Theater und Demokratie

Wider die Trennung von Staat und Gesellschaft. Zum 100. Geburtstag von Helmut Ridder

von

I. ALTE GESCHICHTEN UND GRÜNDUNGSMYTHEN

»Schaustätte« bedeutet der auf das altgriechische Wort théatron zurückgehende Begriff »Theater«.1 Vor allem die naturalistische Theaterliteratur ging davon aus, dass es als »Spiegel der Gesellschaft« wirken könne, wenn es »Beziehungen zwischen Menschen, ihrer Umwelt und ihrer Umgebung« darstellt. »Es wirkt, indem es Zusammenhänge oder bekannte Situationen öffentlich mache, ihnen einen Ort gibt und sie zur Schau stellt. Demzufolge kann Theater unterschiedlich ambitioniert sein und verschiedensten Motivationen folgen.«2 Es kann aber auch benutzt werden von Politik oder Kommerz, von der Lust auf Unterhaltung oder ganz anders, als ein Instrument bei Teambildungen von Managern, Familienaufstellungen oder allgemein an ihrer Geschichte interessierten Menschen.

Ist Theater deshalb auch politisch? Fördert Theater gar die demokratische Idee? Gibt es einen alten Zusammenhang zwischen Politik und Theater? Im antiken Griechenland war es »nicht nur ein Ort für Feste und Zeremonien«, sondern »auch der Ort, an dem man sich zusammenfand und über Demokratie und Politik diskutierte.«3 Vor allem geschah etwas, was wir heute vermissen, inhaltliche Entwürfe von Staat und Gesellschaft wurden gefertigt und diskutiert. 458 Jahre vor Christus, mit der Erstaufführung der »Orestie« von Aischylos, wird auch die Geburtsstunde der Demokratie vermerkt.

Agamemnon braucht günstige Winde, um nach Troja zu gelangen, und opfert dafür seine Tochter Iphigenie. Aus Rache tötet ihn seine Frau Klytaimnestra. Orestes aber, der Sohn, muss den Mord am Vater rächen und zieht so den Zorn der Erinnyen auf sich. Aischylos’ Stück erzählt, wie diese Kette von Flüchen »unterbrochen wird« – durch die Göttin Athene selbst, »indem sie die Demokratie einführt: Die Gesellschaft soll Recht sprechen. Die Rache wird delegiert an etwas Drittes, das aber legitimiert sein muss. Damit wird das System von Tat und Reaktion durchbrochen und in eine gesellschaftliche Instanz überführt«, die repräsentiert.4 Bei Aischylos verkörpern die Götter also nicht die autoritäre Schicksalhaftigkeit, sondern sind vielmehr demokratische Supervisoren.

Politik und Theater waren inhaltlich und räumlich miteinander verbunden. Freie Bürger hatten die Pflicht, das Theater zu besuchen.5 Es war ein Ort der Repräsentanz und der Referenz. Für Aristoteles spielen »das Publikum und seine Emotionen«, das »Pathos«, eine wichtige Rolle bei der Konstitution von Gesellschaft. Rhetorik gilt ihm als »die Fähigkeit [...], die das Überzeugende erkennt.«6

Marika Przybilla-Voß hat die Ähnlichkeit von Politik und Theater sehr gut zusammengefasst: »Sowohl in der Politik als auch im Theater müssen die Redner und Darsteller ihr Publikum fesseln, in den Bann ziehen und letztlich mit ihrer Rhetorik überzeugen und in eine Welt des Möglichen und Fremden entführen. Das Publikum sowohl der Theater- als auch der politischen Bühne soll in die dort skizzierten Welten mit all ihren Hürden, Problematiken und Verstrickungen eintauchen und sich in die dabei gezeigten Situationen hineinversetzen können. Politische Ereignisse, Problematiken, Missstände und Situationen werden bis heute auf der Theaterbühne reflektiert, aufgearbeitet und oftmals interpretiert; auf diese Weise werden sie dem Publikum und somit der Öffentlichkeit auf einer anderen Ebene zugänglich gemacht. Das Theater vermittelt zwischen Politik und Bürgern, aber auch zwischen den Akteuren, indem es unterschiedliche Perspektiven eröffnet. Dem Publikum wird ermöglicht, einen Einblick in eine sonst wohl fremde Situation zu gewinnen und somit an dem Geschehen teilzuhaben. Das politische Theater ist besonders in Deutschland ein wichtiger Teil der Theaterkultur geworden, das letzte Jahrhundert, die großen Namen: Gotthold Ephraim Lessing, Bertolt Brecht, Heiner Müller oder Christoph Schlingensief sind nur einige berühmte Vertreter von Dramatikern, die das Theater als politische Bühne nutzen.«7

II. SOZIALE DEMOKRATIE: EXKURS ÜBER DEN SOZIALSTAAT

Das Verhältnis von Theater und Demokratie aber ist komplizierter zu bestimmen, wenn man nicht nur verklärende Blicke in die Antike werfen will. »Das Demokratische« begegnet uns, wenn schon nicht im Elternhaus, so im Gesellschaftskundeunterricht, vermittelt als ein langweiliges Ritual. Wir assoziieren damit Wahlen, Politikerreden, Parlamente, Studierendenparlamente, Gemeinderäte, Kreistage, Landtage oder das deutsche Herzstück: den Bundestag und die Idee der Gewaltenteilung.

