Recherchen 128
Umbrüche und Aufbrüche
Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995
von Torben Ibs
Paperback mit 414 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-95749-093-3
Friedliche Revolution und deutsche Wiedervereinigung gingen an den Theatern im östlichen Deutschland nicht folgenlos vorbei. Bis 1989 oft genug gesellschaftliche Katalysatoren, bedeuteten die Folgejahre vor allem eins: Krise durch fehlendes Publikum und unsichere Finanzierung. Auch die Frage nach den Aufgaben und Zielen von Theaterarbeit stellte sich fundamental neu.
Torben Ibs untersucht nicht nur den Strukturwandel von Theatern und Kulturpolitik in Ostdeutschland. Im Fokus steht auch die Frage, wie sich das Verständnis von Theater im gesellschaftlichen Kontext verändert hat: Zwischen dem Willen zum Bewahren und dem Abschneiden alter Zöpfe eröffnet sich ein schillerndes und bisweilen widersprüchliches diskursives Feld im Wandel. Die erste empirische Bestandsaufnahme zum Elitenwandel im Theater Ostdeutschlands.
Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm
basteln zwei Knaben an einer Lokomotive herum,
die auf einem abgebrochenen Gleis steht.
Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick,
daß ihre Mühe verloren ist:
dieses Fahrzeug wird sich nicht bewegen,
aber ich sage es den Kindern nicht,
Arbeit ist Hoffnung,
und gehe weiter in die Landschaft, die keine andere Arbeit hat
als auf das Verschwinden des Menschen zu warten.
Heiner Müller, Der Auftrag1
Prolog
Am 11. Oktober 1989 wird das Berliner Ensemble nach halbjähriger Renovierung wieder eröffnet und seinem geordneten Theaterbetrieb für die 40. Spielzeit des Hauses übergeben. Intendant ist seit 1977 Manfred Wekwerth, zugleich Präsident der Akademie der Künste und Mitglied im Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Einer der Festredner ist Volker Braun. In seinem Prolog zur Eröffnung des BE heißt es in der vierten Strophe:
Unsere Bühne, Raum bietend
Den großen Widersprüchen
Wird wieder eröffnet.
Der Planwagen der Händlerin
Und der Eisenwagen der Genossen
Stoßen aufeinander. Was für alte
Fahrzeuge, die nicht wenden können! Ihre sichtbare
Schwierigkeit macht uns Mut
Zu einer andern Bewegung. Eröffnen wir
Auch das Gespräch
Über die Wende im Land.2
Die Wende ist also eine Erfindung des Theaters und Egon Krenz bedient sich am 18. Oktober 1989, als er auf der ZK-Tagung als neuer SED-Generalsekretär „Wende“ und „Dialog“ verspricht, offensichtlich der von Braun geschmiedeten Sprachmetapher. Das Theater und die Bürgerrechtsbewegung, von denen die Forderung nach Dialog stammt, beliefern die Politik. Der Diskurs der intellektuellen Dissidenz bricht sich Bahn bis in die Spitzen des Staates. Ob Krenz dabei das Gleiche unter Wende versteht wie Braun, ist unwahrscheinlich. Das Braunsche Bild lässt immerhin den Planwagen der Mutter Courage, Symbol des amoralischen Kapitalismus, und Lenins Panzerzug, Symbol des erstarrten Sozialismus, – beide gleichermaßen Blut saufend – ohne Wendemöglichkeit aufeinanderprallen. Reibung erzeugt Wärme. Die Hoffnung, ja, die Utopie ist, dass aus den freigesetzten Kräften, den stiebenden Funken, dem Splittern von Holz und Metall etwas Neues entsteht. Auferstanden aus überkommenen Gedankenruinen und der Zukunft zugewandt. Die Möglichkeit eines dritten Wegs. Eine solche Wende, wir wissen es heute, wird es nicht geben. Der stalinistische Panzerzug implodiert und die westdeutschen Mütter (und vor allem Väter) Courage sammeln in der Folge die Reste ein. Zwischen ihnen irren die orientierungslos gewordenen Chronisten und Landvermesser, die manche für Propheten halten, umher. Die Bonner Republik hat einen guten Magen. Sie wird ein ganzes Land auffressen und es – mit einigem treuhänderischen Magengrimmen – gut verdauen. Dass sie dabei eine andere wird, steht auf einem anderen Blatt der Geschichte. Über die DDR, diese Fußnote der Geschichte, wird der Engel derselben hinweggehen – im Planwagen. Und hinter seinem Rücken kann man noch lange die erkalteten und pittoresk anmutenden Fragmente des zerstobenen Panzerzugs erkennen. Doch einige Funken werden weitergetragen, einiges Glimmen verlöscht nicht. Diese Überreste setzen den Planwagen nicht in Brand, sind aber für manchen Mitreisenden wärmende Lichtquellen, die in die neue Umgebung eingepasst werden müssen. Dass sie dabei nicht dieselben bleiben, liegt auf der Hand. Von diesen Bearbeitungen, Lösch- und Anfachunternehmungen, diesem Beharren und Verändern spricht diese Arbeit. Und wie sie den bundesdeutschen Planwagen verändern.
