Theater und Demokratie

Wider die Trennung von Staat und Gesellschaft. Zum 100. Geburtstag von Helmut Ridder

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IV. POSTDEMOKRATIE

Leben wir bereits in nachdemokratischen Zeiten? Ist der Begriff der Postdemokratie geeignet, den Zustand zu beschreiben? Ich bekenne gerne: Dieses Deutschland ist das beste in seiner Geschichte, und seine Bürgerinnen und Bürger haben vieles erstritten. Dennoch lässt sich nicht verkennen, dass die Demokratie sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer höchst paradoxen Situation befindet. Colin Crouch befürchtet sogar, die Demokratie sei an ihrem Höhepunkt angekommen, was, wenn wir einer Parabel folgen, bedeutet, dass wir schon wieder längst dabei sind, uns zu entfernen von der Idee der Freiheit, der Gleichheit und der Geschwisterlichkeit.

Wer in Gemeinderäte oder Gerichtsverhandlungen geht, wird feststellen, dass dort die Öffentlichkeit faktisch abgeschafft worden ist. Die handelnden Figuren sind langweiliger, eintöniger, konformer geworden. Es fehlt an einer phantasievollen Hervorhebung. Aber ist mehr passiert, als dass sich die Inszenierungsweise verändert hat? Kann man am Ende sagen, dass tatsächlich das Parlament als ritueller, aber auch als machtpolitischer Ort an Bedeutung verloren hat? Das mediale Interesse an Parlamentsdebatten ist gleich null, allenfalls Auszüge aus Debatten bis zu drei Minuten werden gesendet. Es gibt kaum Redner, die noch eine identifizierbare Meinung repräsentieren, eine Haltung, die nicht schematisch wirkt.

Bei Colin Crouch heißt es: »Die relativ niedrigen Anforderungen, die im Rahmen des liberalen Demokratieverständnisses an das Funktionieren des politischen Systems gestellt werden, führen zu einer Zufriedenheit, die uns blind machen kann für ein neuartiges Phänomen, das ich als ›Postdemokratie‹ bezeichnen möchte. Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, daß Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spek- takel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, eine schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ih- nen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung [hier werden theatrale Mittel zu manipulativen Instru- menten] wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht [wir erinnern uns an das TTIP-Abkommen]: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.«13

Der britische Soziologe und Politikwissenschaftler ergänzt, dass in einer Postdemokratie die Mechanismen von Zivilgesellschaft, also z.B. Diskussionen an Universitäten, Theaterstücke über die Mafia, Fußball- spiele zwischen Strafgefangenen und Polizisten, d. h. alle egalitären politischen Projekte und Inszenierungen, die das Ziel haben, gedanklichen Austausch zu fördern und auch ökonomische Umverteilungen vor- zunehmen von Wohlstand und Intelligenz, chancenlos werden.

Das Theater ist nur ein Beispiel, es ist marginal geworden, es ist ein stiller Abschied von der Demokratie, die Postdemokratie verabschiedet sich vom Theater, leise, und baut Kongresszentren, die dann nicht einmal funktionieren, nennt sie auch noch Foren, in denen es aber gar keinen Diskurs gibt. Der Theoretiker Crouch ist kein Sozialist, kein Radikaler, er ist bemüht, so etwas wie verträgliche Lösungen für die Demokratie zu finden, Demokratie zu rekonstruieren, wo sie längst im Kontext internationaler Organisationen verschwunden ist.

»Daß eine Renaissance des Staates keine Perspektive für Reformen böte, liegt drittens auch daran, daß politische Macht ganz überwiegend nationalstaatlich organisiert ist. Das bedeutet nicht nur, daß die Politik die Interessen des Volkes auf globaler Ebene schwerlich vertreten kann, sondern auch, daß Parteien und Regierungen stets nationalen Sichtweisen verhaftet bleiben. In einer globalisierten Wirtschaft ist das nicht nur unrealistisch, es muß auch einen irrationalen Nationalismus befördern. [...] Da die formelle Konkurrenz zwischen den etablierten Parteien in vielen Ländern zunehmend inhaltslos wird – unter anderem weil sich alle Parteien im großen und ganzen an die von den Unternehmen diktierte Agenda halten –, erscheinen ausländerfeindliche Bewegungen als die einzigen, die vermeintliche Alternativen aufzeigen [...]. Gemessen daran sind transnationale Konzerne erfrischend kosmopolitisch.«14 Aber eben, das möchte man hinzufügen, ausschließlich – bei allem Gerede von »Corporate Social Responsibility« – von Gewinn-, von Profitinteressen diktiert. Es ist kein spontaner Impuls, dass ich über Demokratie und Theater schreibe, nein, es gehört hervorgehoben: dass ein Kontinent wie Amerika nicht nur da- bei ist, seine Demokratie abzuschaffen, sondern auch seine Theater und Opernhäuser. Macht nichts, könnte der eine oder andere sagen, ich gehe auch hier nicht hin. Aber wenn man sich der Genesis erinnert, dass es einstmals einen engen Zusammenhang gab zwischen der Entstehung von Demokratie, Theater und Staat, könnte der Verlust des Theaters nicht nur ein Indiz sein, sondern die Besiegelung der Vernichtung des demokratischen Impulses.

So schrieb die Welt bereits am 26.9.2009, die USA seien das Land der bankrotten Orchester, und die dpa vermeldet im Januar 2014: »Die US-amerikanische Opernwelt kränkelt nicht nur, sie liegt mittlerweile auf der Intensivstation. Nachdem die Oper von San Diego den Betrieb aufgegeben hat, muss nun die Oper von Indianapolis die letzte Produktion der Saison aufgrund finanzieller Probleme ersatzlos streichen. Gespielt worden wäre die Britten-Oper ›Albert Herring‹. Damit hätte das Haus allerdings zu wenig Besucher mobili- sieren können. Es hat deshalb entschieden, das Risiko nicht einzugehen. Laut einem Bericht des ›Indianapolis Star‹ sind die Vermögenswerte der Oper von 613 010 Dollar im Jahr 2011 auf 75 299 Dollar zusammengeschmolzen.«15

Was also kann man tun, um Demokratie zu erhalten, zu rekonstruieren? Genügt die moralische Erkenntnis, dass keiner, auch nicht der Wohlhabendste, in der Lage ist, allein auf sich selbst gestellt zu überleben? »Auch wer Eigentum besitzen oder am Markt agieren will, ist darauf angewiesen, daß andere seine Eigentumsrechte respektieren«, sagt Crouch und plädiert für eine demokratische »Ökonomie, in der die vier großen Kräfte, die eine Gesellschaft ausmachen – der Staat, der Markt, die Konzerne und die Zivilgesellschaft – in einem gemäßigte Spannungsverhältnis zueinander stehen« und »das Machtungleichgewicht in erträglichem Rahmen halten, auch wenn es sich wahrscheinlich weiter zugunsten der Konzerne verschieben wird.«16 Ganz am Schluss seiner Studie kommt er auf uns zurück. Was für Normen und welche Moral aber bestimmen eine demokratische Gesellschaft? Die Idee der Gleichheit? Nur vor dem Gesetz? Was geschieht mit Gesetzlosen und wie werden sie zu solchen Figuren? Warum ist der eine Bruder der Gute und der andere der Böse? Was war los mit der Familie Moor in Schillers »Räubern«, warum mordet Macbeth und wie wird Othello zum eifersüchtigen Afrikaner gemacht?

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