Das Bundesverfassungsgericht definiert die »freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 II GG« relativ abstrakt.8 Ganz anders dagegen Helmut Ridder (1919 – 2017), einer der interessantesten Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts und einer der wenigen Professoren, bei denen man überhaupt Lust bekam, sich Vorlesungen anzuhören. Heute ist er aus dem Diskurs völlig verschwunden. Ridder folgt bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, was denn Freiheit in unserer Demokratie ausmacht, nicht dem Weg, den Verfassungsrechtler heute an Hochschulen lehren. Er präsentiert uns keine abstrakte Definition, keine Wiederholung Kant’scher Lehrsätze, nicht einmal ein Rosa-Luxemburg-Zitat, sondern er konstatiert: »Es ist eine elementare und von der ›Sozialstaatsklausel‹ des Grundgesetzes bestätigte und verbindlich gemachte Grunderkenntnis der Demokratietheorie, daß Freiheit ›an sich‹ ein interplanetarisches Hirngespinst ist, weil sie weder die ›Freiheit wovon?‹ noch die ›Freiheit wozu?‹ beschreiben kann. Demokratie ist das Selbstbestimmungsverfahren, das konkret die Freiheit der Menschen in ihrer konkreten Befindlichkeit, nämlich der gesellschaftlichen, bewirkt [...].«9

Ridder lotet die Grundrechte aus als Orte der Kommunikation, mehr als Verortungen von konkreten sozialen Freiheitsfeldern, er erkundet den Normbereich und er schafft noch etwas: Er formuliert eine neue, eine eigenwillige Theorie vom Sozialstaat. Während der Sozialstaat im Sprachgebrauch unserer Gesellschaft zwar betont wird, aber immer nur als ein Abklatsch sozialer Marktwirtschaft oder katholischer Soziallehre, als eine gemäßigte Form des bösen Spiels vom freien Spiel der Kräfte, sieht Ridder im Sozialstaat etwas ganz anderes. Der Sozialstaat des Grundgesetzes formuliert nach der Barbarei des deutschen Faschismus eine neue Stoßrichtung, einen Impuls, eine demokratische, ja eine utopische Dimension. Art. 20 und 28 GG wollen eine soziale Ordnung kreieren, in der die Trennung von Demos und Repräsentant aufgehoben wird. Nicht die Trennung von Volk und Führer, nicht die Proklamation einer Masse, sondern die Trennung von Staat und Gesellschaft ist Thema des Sozialstaates.

Hier Staat, da Bürger ist eine vordemokratische Struktur, die sich festgefressen hat in Realita und in den Köpfen der Citoyens. Zugleich aber ist es die Realität von Repräsentation und Souverän. Aber wer repräsentiert wen und wer gehört zum Volk, dem Demos oder eben nur zum Ethnos? Der Sozialstaat des Grundgesetzes beinhaltet nach Ridder ein Therapie- programm. Der Heilungsprozess will die Aufhebung einer Spaltung bewirken, die Trennung in Staat und Gesellschaft. Gibt es diese Trennung nicht mehr, finden wir eine gelebte, authentische Demokratie. Die einzelnen Grundrechte selbst, die sozialen Aktionen, die sie beschreiben, wie beispielsweise das Versammeln, Reden, Forschen, Spielen, Verweigern, Gleich-Sein, Berufe-Finden, Wohnen, Leben in Menschwürde sind Felder, in denen man das einübt, und zugleich die Tools, die diesen Prozess leiten. Helmut Ridder entwirft auch eine demokratische Wirtschaftsordnung, er folgert aus dem, was der historische Kompromiss unserer Verfassung ist, dass Kapitalismus kein Dogma ist. Aber was ist es dann? Wer redet noch von anderen Wirtschaftsordnungen? Was ist das Herz des demokratischen Wirtschaftens? Ist es das Eigentum? Die Arbeit? Die Kraft der Arbeit, die künftig ihren Wert zu verlieren scheint? Die Aufhebung der Arbeit? Die Entwertung von Arbeit?

Es gibt keinen totalitären Eigentumsbegriff in der Demokratie und im Grundgesetz, aber es gibt einen gemilderten Eigentumsbegriff. Ein Begriff des sozialen Eigentums, der mit Inhalt gefüllt sein will. Im Zentrum der Aufklärung steht der befreite, sich durch Arbeit selbst verwirklichende Mensch. Das Projekt ist nicht abgeschlossen. Denn der Arbeitsbegriff im Kontext der Aufklärung kann nur eine Arbeitsform meinen, die nicht entfremdet, nicht auf Ausbeutung, sondern auf Kultur und Kunst basiert.

Am Morgen der Demokratie – und es gab da einige Morgenröten – ist die Idee der Freiheit und Gleichheit noch frisch und unverbraucht. Sieht man sich solche demokratischen Aufbrüche an, wie den »Sturm und Drang« (also die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts) oder die junge »Weimarer Republik« und auch das Jahr 1949, als das Grundgesetz verabschiedet wurde, so sind die Inhalte und Ideen mit Verve vertreten und von Literatur und Theater begleitet. Keine Freiheit ohne Friedrich Schiller, keine Demokratie ohne das Theater von Max Reinhardt, Erwin Piscator, Ernst Toller, Joachim Kaiser und Bert Brecht. »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit«, proklamiert der Posa 1787 in dem Stück »Don Carlos« und wartet bis heute auf eine Antwort.

