Theater und Demokratie

Wider die Trennung von Staat und Gesellschaft. Zum 100. Geburtstag von Helmut Ridder

von

II. SOZIALE DEMOKRATIE: EXKURS ÜBER DEN SOZIALSTAAT

Das Verhältnis von Theater und Demokratie aber ist komplizierter zu bestimmen, wenn man nicht nur verklärende Blicke in die Antike werfen will. »Das Demokratische« begegnet uns, wenn schon nicht im Elternhaus, so im Gesellschaftskundeunterricht, vermittelt als ein langweiliges Ritual. Wir assoziieren damit Wahlen, Politikerreden, Parlamente, Studierendenparlamente, Gemeinderäte, Kreistage, Landtage oder das deutsche Herzstück: den Bundestag und die Idee der Gewaltenteilung.

Das Bundesverfassungsgericht definiert die »freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 II GG« relativ abstrakt.8 Ganz anders dagegen Helmut Ridder (1919 – 2017), einer der interessantesten Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts und einer der wenigen Professoren, bei denen man überhaupt Lust bekam, sich Vorlesungen anzuhören. Heute ist er aus dem Diskurs völlig verschwunden. Ridder folgt bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, was denn Freiheit in unserer Demokratie ausmacht, nicht dem Weg, den Verfassungsrechtler heute an Hochschulen lehren. Er präsentiert uns keine abstrakte Definition, keine Wiederholung Kant’scher Lehrsätze, nicht einmal ein Rosa-Luxemburg-Zitat, sondern er konstatiert: »Es ist eine elementare und von der ›Sozialstaatsklausel‹ des Grundgesetzes bestätigte und verbindlich gemachte Grunderkenntnis der Demokratietheorie, daß Freiheit ›an sich‹ ein interplanetarisches Hirngespinst ist, weil sie weder die ›Freiheit wovon?‹ noch die ›Freiheit wozu?‹ beschreiben kann. Demokratie ist das Selbstbestimmungsverfahren, das konkret die Freiheit der Menschen in ihrer konkreten Befindlichkeit, nämlich der gesellschaftlichen, bewirkt [...].«9

Ridder lotet die Grundrechte aus als Orte der Kommunikation, mehr als Verortungen von konkreten sozialen Freiheitsfeldern, er erkundet den Normbereich und er schafft noch etwas: Er formuliert eine neue, eine eigenwillige Theorie vom Sozialstaat. Während der Sozialstaat im Sprachgebrauch unserer Gesellschaft zwar betont wird, aber immer nur als ein Abklatsch sozialer Marktwirtschaft oder katholischer Soziallehre, als eine gemäßigte Form des bösen Spiels vom freien Spiel der Kräfte, sieht Ridder im Sozialstaat etwas ganz anderes. Der Sozialstaat des Grundgesetzes formuliert nach der Barbarei des deutschen Faschismus eine neue Stoßrichtung, einen Impuls, eine demokratische, ja eine utopische Dimension. Art. 20 und 28 GG wollen eine soziale Ordnung kreieren, in der die Trennung von Demos und Repräsentant aufgehoben wird. Nicht die Trennung von Volk und Führer, nicht die Proklamation einer Masse, sondern die Trennung von Staat und Gesellschaft ist Thema des Sozialstaates.

Hier Staat, da Bürger ist eine vordemokratische Struktur, die sich festgefressen hat in Realita und in den Köpfen der Citoyens. Zugleich aber ist es die Realität von Repräsentation und Souverän. Aber wer repräsentiert wen und wer gehört zum Volk, dem Demos oder eben nur zum Ethnos? Der Sozialstaat des Grundgesetzes beinhaltet nach Ridder ein Therapie- programm. Der Heilungsprozess will die Aufhebung einer Spaltung bewirken, die Trennung in Staat und Gesellschaft. Gibt es diese Trennung nicht mehr, finden wir eine gelebte, authentische Demokratie. Die einzelnen Grundrechte selbst, die sozialen Aktionen, die sie beschreiben, wie beispielsweise das Versammeln, Reden, Forschen, Spielen, Verweigern, Gleich-Sein, Berufe-Finden, Wohnen, Leben in Menschwürde sind Felder, in denen man das einübt, und zugleich die Tools, die diesen Prozess leiten. Helmut Ridder entwirft auch eine demokratische Wirtschaftsordnung, er folgert aus dem, was der historische Kompromiss unserer Verfassung ist, dass Kapitalismus kein Dogma ist. Aber was ist es dann? Wer redet noch von anderen Wirtschaftsordnungen? Was ist das Herz des demokratischen Wirtschaftens? Ist es das Eigentum? Die Arbeit? Die Kraft der Arbeit, die künftig ihren Wert zu verlieren scheint? Die Aufhebung der Arbeit? Die Entwertung von Arbeit?

