Theater und Demokratie

Wider die Trennung von Staat und Gesellschaft. Zum 100. Geburtstag von Helmut Ridder

von

I. ALTE GESCHICHTEN UND GRÜNDUNGSMYTHEN

»Schaustätte« bedeutet der auf das altgriechische Wort théatron zurückgehende Begriff »Theater«.1 Vor allem die naturalistische Theaterliteratur ging davon aus, dass es als »Spiegel der Gesellschaft« wirken könne, wenn es »Beziehungen zwischen Menschen, ihrer Umwelt und ihrer Umgebung« darstellt. »Es wirkt, indem es Zusammenhänge oder bekannte Situationen öffentlich mache, ihnen einen Ort gibt und sie zur Schau stellt. Demzufolge kann Theater unterschiedlich ambitioniert sein und verschiedensten Motivationen folgen.«2 Es kann aber auch benutzt werden von Politik oder Kommerz, von der Lust auf Unterhaltung oder ganz anders, als ein Instrument bei Teambildungen von Managern, Familienaufstellungen oder allgemein an ihrer Geschichte interessierten Menschen.

Ist Theater deshalb auch politisch? Fördert Theater gar die demokratische Idee? Gibt es einen alten Zusammenhang zwischen Politik und Theater? Im antiken Griechenland war es »nicht nur ein Ort für Feste und Zeremonien«, sondern »auch der Ort, an dem man sich zusammenfand und über Demokratie und Politik diskutierte.«3 Vor allem geschah etwas, was wir heute vermissen, inhaltliche Entwürfe von Staat und Gesellschaft wurden gefertigt und diskutiert. 458 Jahre vor Christus, mit der Erstaufführung der »Orestie« von Aischylos, wird auch die Geburtsstunde der Demokratie vermerkt.

Agamemnon braucht günstige Winde, um nach Troja zu gelangen, und opfert dafür seine Tochter Iphigenie. Aus Rache tötet ihn seine Frau Klytaimnestra. Orestes aber, der Sohn, muss den Mord am Vater rächen und zieht so den Zorn der Erinnyen auf sich. Aischylos’ Stück erzählt, wie diese Kette von Flüchen »unterbrochen wird« – durch die Göttin Athene selbst, »indem sie die Demokratie einführt: Die Gesellschaft soll Recht sprechen. Die Rache wird delegiert an etwas Drittes, das aber legitimiert sein muss. Damit wird das System von Tat und Reaktion durchbrochen und in eine gesellschaftliche Instanz überführt«, die repräsentiert.4 Bei Aischylos verkörpern die Götter also nicht die autoritäre Schicksalhaftigkeit, sondern sind vielmehr demokratische Supervisoren.

Politik und Theater waren inhaltlich und räumlich miteinander verbunden. Freie Bürger hatten die Pflicht, das Theater zu besuchen.5 Es war ein Ort der Repräsentanz und der Referenz. Für Aristoteles spielen »das Publikum und seine Emotionen«, das »Pathos«, eine wichtige Rolle bei der Konstitution von Gesellschaft. Rhetorik gilt ihm als »die Fähigkeit [...], die das Überzeugende erkennt.«6

Marika Przybilla-Voß hat die Ähnlichkeit von Politik und Theater sehr gut zusammengefasst: »Sowohl in der Politik als auch im Theater müssen die Redner und Darsteller ihr Publikum fesseln, in den Bann ziehen und letztlich mit ihrer Rhetorik überzeugen und in eine Welt des Möglichen und Fremden entführen. Das Publikum sowohl der Theater- als auch der politischen Bühne soll in die dort skizzierten Welten mit all ihren Hürden, Problematiken und Verstrickungen eintauchen und sich in die dabei gezeigten Situationen hineinversetzen können. Politische Ereignisse, Problematiken, Missstände und Situationen werden bis heute auf der Theaterbühne reflektiert, aufgearbeitet und oftmals interpretiert; auf diese Weise werden sie dem Publikum und somit der Öffentlichkeit auf einer anderen Ebene zugänglich gemacht. Das Theater vermittelt zwischen Politik und Bürgern, aber auch zwischen den Akteuren, indem es unterschiedliche Perspektiven eröffnet. Dem Publikum wird ermöglicht, einen Einblick in eine sonst wohl fremde Situation zu gewinnen und somit an dem Geschehen teilzuhaben. Das politische Theater ist besonders in Deutschland ein wichtiger Teil der Theaterkultur geworden, das letzte Jahrhundert, die großen Namen: Gotthold Ephraim Lessing, Bertolt Brecht, Heiner Müller oder Christoph Schlingensief sind nur einige berühmte Vertreter von Dramatikern, die das Theater als politische Bühne nutzen.«7

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