Theater und Demokratie, Aufklärung und Barrikadenkampf waren stets eng miteinander verbunden. Das Theater gehörte nach den demokratischen Niederlagen stets zu den Orten, die geschlossen, deren Ensembles vernichtet oder mit neuem Personal gleichgeschaltet wurden, ob bei Adolf Hitler und Idi Amin, Augusto Pinochet und jüngst Recep Tayyip Erdogan.

III. DIE VERFASSUNG UND DER BEGRIFF DER KOMPETENZ

Über Theater und Demokratie schweigt sich das Grundgesetz aus. Das Feld ist zu klein, ein Mikrokosmos, auch über Kultur steht nicht allzu viel in der Verfassung. Das hat gute Gründe, denn am Beginn demo- kratischer Verfassungen war die Frage der Lohnarbeit dringlicher und das Elend der Künstler eben keine Massenfrage, es entstand keine »Künstlerfrage«, ob- wohl es doch fast immer die Künstler und Intellektuellen waren, die in antidemokratischen Zeiten als Erste verfolgt und dann vergessen waren.

Im Grundgesetz findet sich eine lapidare Stelle über die Kunst und die Wissenschaft, über das Thea- ter und die Hochschule und – die Demokratie: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« Art. 5, Abs. 3 GG. normiert aber noch etwas anderes: die Freiheit der Meinung. Universitäre Selbstverwaltung, der soziale Umgang zwischen Studierenden und Professoren, Professoren und Rektoren, Intendanten und Schauspielern, dem Theater, dem Publikum und dem Rathaus – hier ist die Basis der Demokratie: kommu- nale Politik und Kunst, Wissenschaft und Freiheit.

Der Wert der Arbeit geht verloren, »Sturm und Drang« sind längst vorbei, demokratische Orgien sind selten – und das Theater hat an gesellschaftspolitischer Bedeutung verloren. Geblieben ist uns die Verfassung, hier wie da, »checks and balances« funktionieren hoffentlich noch in Amerika – und bei uns? Ausgehend vom Verfassungstext will ich das Selbstbestimmungsverfahren, das Herz der Demokratie, ausloten, bevor ich zum Theater zurückkehre.

Dazu zwei lokale Beispiele:

1. Als am 30. Juli 2015 in der Theaterzeitung Trojaner ein Artikel erscheint unter der Überschrift: »Empört euch: Über den Verlust demokratischer Selbstverständlichkeit in der Konstanzer Politik«10, ordnet der Kulturbürgermeister an, der Intendant, also ich, habe ab sofort alle Presseartikel und Verlautbarungen ihm vorzulegen. Er beruft sich dabei auf die Dienstordnung der Stadt.11 Das Theater hatte in den Augen des Bürgermeisters seine Kompetenz überschritten. Empörung über den Akt der Zensur bleibt aus. Das Volk, die Gemeinderäte, die Intellektuellen, die Studierenden oder Professoren schweigen. Das Theater hatte sich in Demokratie geübt. Ein Artikel in der Stuttgarter Zeitung beschreibt mich als den »Lautsprecher vom Bodensee« und schadet mir bis heute.

2. Am 27. April 2017 nimmt Oberbürgermeister Uli Burchardt kurzfristig einen Antrag der Linken Liste von der schon veröffentlichten Tagesordnung. Ziel war eine Debatte und ggf. eine Resolution des Konstanzer Gemeinderates gegen weitere von der Landesregierung geplante Abschiebungen afghanischer Flüchtlinge. Die Stadtverwaltung vertritt die Meinung, der Gemeinderat habe in dieser Frage keine Kompetenz. Diese scheinbar juristische Position stammt aus alten Zeiten. Als grüne Ratsvertreter und Atomkraftgegner das Thema atomwaffenfreie Zone auf die Tagesordnung der kommunalen Parlamente setzen wollten, gab es Widerstand von altgedienten Parteien.

Was mag Kompetenz mit konkreter Meinungsfreiheit zu tun haben? Jedermann steht das Recht auf Meinungsfreiheit zu. Die Debatte um Kompetenz und Freiheit ist nicht neu. Sie wurde angeführt von rechten Studenten um 1968, die tatsächlich die Meinung vertraten, die gewählte Studentenschaft dürfe sich nicht äußern zu Folter und Terror in der Welt, denn dies sei allgemeine und keine Hochschulpolitik.

Nichts anderes vertritt die Konstanzer Verwaltung. Die liberale Universitätsstadt, repräsentiert vom Oberbürgermeister, entblödet sich nicht, keine Meinung bilden zu dürfen im Gemeinderat. Es geht um die Abschiebung von Flüchtlingen, es geht um Menschenleben, und da meint einer, nicht die Kompetenz zu haben, sich zu äußern.

Das Denken in Kategorien von Kompetenzen (gemeint sind hier nicht berufliche), ist aber das Gegenteil von Freiheit. Nimmt man den ursprünglichen Begriff von Kompetenz, so meint er Eignung und Befähigung, hier aber wird er im Sinne einer Organisationskompetenz begriffen, als stünde jemandem das Denken gar nicht zu. Wir müssen uns das noch einmal vergegenwärtigen: Eine Gruppe von Menschen, ein Teil des Gemeinderates will dort eine Meinungsbildung herbeiführen: reden, denken, Argumente austauschen. Der Vorsitzende des Gemeinderates nimmt dieses Begehren von der Tagesordnung und erklärt sich und die anderen als nicht kompetent. Man hebt also den Gemeinderat in die Sphäre des Staatlichen, grenzt ihn ab zur Sphäre des Gesellschaftlichen, man schafft, zementiert eine Trennung von Staat und Gesellschaft, die aber gerade die Sozialstaatsklausel und das umfassende Demokratiegebot aufheben wollen.