Es gibt keinen totalitären Eigentumsbegriff in der Demokratie und im Grundgesetz, aber es gibt einen gemilderten Eigentumsbegriff. Ein Begriff des sozialen Eigentums, der mit Inhalt gefüllt sein will. Im Zentrum der Aufklärung steht der befreite, sich durch Arbeit selbst verwirklichende Mensch. Das Projekt ist nicht abgeschlossen. Denn der Arbeitsbegriff im Kontext der Aufklärung kann nur eine Arbeitsform meinen, die nicht entfremdet, nicht auf Ausbeutung, sondern auf Kultur und Kunst basiert.

Am Morgen der Demokratie – und es gab da einige Morgenröten – ist die Idee der Freiheit und Gleichheit noch frisch und unverbraucht. Sieht man sich solche demokratischen Aufbrüche an, wie den »Sturm und Drang« (also die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts) oder die junge »Weimarer Republik« und auch das Jahr 1949, als das Grundgesetz verabschiedet wurde, so sind die Inhalte und Ideen mit Verve vertreten und von Literatur und Theater begleitet. Keine Freiheit ohne Friedrich Schiller, keine Demokratie ohne das Theater von Max Reinhardt, Erwin Piscator, Ernst Toller, Joachim Kaiser und Bert Brecht. »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit«, proklamiert der Posa 1787 in dem Stück »Don Carlos« und wartet bis heute auf eine Antwort.

Theater und Demokratie, Aufklärung und Barrikadenkampf waren stets eng miteinander verbunden. Das Theater gehörte nach den demokratischen Niederlagen stets zu den Orten, die geschlossen, deren Ensembles vernichtet oder mit neuem Personal gleichgeschaltet wurden, ob bei Adolf Hitler und Idi Amin, Augusto Pinochet und jüngst Recep Tayyip Erdogan.

III. DIE VERFASSUNG UND DER BEGRIFF DER KOMPETENZ

Über Theater und Demokratie schweigt sich das Grundgesetz aus. Das Feld ist zu klein, ein Mikrokosmos, auch über Kultur steht nicht allzu viel in der Verfassung. Das hat gute Gründe, denn am Beginn demo- kratischer Verfassungen war die Frage der Lohnarbeit dringlicher und das Elend der Künstler eben keine Massenfrage, es entstand keine »Künstlerfrage«, ob- wohl es doch fast immer die Künstler und Intellektuellen waren, die in antidemokratischen Zeiten als Erste verfolgt und dann vergessen waren.

Im Grundgesetz findet sich eine lapidare Stelle über die Kunst und die Wissenschaft, über das Thea- ter und die Hochschule und – die Demokratie: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« Art. 5, Abs. 3 GG. normiert aber noch etwas anderes: die Freiheit der Meinung. Universitäre Selbstverwaltung, der soziale Umgang zwischen Studierenden und Professoren, Professoren und Rektoren, Intendanten und Schauspielern, dem Theater, dem Publikum und dem Rathaus – hier ist die Basis der Demokratie: kommu- nale Politik und Kunst, Wissenschaft und Freiheit.

Der Wert der Arbeit geht verloren, »Sturm und Drang« sind längst vorbei, demokratische Orgien sind selten – und das Theater hat an gesellschaftspolitischer Bedeutung verloren. Geblieben ist uns die Verfassung, hier wie da, »checks and balances« funktionieren hoffentlich noch in Amerika – und bei uns? Ausgehend vom Verfassungstext will ich das Selbstbestimmungsverfahren, das Herz der Demokratie, ausloten, bevor ich zum Theater zurückkehre.

Dazu zwei lokale Beispiele:

1. Als am 30. Juli 2015 in der Theaterzeitung Trojaner ein Artikel erscheint unter der Überschrift: »Empört euch: Über den Verlust demokratischer Selbstverständlichkeit in der Konstanzer Politik«10, ordnet der Kulturbürgermeister an, der Intendant, also ich, habe ab sofort alle Presseartikel und Verlautbarungen ihm vorzulegen. Er beruft sich dabei auf die Dienstordnung der Stadt.11 Das Theater hatte in den Augen des Bürgermeisters seine Kompetenz überschritten. Empörung über den Akt der Zensur bleibt aus. Das Volk, die Gemeinderäte, die Intellektuellen, die Studierenden oder Professoren schweigen. Das Theater hatte sich in Demokratie geübt. Ein Artikel in der Stuttgarter Zeitung beschreibt mich als den »Lautsprecher vom Bodensee« und schadet mir bis heute.

2. Am 27. April 2017 nimmt Oberbürgermeister Uli Burchardt kurzfristig einen Antrag der Linken Liste von der schon veröffentlichten Tagesordnung. Ziel war eine Debatte und ggf. eine Resolution des Konstanzer Gemeinderates gegen weitere von der Landesregierung geplante Abschiebungen afghanischer Flüchtlinge. Die Stadtverwaltung vertritt die Meinung, der Gemeinderat habe in dieser Frage keine Kompetenz. Diese scheinbar juristische Position stammt aus alten Zeiten. Als grüne Ratsvertreter und Atomkraftgegner das Thema atomwaffenfreie Zone auf die Tagesordnung der kommunalen Parlamente setzen wollten, gab es Widerstand von altgedienten Parteien.

