORA.
Der einzige Unterschied zwischen mir und einem Verrückten ist, dass ich nicht verrückt bin.
Salvador Dalí
Der einzige Unterschied zwischen uns und Salvador Dalí ist, dass wir nicht Dalí sind.
Theater HORA
Am Sonntag, dem 2. März 1991, sieht der 33-jährige Zürcher Theaterpädagoge Michael Elber im Theaterhaus Gessnerallee ein Stück, das ihm den Anstoss zu etwas gibt, das die nächsten 23 Jahre seines Lebens – und dazu das Leben nicht weniger anderer Leute – massgeblich mitbestimmen wird: Er sieht die Produktion «Im Stehen sitzt es sich besser» des frisch gegründeten Theaters Thikwa aus Berlin, eine «Kaspar Hauser»-Adaption, deren Titelrolle auf geradezu kongeniale Weise von einem Mann mit Downsyndrom verkörpert wird. Elber, der sich bis dahin in seinem Leben von verschiedenen Interessen hat treiben lassen, mal als Koch und mal als Lehrer, mal als Freiwilliger im Erdbebengebiet gearbeitet und gerade als Theaterpädagoge einen Theaterkurs in einem Wohnheim für «geistig behinderte» Frauen abgeschlossen hat, hat ein Aha-Erlebnis sondergleichen: Wenn man die Sache richtig angeht, können Menschen mit einer «geistigen Behinderung» auf einer Theaterbühne Dinge leisten, an die kein nichtbehinderter Profischauspieler auch nur ansatzweise herankommt. Er beschliesst, zum Wohnheim zurückzukehren, mit den Frauen dort ebenfalls eine «richtige» Inszenierung in Angriff zu nehmen und, davon ausgehend, eine eigene Theatergruppe zu gründen, deren Ensemble aus «geistig behinderten» Schauspielerinnen und Schauspielern besteht: das Theater HORA.
In Zürich war «das HORA» praktisch aus dem Stand heraus, gleich mit der ersten Inszenierung, so etwas wie eine Institution. Spätestens seit seiner Zusammenarbeit mit Jérôme Bel und der Produktion DISABLED THEATER (2012) und der damit verbundenen Einladung zum Berliner Theatertreffen ist es auch international vielen ein Begriff. Und doch haben die wenigsten eine konkretere Vorstellung davon, wie so etwas funktionieren kann: ein Profitheater, dessen Ensemblemitglieder allesamt eine «geistige Behinderung » haben. Um zu verstehen, wie das bei Theater HORA funktioniert, dafür gibt es dieses Buch.
Wäre Elber auch nur ein bisschen weniger hartnäckig, kampfeslustig, grössenwahnsinnig, dickköpfig, wagemutig, leidenschaftlich, unermüdlich, von seiner Idee geradezu besessen gewesen, sein Theater hätte vermutlich niemals, wie im Juni 2013 geschehen, seinen 20. Geburtstag erlebt. Denn die Theaterwelt, wie wir sie kennen (das sogenannte experimentelle Theater inbegriffen), ist ein weitgehend geschlossenes, von Codes und Konventionen, strengen Aufnahmebedingungen und gnadenlosen Ausschlussmechanismen geprägtes System, eine Form der Normalität, die weniger ein Gegenmodell zur herrschenden gesellschaftlichen Normalität ist als ihr Spiegel. Und Menschen mit einer «geistigen Behinderung», die die Standards der Gesellschaft per Definition nicht erfüllen, sind in dieser Welt – lassen wir den Amateurtheaterbereich einmal aussen vor – erst einmal nicht vorgesehen (und das sehen die meisten Behindertenbeauftragten übrigens nicht viel anders als die Lobbyisten des konventionellen Theaters). Von Anfang an stand Elbers Vorhaben deshalb unter einem ziemlich hohen Beweisdruck.