Wir haben es mit einer alltäglichen Grundrechtsverletzung zu tun. Und das Volk schweigt. Mehr noch, wir erleben in Baden-Württemberg ein Demokratiedefizit, insbesondere in der – und hier benutze ich das Wort bewusst – Kompetenz, die Bürgermeistern nach den Kommunalverfassungen zugeschrieben wird. Sie sind die Vorsitzenden des Kommunalparlaments, der wichtigsten Ausschüsse, Herren der Verwaltung und die obersten Repräsentanten, sie sind Aufsichtsräte und oberste Chefs der Intendanten von Stadttheatern, sind institutionalisierte Autokraten und verletzen das Prinzip der Gewaltenteilung: jeden Tag. Das ist nicht bloß ein Konstanzer Problem, sondern eine antidemokratische Handlungsanweisung. Noch einmal Ridder: »Durch die Integration in die Körperschaft verlieren die Mitglieder nicht ihre Grundrechtssubjektivität und sind damit nicht grundsätzlich gehindert, sei es einzeln im organschaftlichen Willensbildungsprozess, sei es kollektiv organschaftlich, von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch zu machen.«12

IV. POSTDEMOKRATIE

Leben wir bereits in nachdemokratischen Zeiten? Ist der Begriff der Postdemokratie geeignet, den Zustand zu beschreiben? Ich bekenne gerne: Dieses Deutschland ist das beste in seiner Geschichte, und seine Bürgerinnen und Bürger haben vieles erstritten. Dennoch lässt sich nicht verkennen, dass die Demokratie sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer höchst paradoxen Situation befindet. Colin Crouch befürchtet sogar, die Demokratie sei an ihrem Höhepunkt angekommen, was, wenn wir einer Parabel folgen, bedeutet, dass wir schon wieder längst dabei sind, uns zu entfernen von der Idee der Freiheit, der Gleichheit und der Geschwisterlichkeit.

Wer in Gemeinderäte oder Gerichtsverhandlungen geht, wird feststellen, dass dort die Öffentlichkeit faktisch abgeschafft worden ist. Die handelnden Figuren sind langweiliger, eintöniger, konformer geworden. Es fehlt an einer phantasievollen Hervorhebung. Aber ist mehr passiert, als dass sich die Inszenierungsweise verändert hat? Kann man am Ende sagen, dass tatsächlich das Parlament als ritueller, aber auch als machtpolitischer Ort an Bedeutung verloren hat? Das mediale Interesse an Parlamentsdebatten ist gleich null, allenfalls Auszüge aus Debatten bis zu drei Minuten werden gesendet. Es gibt kaum Redner, die noch eine identifizierbare Meinung repräsentieren, eine Haltung, die nicht schematisch wirkt.

Bei Colin Crouch heißt es: »Die relativ niedrigen Anforderungen, die im Rahmen des liberalen Demokratieverständnisses an das Funktionieren des politischen Systems gestellt werden, führen zu einer Zufriedenheit, die uns blind machen kann für ein neuartiges Phänomen, das ich als ›Postdemokratie‹ bezeichnen möchte. Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, daß Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spek- takel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, eine schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ih- nen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung [hier werden theatrale Mittel zu manipulativen Instru- menten] wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht [wir erinnern uns an das TTIP-Abkommen]: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.«13

Der britische Soziologe und Politikwissenschaftler ergänzt, dass in einer Postdemokratie die Mechanismen von Zivilgesellschaft, also z.B. Diskussionen an Universitäten, Theaterstücke über die Mafia, Fußball- spiele zwischen Strafgefangenen und Polizisten, d. h. alle egalitären politischen Projekte und Inszenierungen, die das Ziel haben, gedanklichen Austausch zu fördern und auch ökonomische Umverteilungen vor- zunehmen von Wohlstand und Intelligenz, chancenlos werden.

Das Theater ist nur ein Beispiel, es ist marginal geworden, es ist ein stiller Abschied von der Demokratie, die Postdemokratie verabschiedet sich vom Theater, leise, und baut Kongresszentren, die dann nicht einmal funktionieren, nennt sie auch noch Foren, in denen es aber gar keinen Diskurs gibt. Der Theoretiker Crouch ist kein Sozialist, kein Radikaler, er ist bemüht, so etwas wie verträgliche Lösungen für die Demokratie zu finden, Demokratie zu rekonstruieren, wo sie längst im Kontext internationaler Organisationen verschwunden ist.