Was mag Kompetenz mit konkreter Meinungsfreiheit zu tun haben? Jedermann steht das Recht auf Meinungsfreiheit zu. Die Debatte um Kompetenz und Freiheit ist nicht neu. Sie wurde angeführt von rechten Studenten um 1968, die tatsächlich die Meinung vertraten, die gewählte Studentenschaft dürfe sich nicht äußern zu Folter und Terror in der Welt, denn dies sei allgemeine und keine Hochschulpolitik.

Nichts anderes vertritt die Konstanzer Verwaltung. Die liberale Universitätsstadt, repräsentiert vom Oberbürgermeister, entblödet sich nicht, keine Meinung bilden zu dürfen im Gemeinderat. Es geht um die Abschiebung von Flüchtlingen, es geht um Menschenleben, und da meint einer, nicht die Kompetenz zu haben, sich zu äußern.

Das Denken in Kategorien von Kompetenzen (gemeint sind hier nicht berufliche), ist aber das Gegenteil von Freiheit. Nimmt man den ursprünglichen Begriff von Kompetenz, so meint er Eignung und Befähigung, hier aber wird er im Sinne einer Organisationskompetenz begriffen, als stünde jemandem das Denken gar nicht zu. Wir müssen uns das noch einmal vergegenwärtigen: Eine Gruppe von Menschen, ein Teil des Gemeinderates will dort eine Meinungsbildung herbeiführen: reden, denken, Argumente austauschen. Der Vorsitzende des Gemeinderates nimmt dieses Begehren von der Tagesordnung und erklärt sich und die anderen als nicht kompetent. Man hebt also den Gemeinderat in die Sphäre des Staatlichen, grenzt ihn ab zur Sphäre des Gesellschaftlichen, man schafft, zementiert eine Trennung von Staat und Gesellschaft, die aber gerade die Sozialstaatsklausel und das umfassende Demokratiegebot aufheben wollen.

Wir haben es mit einer alltäglichen Grundrechtsverletzung zu tun. Und das Volk schweigt. Mehr noch, wir erleben in Baden-Württemberg ein Demokratiedefizit, insbesondere in der – und hier benutze ich das Wort bewusst – Kompetenz, die Bürgermeistern nach den Kommunalverfassungen zugeschrieben wird. Sie sind die Vorsitzenden des Kommunalparlaments, der wichtigsten Ausschüsse, Herren der Verwaltung und die obersten Repräsentanten, sie sind Aufsichtsräte und oberste Chefs der Intendanten von Stadttheatern, sind institutionalisierte Autokraten und verletzen das Prinzip der Gewaltenteilung: jeden Tag. Das ist nicht bloß ein Konstanzer Problem, sondern eine antidemokratische Handlungsanweisung. Noch einmal Ridder: »Durch die Integration in die Körperschaft verlieren die Mitglieder nicht ihre Grundrechtssubjektivität und sind damit nicht grundsätzlich gehindert, sei es einzeln im organschaftlichen Willensbildungsprozess, sei es kollektiv organschaftlich, von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch zu machen.«12

Meistgelesene Beiträge

Alle

auf theaterderzeit.de

Freies Theater

Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960–2010)

Theater-News

Alle

auf theaterderzeit.de

Autorinnen und Autoren des Verlags

A - Z

Bild von Ralph Hammerthaler

Ralph Hammerthaler

Bild von Gunnar Decker

Gunnar Decker

Bild von Michael Schindhelm

Michael Schindhelm

Bild von Wolfgang Engler

Wolfgang Engler

Bild von Josef Bierbichler

Josef Bierbichler

Bild von Sasha Marianna Salzmann

Sasha Marianna Salzmann

Bild von Lutz Hübner

Lutz Hübner

Bild von Falk Richter

Falk Richter

Bild von Milo Rau

Milo Rau

Bild von Joachim Fiebach

Joachim Fiebach

Bild von Etel Adnan

Etel Adnan

Bild von Dorte Lena Eilers

Dorte Lena Eilers

Bild von Heiner Goebbels

Heiner Goebbels

Bild von Hans-Thies Lehmann

Hans-Thies Lehmann

Bild von Kathrin Röggla

Kathrin Röggla

Bild von Friedrich Dieckmann

Friedrich Dieckmann

Bild von Nis-Momme Stockmann

Nis-Momme Stockmann

Bild von Christine Wahl

Christine Wahl

Bild von Dirk Baecker

Dirk Baecker

Bild von Bernd Stegemann

Bernd Stegemann