Ginge es nach ihm, würde dieses Buch vor allem eines tun: die Geschichte der ersten zwanzig Jahre dieses Theaters als eine schier unendliche Aneinanderreihung von dramatischen Behinderungen auf dem Weg zum Erfolg erzählen, von zwischenmenschlichen Konflikten und Tragödien auf allen Ebenen, befeuert durch oft seitenlange, hochemotionale Briefe und E-Mails, von Nervenzusammenbrüchen und wüsten Beschimpfungen, Schauspielerinnen und Schauspielern, die mit brennenden Zigaretten in der Hosentasche auf der Bühne stehen oder sich bei Wutanfällen die Faust an der Wand blutig schlagen, von Liebesglück und Liebesleid, chronischer Arbeitsüberlastung, vollen Hosen, Mord und Feueralarm, von überraschenden Preisgewinnen, Gerichtsklagen, von epileptischen Anfällen, plötzlichem Gedächtnisverlust und Bandscheibenvorfällen, von Fluchtversuchen, Wohnungsräumungen, Hausabbrüchen, Diebstahl, Euphorie und Ermüdung, von Oscar-Preisen und Laudationen, von Whiskyorgien und Diätverordnungen, Kopulationen auf der Hinterbühne, Tiefschlägen und Höhenflügen aller Art – eine Geschichte, in der Berufliches und Privates nur selten voneinander zu trennen sind, weder auf der Bühne noch hinter den Kulissen. Bruchstücke davon finden sich in dem Kapitel «Theater HORA – Die unendliche Geschichte» und verstreut in den Gesprächen. Doch es sind wirklich nur Bruchstücke (mehr dazu im PS).
Die Geschichte dieses Theaters ist mehr: Es ist die Geschichte einer unermüdlichen Suche danach, womit, warum und auf welchen Wegen Menschen mit einer «geistigen Behinderung» mit dem, was sie sind und können, den regulären Kulturbetrieb bereichern können. Es ist die Geschichte eines Forschungsprojekts, das bis heute nicht abgeschlossen ist. So ist ein Grossteil dieses Buches der HORA-Praxis gewidmet, von der es in langen Werkstattgesprächen und Gastbeiträgen, in Bildern, Übungen und Dokumenten sowie in einem vom HORA-Ensemble eigens zusammengestellten Theaterlexikon ein Bild zu geben versucht. Allen, denen das Lesen langer und komplizierter Texte schwerfällt, dienen die Zusammenfassungen in leichter Sprache, die Anne Leichtfuß vom Bonner Magazin Ohrenkuss erstellt hat und die den meisten Textbeiträgen vorangestellt sind.
Unser Dank gilt allen, die dazu beigetragen haben, dieses Buch zustande zu bringen. Allen voran Giancarlo Marinucci, der es auf sehr grosszügige Weise möglich gemacht hat, Urs Beeler, Nele Jahnke und Roli Strobel für ihre unverzichtbare Mithilfe, den Autorinnen und Autoren, Fotografinnen und Fotografen für ihre Texte und Bilder, den zahlreichen oftmals ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf ganz verschiedenen Ebenen, Sarah Marinucci für ihre mitunter geradezu lebensnotwendige Unterstützung, Jana Fröbel für das freundliche und kompetente Lektorat, Gudrun Peschel für das sehr schöne Layout und Caro, Marlon und Maurice, Lena, Luise und Rosa für ihre unendliche Geduld und sowieso für einfach alles. Ausserdem danken wir natürlich allen finanziellen Unterstützern, allen voran den Mitgliedern des Vereins Theater HORA.
Michael Elber, der das Theater HORA bis heute massgeblich prägt, ist so etwas wie der rote Faden, der sich durch dieses Buch zieht. Seine mitunter unorthodoxe Theaterphilosophie gehört für mich nach wie vor zum Interessantesten und Erfrischendsten, was auf dem Gebiet des «integrativen Theaters» zu finden ist. Ohne ihn, seine Begeisterungsfähigkeit, seine Begabung, Gelder aufzutreiben auch für Dinge, die erst einmal alle mit Skepsis sehen, seine Grosszügigkeit, Projekte auch dann noch mit anderen zu teilen, wenn er nicht in jedem Punkt damit einverstanden ist, sein mitunter geradezu blindes Vertrauen, sein gigantisches (wenn auch nicht bis ins Letzte geordnetes) Archiv, ohne all das würde es nicht nur das Theater, sondern auch dieses Buch nicht geben. Dass er in ihm prominenter vertreten ist als viele andere, die massgeblich zu seiner Geschichte beigetragen haben, möge man deshalb verzeihen.
Gewidmet ist es den Schauspielerinnen und Schauspielern, den heutigen und den ehemaligen. Um sie geht es letztendlich im HORA, das Michael Elber nur aus diesem einen Grund gegründet hat: weil er Lust hatte, mit ihnen Theater zu machen.
Marcel Bugiel
PS: Michael Elber wäre nicht Michael Elber, wären ihm die im Rahmen dieses Buchprojekts gesammelten HORA-Erinnerungen und Anekdoten auch nur annähernd genug. Deshalb fordert er hiermit alle Leserinnen und Leser, Nichtleserinnen und Nichtleser dieses Buchs auf, ihm an die Adresse theater@hora.ch ihre eigene, persönliche stärkste HORA-Erinnerung zu schreiben. Schon wo und wie sie zum Beispiel das erste Mal mit HORA in Berührung kamen, interessiert ihn. Jeder, der ihm von einem wundervollen oder schmerzhaften oder lustigen oder dramatischen oder auch ganz und gar lapidaren Erlebnis mit HORA berichtet – verspricht er –, wird reich belohnt: mit dem inzwischen einige hundert Seiten dicken Manuskript der unendlichen, emotionalen Geschichte von Theater HORA – dem Teil, der hier keinen Platz mehr hatte. Inklusive der selber beigetragenen Geschichte.