»Daß eine Renaissance des Staates keine Perspektive für Reformen böte, liegt drittens auch daran, daß politische Macht ganz überwiegend nationalstaatlich organisiert ist. Das bedeutet nicht nur, daß die Politik die Interessen des Volkes auf globaler Ebene schwerlich vertreten kann, sondern auch, daß Parteien und Regierungen stets nationalen Sichtweisen verhaftet bleiben. In einer globalisierten Wirtschaft ist das nicht nur unrealistisch, es muß auch einen irrationalen Nationalismus befördern. [...] Da die formelle Konkurrenz zwischen den etablierten Parteien in vielen Ländern zunehmend inhaltslos wird – unter anderem weil sich alle Parteien im großen und ganzen an die von den Unternehmen diktierte Agenda halten –, erscheinen ausländerfeindliche Bewegungen als die einzigen, die vermeintliche Alternativen aufzeigen [...]. Gemessen daran sind transnationale Konzerne erfrischend kosmopolitisch.«14 Aber eben, das möchte man hinzufügen, ausschließlich – bei allem Gerede von »Corporate Social Responsibility« – von Gewinn-, von Profitinteressen diktiert. Es ist kein spontaner Impuls, dass ich über Demokratie und Theater schreibe, nein, es gehört hervorgehoben: dass ein Kontinent wie Amerika nicht nur da- bei ist, seine Demokratie abzuschaffen, sondern auch seine Theater und Opernhäuser. Macht nichts, könnte der eine oder andere sagen, ich gehe auch hier nicht hin. Aber wenn man sich der Genesis erinnert, dass es einstmals einen engen Zusammenhang gab zwischen der Entstehung von Demokratie, Theater und Staat, könnte der Verlust des Theaters nicht nur ein Indiz sein, sondern die Besiegelung der Vernichtung des demokratischen Impulses.

So schrieb die Welt bereits am 26.9.2009, die USA seien das Land der bankrotten Orchester, und die dpa vermeldet im Januar 2014: »Die US-amerikanische Opernwelt kränkelt nicht nur, sie liegt mittlerweile auf der Intensivstation. Nachdem die Oper von San Diego den Betrieb aufgegeben hat, muss nun die Oper von Indianapolis die letzte Produktion der Saison aufgrund finanzieller Probleme ersatzlos streichen. Gespielt worden wäre die Britten-Oper ›Albert Herring‹. Damit hätte das Haus allerdings zu wenig Besucher mobili- sieren können. Es hat deshalb entschieden, das Risiko nicht einzugehen. Laut einem Bericht des ›Indianapolis Star‹ sind die Vermögenswerte der Oper von 613 010 Dollar im Jahr 2011 auf 75 299 Dollar zusammengeschmolzen.«15

Was also kann man tun, um Demokratie zu erhalten, zu rekonstruieren? Genügt die moralische Erkenntnis, dass keiner, auch nicht der Wohlhabendste, in der Lage ist, allein auf sich selbst gestellt zu überleben? »Auch wer Eigentum besitzen oder am Markt agieren will, ist darauf angewiesen, daß andere seine Eigentumsrechte respektieren«, sagt Crouch und plädiert für eine demokratische »Ökonomie, in der die vier großen Kräfte, die eine Gesellschaft ausmachen – der Staat, der Markt, die Konzerne und die Zivilgesellschaft – in einem gemäßigte Spannungsverhältnis zueinander stehen« und »das Machtungleichgewicht in erträglichem Rahmen halten, auch wenn es sich wahrscheinlich weiter zugunsten der Konzerne verschieben wird.«16 Ganz am Schluss seiner Studie kommt er auf uns zurück. Was für Normen und welche Moral aber bestimmen eine demokratische Gesellschaft? Die Idee der Gleichheit? Nur vor dem Gesetz? Was geschieht mit Gesetzlosen und wie werden sie zu solchen Figuren? Warum ist der eine Bruder der Gute und der andere der Böse? Was war los mit der Familie Moor in Schillers »Räubern«, warum mordet Macbeth und wie wird Othello zum eifersüchtigen Afrikaner gemacht?

V. THEATER_MACHT_POLITIK

Das Theater mit seiner Literatur von 2600 Jahren, seiner Praxis seit Shakespeare und früher, könnte ohne Zwang und enge Moral eine Diskursanstalt sein. Ein Ort, an dem die Bühnenkunst die Themen schafft, die nach der Aufführung kontroverser Betrachtung zu- gänglich sind: will sagen, erst schauen, dann trinken und debattieren. Das Theater ist ein philosophischer Ort, ein spielerischer Ort, jenseits von Kirche und Rathaus gegen den Zeitgeist, nachdem die Universitäten und Hochschulen hier als vermarktete Bildungsanstalten längst aufgehört haben, laut zu sein. Ist das so? In meiner Studie »Theater_Macht_Politik«17 habe ich die institutionelle Seite des Theaters beleuchtet, nicht die inhaltliche, und bin der Frage nachgegangen, wie politisch bzw. unpolitisch, also desinteressiert an Diskursen über das Theater hinaus, z. B. die Intendanten sind. Mein Ergebnis ist ernüchternd. Je weniger Fachpersonal den Theatern vorsteht, je mehr Manager an den Theatern Einzug halten, desto weniger politi- sches, demokratisches Interesse könnte man sagen. Weniger die alten Patriarchen – wie ich – führen zur Entpolitisierung, mehr die jungen Manager/-innen.