1 Müller, Heiner, „Der Auftrag“, in: Werke, Frankfurt am Main 2008a, Bd. 5: 11–42, S. 33.
2 Braun, Volker, Lustgarten, Preussen. Ausgewählte Gedichte, Frankfurt am Main 2000, S. 139.
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Prologvon Torben Ibs | Seite 8 |
Erkenntnisinteressevon Torben Ibs | Seite 10 |
I. Teil: Zeitgeschichtliche Darstellung | |
Die Rolle der Theater im Herbst 1989von Torben Ibs | Seite 19 |
Die Rolle der Theater im Herbst 1989Beispielhafte Entwicklungen aus Karl-Marx-Stadt, Schwedt und Dresdenvon Torben Ibs | Seite 22 |
Die Rolle der Theater im Herbst 1989Die Zeit der Resolutionenvon Torben Ibs | Seite 29 |
Die Rolle der Theater im Herbst 1989Die Demonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989von Torben Ibs | Seite 37 |
Die Rolle der Theater im Herbst 1989Bilanzvon Torben Ibs | Seite 43 |
Kulturpolitische EntwicklungenKulturpolitische Entwicklungen zwischen Herbst 1989 und Herbst 1990von Torben Ibs | Seite 44 |
Kulturpolitische EntwicklungenKulturpolitik des neuen Deutschlandsvon Torben Ibs | Seite 54 |
Kulturpolitische EntwicklungenKooperations- und Rechtsformenvon Torben Ibs | Seite 66 |
Über wilde Mitbestimmung zum gesamtdeutschen TarifsystemDer Zusammenbruch des FDGB und seiner Gewerkschaftenvon Torben Ibs | Seite 85 |
Über wilde Mitbestimmung zum gesamtdeutschen TarifsystemNeue Mitbestimmungsmodellevon Torben Ibs | Seite 91 |
Über wilde Mitbestimmung zum gesamtdeutschen TarifsystemNeuorganisation der Gewerkschaften und Verbändevon Torben Ibs | Seite 103 |
Über wilde Mitbestimmung zum gesamtdeutschen TarifsystemFazit: Übernahme des Systems Westvon Torben Ibs | Seite 114 |
West-Importe und Reproduktion: Intendantenwechsel als kultureller ElitenwandelWest-Importe als gefühltes und empirisches Phänomenvon Torben Ibs | Seite 115 |
West-Importe und Reproduktion: Intendantenwechsel als kultureller ElitenwandelFallstudien zu West-Importenvon Torben Ibs | Seite 128 |
West-Importe und Reproduktion: Intendantenwechsel als kultureller ElitenwandelFallstudien zu jungen Wilden des Ostensvon Torben Ibs | Seite 140 |
II. Teil: Diskursanalyse oder die Vermessung des Bruchs | |
Theorie – Praxis – Methode: Der Werkzeugkastenvon Torben Ibs | Seite 150 |
Theorie – Praxis – Methode: Der WerkzeugkastenWelche Diskursanalyse?von Torben Ibs | Seite 151 |
Theorie – Praxis – Methode: Der WerkzeugkastenWelcher Diskurs?von Torben Ibs | Seite 153 |
Theorie – Praxis – Methode: Der WerkzeugkastenWelches Subjekt?von Torben Ibs | Seite 159 |
Theorie – Praxis – Methode: Der WerkzeugkastenVon der Theorie zur Methodevon Torben Ibs | Seite 162 |
Theorie – Praxis – Methode: Der WerkzeugkastenMethodisches Vorgehenvon Torben Ibs | Seite 164 |