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Die unendliche Geschichte20 Jahre Theater HORA | Seite 8 |
Zürich, Juni 201321 Porträts von Michael Bause (Fotos) und Anne Leichtfuß (Texte)von Michael Bause und Anne Leichtfuß | Seite 11 |
HORA-Praxis. Theater | |
Theaterlexikon | Seite 58 |
33 HORA-Produktionen | Seite 75 |
Gespräch über das Handwerk des «Behindertentheaterregisseurs»von Marcel Bugiel und Michael Elber | Seite 124 |
Ein imperfektes Theater in der imperfekten Kritikvon Daniele Muscionico | Seite 138 |
HORA-Praxis. Musik | |
Plattentaufe der HORA’BAND-CD RAUMSCHIFF HORAFotos von Mischa Scherrer | Seite 146 |
Die HORA’BANDvon Esther Banz | Seite 152 |
Wissenswertes für die Veranstalter eines Konzertes mit der HORA’BAND | Seite 159 |
Die HORA’BAND-MitgliederFotos von Zoé Tempest und Mischa Scherrer | Seite 160 |
Gespräch mit der HORA’BANDvon Marcel Bugiel, Michael Elber, Sandra Grande, Enrico Rizzi, Denise Wick Ross, Roli Strobel und Ibi Yildiz | Seite 174 |
HORA-Praxis. Nullimprovisation | |
Die Lust am ScheiternProtokoll einer Aufführung 2003 im Theater im Bahnhof in Graz | Seite 196 |
Stundenpolaroidsder ersten 24-Stunden-Version von Die Lust am Scheitern, 2000 in Zürich | Seite 214 |
Gespräch über Die Lust am Scheiternam 26. Januar 2013, nachmittags, im Fabriktheater der Roten Fabrik, Zürichvon Beat Fäh, Chris Weinheimer, Marcel Bugiel, Michael Elber, Remo Beuggert, Matthias Brücker, Sebastian Gramss, Matthias Grandjean, Sara Hess, Carl Ludwig Hübsch, Peter Keller, Giancarlo Marinucci, Lorraine Meier und Ole Schmidt | Seite 224 |
Basistrainingvon Michael Elber | Seite 246 |
HORA-Praxis. Schauspieler/-innen | |
Fotos aus 20 Jahren | Seite 279 |
Die HORA-Schauspiel-Berufsausbildung für Menschen mit Beeinträchtigungenvon Urs Beeler | Seite 344 |
Gespräch über «geistig behinderte» Schauspieler/-innen und ihre Ausbildungam 29. Mai 2013 im Casino-Saal Aussersihl, Zürichvon Enrico Beeler, Marcel Bugiel, Michael Elber und Giancarlo Marinucci | Seite 348 |
HORA-Praxis. Disabled Theater und die Folgen | |
Disabled Theatervon Jérôme Bel | Seite 370 |
«Wen von uns beiden schauen Sie an?»von Yvonne Schmidt | Seite 374 |
Gespräch über Disabled Theateram 30. Mai 2013, im Anschluss an die Vorstellung von DISABLED THEATER im Rahmen des internationalen Theaterfestivals OKKUPATION! in der Aktionshalle der Roten Fabrik, Zürichvon Benjamin Wihstutz, Daniele Muscionico, Gerald Siegmund, Sandra Umathum und Gisela Höhne | Seite 384 |
Theater HORA in KoreaFotos von Jörg Brüggemann / Ostkreuzl | Seite 399 |
Horavon Thomas Thieme | Seite 422 |
Theater HORA – Die unendliche Geschichte | Seite 428 |
Chronik | |
HORA-Archiv | |
Theater HORA in der deutschsprachigen PresseVon 1993 bis Juni 2013. Redaktion: Sarah Marinucci | Seite 517 |
HORA-ProjekteVon 1993 bis Juni 2013 | Seite 635 |
Hora-Orte | Seite 652 |
Verein Theater HORA | Seite 656 |
Theater HORA wäre nicht das, was es ist, ohne ... | Seite 657 |
Unterstützer/-innen von Theater HORAVon 1993 bis Juni 2013 | Seite 660 |
Epilogvon Chris Weinheimer | Seite 664 |
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