VI. THEATER – ORT DER DEMOKRATIE?

Zuallererst war Brecht Lyriker, sagt Marcel Reich-Ranicki, danach hat er Dramen verfasst – und weil er sie selbst am eigenen Haus aufführen wollte, musste er auch noch Intendant werden? War er auch ein Philosoph des Theaters? Seine Erneuerung des Theaters war eingebettet »in ein historisches Selbstverständnis, das die Geschichte als den Prozess der Selbstverwirklichung begreift. Daraus leitet sich für das Theater die Verpflichtung ab, sich der Forderung des Tages zu stellen und zeitgemäß zu werden.«18 Brecht hat nicht den Anspruch einer geschlossenen Theorie, im Gegenteil, die Theorie ist immer auch Kern der szenischen Arbeit und damit Prozess. Theater aber ist ein gesellschaftlicher Ort, der die Interessen der kleinen Leute formuliert, den herrschen- den Konzernen eines in die Fresse gibt und grundle- gend nachdenkt über das Verhältnis von »Herr und Knecht«. Brecht hat in seinem wenig aufgeführten Stück »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe« die Verfolgung der Juden thematisiert, mehr noch, fast achtzig Jahre vorher den Genozid in Ruanda beschrieben. Schiller-Brecht-Boal erscheint uns als eine demokratisch-kämpferische Beziehung zwischen Revolte-Demokratie und Theater, die jung ist wie am ersten Morgen. Anders als alle Formen von Mitspieltheater, Bürgertheater oder sogenanntem partizipativem Theater hat Augusto Boal in den 1960er Jahren versucht, eine neue Theaterform zu entwickeln und in diesem »Theater der Unterdrückten« eine Möglichkeit gesehen, spielerisch Alternativen zum gelebten Leben zu entwickeln.

Augusto Boal hat versucht, die Trennung zwi- schen Spieler und Zuschauer aufzuheben. Er hat auch mit und vor großen Gruppen inszeniert, indem er zunächst einmal die Gruppe spielfähig gemacht hat. D. h. in mehrtägigen Workshops versucht hat, den Körper der Spieler ausdrucksfähig zu machen. Einfache Übungen, die am Anfang jeder Aktion standen. Das Statutentheater suchte danach, wie man Bilder von Grundsituationen schafft, und das Forumtheater geht noch einen Schritt weiter. »Die Zuschauer greifen in die Handlung ein und verändern sie. Einer von ihnen schildert ein politisches oder soziales Problem, von dem er selbst betroffen ist. Daraus wird eine Szene von 10 bis 15 Minuten Dauer entwickelt, die einen Lösungsvorschlag enthält. Die Zuschauer werden gefragt, ob sie mit der angebotenen Lösung einverstanden sind. Normalerweise sind sie es nicht, da immer eine unbefriedigende Lösung gespielt wird, um die Diskus- sion anzuregen. Wer etwas einzuwenden hat, kommt auf die Bühne, ersetzt einen Schauspieler und spielt seinen Lösungsvorschlag durch.«19 Augusto Boal fügt noch an: »In Diskussionen im Anschluss an konventionelle Stücke habe ich oft erlebt, daß Zuschauer sich überaus revolutionär gerierten – von ihrem bequemen Sessel aus. Sprechen ist relativ leicht, es ist sehr einfach, großartige Heldentaten vorzuschlagen; sie zu verwirklichen ist sehr viel schwieriger.«20

Natürlich kann man sich die Frage stellen, ob das, was Boal macht, Theater ist, ob es nicht viel mehr Pädagogik oder Rollenspiel ist. Ich widerspreche dem, Boal setzt die spielerische Handlung ins Zentrum seiner Arbeit, er lässt den Phantasien seiner Akteure allen Raum, dadurch mag das Spiel manchmal realistischer und manchmal absurder werden, manchmal ist es auch selbstreferenziell. Natürlich verfolgt das Spiel die Stärkung der Subjekte, die Beseitigung von Unterdrückung, aber im Zentrum liegt Kunst. Dort wo das Spiel stattfindet, in Theaterhäusern, Kirchen, Versamm- lungsräumen, will Boal einen theatralen, wenn auch flüchtigen Ort schaffen, an dem Spieler gleichberech- tigt sich entwickeln in Körpererfahrung und Spiel, es ist theatraler Diskurs. An den heutigen Stadttheatern spielen oder spielten diese Spielformen keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Augusto Boal blieb ein Kind aus Lateinamerika, und sein Theater ist dort und in Afrika verbreitet. Es will von der Methode und der künstlerischen Absicht her Demokratie entwickeln und Widerstandsformen gegen Unterdrückung erproben. Es stellt sich daher die alte Frage, ob die Theater-Kunst pädagogisch wirken soll und kann, ob Kunst sich abgrenzt vom Politischen oder ob das Ästhetische zu einem erweiterten Begriff wird.

VII THEATER, FASCHISMUS UND DEMOKRATIE

Ruth Sonderegger fasst die vom französischen Philosophen Jacques Rancière vorgenommene Unterscheidung dreier politischer »Regime« im künstlerischen Bereich wie folgt zusammen: »Das sog. ethische, von Plato verteidigte Regime schreibt der Kunst die pädagogische Rolle zu, in eine autoritär strukturierte Klassenhierarchie einzuführen. Das zweite Kunstregime – Rancière nennt es das repräsentative – räumt der Kunst zwar Autonomie gegenüber dem Politischen und der Pädagogik ein, jedoch um den Preis, dass die Produktionsregeln für gute Kunst genau festgelegt und überdies so verfasst sind, dass sie politische Grenzziehungen spiegeln und bestärken. Rancière erläutert diese sowohl ästhetischen als auch implizit politischen Vorschriften immer wieder an den seit Aristoteles variierten Regeln für Tragödien, in denen Unterschichtenmenschen nichts zu suchen haben, und zwar im Unterschied zum Personal von Komödien. Das dritte und ›ästhetische Regime der Kunst‹ entsteht am Ende des 18. Jahrhunderts. Es schreibt der Kunst Autonomie und Freiheit im Sinn des Vermischens potenziell aller jeweils herrschenden Einteilungen der Sinnlichkeit zu: die Unterscheidung zwi- schen Aktivität und Passivität ebenso wie beispiels- weise die zwischen Denken und Wahrnehmen, Sinn und Unsinn oder die Grenze zwischen Kunst und Nicht- Kunst wird aufgehoben.«21

