Keine Tabus?

Christoph Schroth inszeniert Faust I und II am Schweriner Staatstheater 1979

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Auf der Schweriner Bühne werden auf die Worte der Schlussvision durch Faustdarsteller Heinrich Schmidt dann folgerichtig besonders explizite Betonungen angewendet: „auf FREIEM Grund, mit FREIEM Volke stehen“, heißt es da, ganz so, als sei das „Freie“ eben das Extraordinäre, das Nicht-Anwesende, das Verschiedene. „Zum Augenblicke DÜRFT ich sagen“, deklamiert Schmidt – die Irrealität, die Möglichkeit, die Sehnsucht nach der eben unerfüllten Vision der Figur wird klar herausgestellt.964 Weil diese Goethe-Passage in der DDR seit Ulbricht immer in Bezug zum eigenen Land gelesen wird, ist die hier vorgeführte Variante ein starkes und mutiges Statement. Sie räumt auf mit alten Versprechungen. Sie bedeutet im Klartext: „Dies ist nicht der freie Grund, dies ist nicht das freie Volk – wie schön wäre es, würden wir das noch erleben.“

3.3 Ausbruch

Schon zu Beginn der Aufführung wird die faustische Sehnsucht nach einem solchen höchsten Augenblick spürbar. Auf der Titelseite des großformatigen Programmheftes prangt ein Schwarz-Weiß-Foto vor orangefarbenem Hintergrund und zeigt den Blick vom eisernen Vorhang auf die hell erleuchtete Seitenbühne des Staatstheaters Schwerin. Wir erblicken eine schwarzgraue gewellte Metallwand – eine Absperrung, eine Barriere, ein dunkles, gewaltiges, beengendes, uniformes und kaltes Hindernis. Doch im unteren linken Teil des Bildes öffnet sich eine Tür hinter der gleißendes, weißes Licht einen Durchgang zu unbekanntem Ziel verheißt. Darüber in fetten Lettern: FAUST – DER TRAGÖDIE ERSTER UND ZWEITER TEIL. Die Titelfotografie ist der Szene „Osterspaziergang“ der Aufführung entnommen, genauer gesagt: dem Übergang zwischen den Szenen „Nacht“ und „Vor dem Tor“.

Die Übergänge sind es, die Schroth in dieser Inszenierung ganz besonders mitreißend, geradezu filmisch, herausarbeitet. In besagter, imposanter Blende aus der engen und abgesperrten faustischen Studierwelt in eine nunmehr abstrakte, phantasmagorische Vision des Idylls des Osterspaziergangs, die nichts mehr mit versöhnlicher Folklore der Langhoff-Ära zu tun hat, reißt der Faust-Darsteller die Sicherheitstür des eisernen Vorhangs, die Absperrung des faustischen Experimentierraums, brüllend, manisch, wie wahnsinnig auf und schreit sein „Vom Eise befreit“ in den Lichtkegel hinein. Es ist unnötig und würde zu weit führen, in dieser Szene die Aufforderung zur Republikflucht zu antizipieren, gleichwohl wirkt der vorgeführte Ausbruch aus einem Faust-Kerker, der seinerseits in blendende Ungewissheit führt, als ein starkes, subversives, fast symbolistisch-unterbewusstes Bild für eine bereits stattgefundene Transformation ostdeutscher Identität, die im Schweriner Theater chaotischer, komplexer und freier artikuliert werden kann als je zuvor. Bühnenbildner Jochen Finke bringt es auf den Punkt: „Weh! Steck ich in dem Kerker noch? / Verfluchtes Dumpfes Mauerloch. Jeder, der im September 1979 in Schwerin diese Wort hörte, hatte sehr konkrete Assoziationen.“965

3.4 Vier neue „Fäuste“ erlösen einen alten Faust

Auffälligstes Inszenierungsmerkmal ist sicherlich neben der Strichfassung966, die beide Teile der Faust-Tragödie in einen Theaterabend von etwa siebeneinhalb Stunden konzentriert967, die Besetzung von vier Darstellern, die sich die Faust-Rolle teilen. „Wie auf der Kasperbühne gibt es für jedes Lebensalter Fausts eine extra Charakterfigur“.968 Mephisto wird hingegen durch eine Frau besetzt, die souverän agierende Lore Tappe, „sicher der Glücksfall der Aufführung“.969 In Schroths Aufführung wäre ein strahlender Revolutionsheld hingegen völlig fehl am Platze und nach Schroth wird solcher auf den DDR-Bühnen ein für alle Mal unglaubwürdig und unmöglich. In Schwerin sehen wir, wie bei Dresen, zu Beginn einen Faust in der Krise970, danach aber auch einen jungen und leidenschaftlichen Faust, einen gereiften und liebenden Faust und später einen alten Faust als Kapitalisten und Industriellen. Schon durch diese Transformationen werden eine voranschreitende Entwicklung der Figur, ihre „Drehpunkte“ und „Metamorphosen“971 ganz unmittelbar und einleuchtend miterlebbar. „Wolf-Dieter Lingk als intellektueller Faust bis zur Hexenküche, Horst Kotterba als junger Faust der Gretchen-Handlung, Peer Jäger als Faust am Kaiserhof und Partner Helenas, Heinrich Schmidt als alter Faust.“972

Schroth ernennt mit diesen Umwandlungen der Titelfigur nicht zuletzt die Suche des eigenen Mediums nach faustischer figuraler Konkretisation zum szenischen Topos. Die Schweriner Aufführung bedeutet somit keinen Bruch mit dem alten Ideal, sondern endlich und endgültig seine szenische Überwindung. Die Faust-Figur wird vom Diktat der Vorbildlichkeit und vor allem von der darum kreisenden und in sich fruchtlos gewordenen Debatte – ob die Figur nun „vorbildlich“ zu sein habe oder nicht – befreit. Gleichzeitig machen Schroths vier „Fäuste“ die Auflösung von vermeintlicher Singularität eines (staatlichen) Lösungsangebots zur Faust-Deutung auf der Bühne nachvollziehbar. Faust hat viele Gesichter, allein diese Aussage erweist sich als hochpolitisch. „Bemüht die neuesten Ergebnisse der marxistischen Forschung einzubeziehen“ werde in dieser Aufführung Faust „nicht zur Vorbild-Figur hochstilisiert, sondern in seinen Widersprüchen begriffen“, dies sei ein Vorzug der Inszenierung. Dass diese Sätze im Neuen Deutschland abgedruckt werden, der Zeitung, die sich jahrzehntelang als Kustodin der Heldenfigur Faust versteht, zeigt, wie sehr sich die Dinge geändert haben.973 Gleichzeitig ist es hilfreich, dass Schroth ganz pragmatisch beide Teile an einem Abend spielen lässt. Damit entgeht er nämlich dem Dilemma, so wie Dresen am Schlusspunkt der denkbar tiefsten und negativsten Episode der Faust-Fabel – dem Ende der Gretchentragödie – aufhören zu müssen.974 Auswärtigem und Schweriner Publikum gibt man gleichzeitig die Chance, das Theaterereignis besser mitverfolgen zu können, da es ohnehin, so Schroth trocken, „nicht an mehreren Abenden hintereinander ins Theater zu bewegen sei“.975

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