Der Wandel des Ensemble-Begriffs im Zuge der SystemtransformationDas Ensemble im DDR-Theater und in den Theaterpolitischen Leitlinienvon Torben Ibs | Seite 167 |
Der Wandel des Ensemble-Begriffs im Zuge der SystemtransformationAufbrechen des Ensemble-Begriffsvon Torben Ibs | Seite 175 |
Der Wandel des Ensemble-Begriffs im Zuge der SystemtransformationDie Zukunft des Ensembleprinzips in einem vereinten Deutschlandvon Torben Ibs | Seite 179 |
Der Wandel des Ensemble-Begriffs im Zuge der SystemtransformationDiskursive Nutzung des Ensembleprinzips im vereinten Deutschlandvon Torben Ibs | Seite 184 |
Der Wandel des Ensemble-Begriffs im Zuge der SystemtransformationFazit: Das Ensemble wird bewahrtvon Torben Ibs | Seite 211 |
Die Frage nach Aufgabe und Publikumvon Torben Ibs | Seite 213 |
Die Frage nach Aufgabe und PublikumPublikum und Aufgaben des DDR-Theatersvon Torben Ibs | Seite 216 |
Die Frage nach Aufgabe und PublikumNeubestimmung der Aufgabe von Theater in einem neuen Deutschlandvon Torben Ibs | Seite 243 |
Die Frage nach Aufgabe und PublikumDas Publikum nach 1990von Torben Ibs | Seite 294 |
Diskursive Veränderungen im Feld der Kulturpolitikvon Torben Ibs | Seite 305 |
Diskursive Veränderungen im Feld der KulturpolitikÄnderungen im Verhältnis zwischen Kulturpolitik und Theatervon Torben Ibs | Seite 306 |
Diskursive Veränderungen im Feld der KulturpolitikDer Diskurs um die Schließung von Theatern und Spartenvon Torben Ibs | Seite 315 |
Diskursive Veränderungen im Feld der KulturpolitikFazit: Konvergenz, aber unterschiedliche Fragenvon Torben Ibs | Seite 326 |
III. Teil: Was bleibt | Seite 328 |
Was bleibtvon Torben Ibs | |
Anhang | |
Literaturverzeichnisvon Torben Ibs | Seite 334 |
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis | Seite 373 |
Anmerkungenvon Torben Ibs | Seite 375 |
Dankvon Torben Ibs | Seite 411 |
Der Autor | Seite 412 |
„'Und dann haben sie überall Wessis an der Spitze installiert.' Manche Mythen, wie der Verdacht, alle ostdeutschen Theater wären nach dem Mauerfall plötzlich in Intendantenhand aus dem Westen übergegangen, halten sich lang; bis mal einer kommt und nachschaut. Torben Ibs hat es getan.“Nachtkritik
„Eine interessante Materialsammlung, die über zum Teil bis in die Gegenwart anhaltende Diskussionen und Zustände informiert.“Kreuzer - Stadtmagazin
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Torben Ibs
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Bibliographie
Beiträge von Torben Ibs finden Sie in folgenden Publikationen:
70 Jahre Zukunft
Theater der Jungen Welt Leipzig
Recherchen 128
Torben Ibs
Umbrüche und Aufbrüche
Transformationen des Theaters in Ostdeutschland zwischen 1989 und 1995
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