Im zehnten Brief »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« verwirft Fried- rich Schiller die Auffassung, der zufolge ein entwickelter Sinn für Schönheit auch die Sitten verfeinern würde. Dabei darf man unterstellen, dass Schiller hier mit den Sitten auch eine gute, demokratische Ordnung verbindet. »In der Tat muß es Nachdenken erregen, daß man beinahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet und auch nicht ein einziges Beispiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine große Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freiheit und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre.« 22

Und man müsste hinzufügen: Es ist, als habe er die Barbarei des Faschismus vorausgesehen, denn dieses Volk der Dichter und Denker, der Reformer von Wissenschaft, Bildung und Kunst war es, das den industrialisierten Tod über Europa gebracht hat, den Faschismus, mit dem Mittel der Ästhetisierung von Politik. Der Schiller’sche Ausweg aber aus ausweglosen Befunden liegt im großen Denken, man muss den Begriff der Schönheit anders verstehen. Schönheit ist die notwendige Bedingung einer voll verwirklichten Humanität. Juliane Rebentisch betont in ihrem Aufsatz »Demokratie und Theater«: »Ein in diesem Sinne volles Subjekt zeichnet sich nach Schiller vor allem dadurch aus, dass es zwischen den Trieben der Selbstbestimmung und des Bestimmtwerdens, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit vermittelt.«23

Wie aber lernt das Subjekt, der Mensch? Wie entwickeln wir Empathie, emotionale Intelligenz, Mut, Zivilcourage, ohne zu verbrennen, ohne zur RAF überzulaufen? Es braucht das Experiment, den Körper, alle Sinne, es braucht das Spiel. Den Spieltrieb haben wir, der spielende Mensch, der sich trauende Mensch, der auf der Bühne mordende Mensch, der malende Mensch, der seine Bilder nach außen kehrt, der singende, traurige Mensch. So wird der Mensch zu einem Menschen, der sich selbst und andere nicht unterdrücken muss, zum demokratischen Menschen. Das ästhetische Regime der Moderne setzt die alte Idee fort. Während wir heute, Walter Benjamin folgend, den Nationalsozialismus, das am stärksten antidemokratische Regime der Geschichte, als größtes Projekt einer Ästhetisierung der Politik beschreiben können, erleben wir zugleich, dass die Freilegung des Gedankens einer demokratischen Ästhetik genau dadurch erschwert wird. Die faschistische Inszenierung der Massen ist für Benjamin die Spitze einer »Ästhetisierung der Politik«. Alles sollte aufgehen in der Einheit der Masse zwischen Führer und Volk, dafür musste alles ausgelöscht werden, was dazu in Differenz oder Opposition stand. »Die totalitären Masseninszenierungen versinnbildlichen die Illusion einer Gesellschaft, die vollständig mit dem Bild, das die Macht von ihr gibt, übereingekommen ist.«24

Das einzige Publikum, das in dieser Inszenierung noch übrig geblieben ist, ist der Feind, der Außenstehende, der deportierte und ausgemerzte oder noch zu besiegende Feind. Das Theater ist schon lange als eigenständige Einrichtung, Idee oder Ort vernichtet, anstelle dessen hat eine eigene Theatralik Einzug gehalten. Walter Benjamin hat der Ästhetisierung der Politik, die der Faschismus betreibt, vor allem eine »Politisierung der Kunst« entgegengehalten, große Hoffnungen entwickelt, besonders hinsichtlich des Kinos. Für das Theater von Bertolt Brecht hat Walter Benjamin vor allem konstatiert, dass die Masse, das Publikum in eine Versammlung Interessierter transformiert werden sollte und damit etwas anderes ist als Masse. Von anderen traditionellen Künsten unterscheidet sich das Theater dadurch, dass es Handlungen darstellt, handelnde Menschen im Spiel vergegenwärtigt. Der Einwand Platons, bereits hier komme es zu einer Theatralisierung des Politischen, der Verschiebung der Aufmerksamkeit auf die Darstellung, statt auf das Handeln, statt auf den politischen Inhalt, lässt sich seit Friedrich Schiller, Bertolt Brecht und allen anderen Protagonisten des epischen postdramatischen Theaters nicht mehr aufrechterhalten. Das Theater macht im Spiel deutlich, dass die Trennung zwischen Person-Rolle und Figur oder Akteur und Publikum stets von zwei Körpern repräsentiert wird. Wie in der Politik: Regierende und Regierte, Staat und Gesellschaft, Demos und Ethnie, in Form von Repräsentation exponiert es diese Trennung. Es richtet sich gegen alle Mythen völkischer Gemeinschaft und sucht zugleich nach Formen der Aufhebung von Publikum und Spielern. Es entschlüsselt die illusionistischen Techniken und betont als avanciertes Theater seine eigene Theatralität. Indem es sich absetzt von Ethik und Moral, bestätigt es in einem schmerzhaften Prozess, was Friedrich Schiller am Morgen der Demokratien proklamierte, einen neuen und anderen in Richtung Demokratie eilenden Begriff der Ästhetik: »Dieser reine Vernunftbegriff der Schönheit, wenn ein solcher sich aufzeigen ließe, müßte also [...] auf dem Weg der Abstraktion gesucht und schon aus der Möglichkeit der sinnlich-vernünftigen Natur gefolgert werden können; mit einem Wort: die Schönheit müßte sich als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen.«25

Ein Theater, das die Differenzstruktur von Gesellschaft aufzeigt, statt falsche Masse zu bilden, ein Theater, das die Theatralik von Politik entlarvt, als Verschleierung von Inhalten oder Inhaltslosigkeit, wirkt mit Figuren wie Nora, Arturo Ui, der heiligen Johanna, dem Knecht Matti und Posa insofern demokratisch, als es durch Trennung und Aufzeigen getrennter Welten die Frage nach dem Demos stellt. Wer ist das Staatsvolk? Sind die Sklaven und Flüchtlinge exkludiert? Wie steht es um die Herrschaft, das kratein? Wird die Utopie gepflegt? Und ist die Aufhebung von Staat und Gesellschaft noch immer das Ziel? Das wäre etwas ganz anderes als die Einheit von Volk und Führer. Solange aber entpolitisierte Politiker – im Sinne des hier ent- wickelten Begriffs von Politik – über die Finanzmittel, die Intendanten oder das Personal entscheiden, wird Theater als Institution zunehmend unpolitischer wer- den und darin den Hochschulen folgen, in nie enden wollenden Evaluationsverfahren und Kontrollmecha- nismen versinken. Oder kommt es doch nicht so? Weil es immer noch das Subjekt gibt, das sich wieder und wieder auf den Weg macht, die Dinge nicht zu lassen, wie sie sind, das Leben als einmalig und daher kostbar anzusehen: David gegen Goliath.

1 Vgl. http://www.demokratie-goettingen.de/blog/ das-theater-als-ort-der-demokratie, 17.4.2019.
2 Ebd.
3 Ebd.
4 https://www.lr-online.de/ nachrichten/kultur/mord-und-suehne-und-die-geburt-der-demokratie_aid-2895640, 15.5.2019.
5 http://www.demokratie-goettingen.de/blog/ das-theater-als-ort-der-demokratie, 17.4.2019.
6 Ebd.
7 Ebd.
8 »Freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 II GG ist eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.« BVerfGE 2, 1 (Ls. 2, 12 f.).
9 Ridder, Helmut: Die soziale Ordnung des Grundgesetzes. Leitfaden zu den Grundrech- ten einer demokratischen Verfassung, Opladen 1975,
S. 60.
10 »Alle drei gewählten Bürgermeister fallen dadurch auf, dass sie wenig Profil bilden, dass sie ausschließlich eine Form der Repräsentationskultur bedienen«, heißtes dort. Und weiter: »KeinWort von einem kommunalen Politiker zur Waffenindustrie am Bodensee, kein Wort zu den ständig stattfindenden Umverteilungsprozessen der Pharmapolitik in der alemannischen Region, stattdessen wird das Thema des Konzils zu einer unpolitischen Werkschau, als stünden wir nicht gerade mit kriegerischenKonflikten an einem außenpolitischen Abgrund.«
11 Bürgermeister Osner fühlte sich so herausgefordert, dass er den Appell zur Empörung gleich wörtlich nahm und Nix beleidigt einen gepfefferten Brief schrieb. In dem Beitrag würden »unwahre Behauptungen verbreitet« und er und seine zwei Amtskollegen »in einer Weise angegriffen, die nicht mit einem konstruktiven, respektvollen Miteinander vereinbar ist«. Per Dienstanweisung ordnete er an, dass »öffentliche Verlautbarungen, Schreiben, Pressemeldungen etc.« künftig über seinen Schreibtisch und den des städtischen Pressesprechers zu gehen hätten.
12 Ridder, Helmut/Karl- Heinz Ladeur: Das sog. Politische Mandat von Universität und Studenten- schaft, Köln 1973, S. 26.
13 Crouch, Colin: Post- demokratie, Frankfurt a. M. 2008, S. 10.
14 Crouch, Colin: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Berlin 2011, S. 239.
15 RP online, 29.4.2014.
16 Crouch, Colin: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Berlin 2011, S. 247 u. 246.
17 Nix, Christoph: Theater_ Macht_Politik, Berlin 2016.
18 Müller, Klaus-Detlef: Der Philosoph auf dem Theater, in: Text und Kritik. Sonderband Bertolt Brecht I, München 1972, S. 45–71, hier S. 45.
19 Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler, Frankfurt a. M. 1989, S. 56.
20 Ebd.
21 Sonderegger, Ruth: Ästhetische Regime, in: Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien 2010, S. 8 f.
22 Schiller, Friedrich: 10. Brief über die ästhetische Erziehung, Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1966, S. 220.
23 Rebentisch, Juliane: Demokratie und Theater in: Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne?,
hg. v. Felix Ensslin, Berlin 2006, S. 71–81.
24 Rebentisch, Juliane: Die Kunst der Freiheit, Berlin 2012, S. 142.
25 Schiller, Friedrich: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Berlin 2016, S. 31.

Foto: SALOME, 2018. Regie: Vera Nemirova, mit: Sylvana Schneider. © Ilja Mess

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