Keine Tabus?

Christoph Schroth inszeniert Faust I und II am Schweriner Staatstheater 1979

von

3.5 Entdecken

„Mit der Darstellung der Dichtung FAUST an einem Abend soll das Werk in seinen gewaltigen Dimensionen nicht eingeschränkt werden. Wir zielen darauf, sie in ihren tatsächlichen Dimensionen in das Bewusstsein unseres Publikums zu rücken.“976

Das Regieteam rechtfertigt seine Konzeption mit einer vielbeschworenen Tugend des sozialistischen Systems: Fortschritt. Es ist des Schweriner Schauspieldirektors Geschick und Verdienst977, sich die sozialistische Rezeptionsgeschichte seines Stücks auf elegante Weise nutzbar zu machen.978 Durch ein sozusagen politisch unangreifbares Vokabularium in der Verwendung solch allgegenwärtig verbreiteter Losungsworte wie „Vorwärts“ und „Fortschritt“ als zentrale Ausgangspunkte seiner Konzeption werden letztlich die Problematiken und Misserfolge im sozialistischen Umgang mit dem Klassikertext untersucht und dargestellt, anstatt der Versuchung zu erliegen, diese zu glätten.

Das Theater muss, will es in unserem […] Sinne Volkstheater sein, die Bedürfnisse, die das Volk wirklich hat, versuchen nicht nur zu befriedigen, sondern immer neue Bedürfnisse, das sind immer ästhetische und politische Bedürfnisse, zu wecken und damit neue zu befriedigen. […] Für mich ist wirkliches Volkstheater der Ausdruck hoher politischer und ästhetischer Übereinstimmung zwischen Theater und dem Publikum.979

Die Aufführung wird im Rahmen des Theaterfestivals der sogenannten Schweriner DDR-Entdeckungen herausgebracht980. Der Titel wäre schwerlich besser wählbar gewesen. Entdeckungen implizieren das Forschen, das Auffinden, das überraschende Erkennen von Verborgenem, das unter einer bisher geschlossenen Oberfläche schlummert. Solches Ent-Decken wird zum Motto der Aufführung. Mit Faust entdeckt hier auch das Publikum einer ostdeutschen Provinzstadt seine DDR neu. Schroth hatte sein Publikum in jahrelanger Arbeit vorbereitet, ein Vertrauensverhältnis zu den Schwerinern aufgebaut.981 Schmalzbrote und Bier werden in den langen Pausen im Foyer gereicht982, das Publikum diskutiert angeregt, junge Zuschauer berichten begeistert in die Kameras des DFF983, wie gut ihnen dieser Faust gefällt, obwohl sie etwas ganz anderes erwartet hatten. Der Klassikerstaub, der sich „zentnerweise“984 auf dem hehren Goethetext niedergelassen hat (Brecht), wird weggeblasen, „jegliche Interpretationspatina bis auf den Grund abgekratzt“.985 Identität konstruiert sich im Schweriner Theater damit zwischen Zuschauerraum und Lobby in der spontanen Diskussion und nicht als organisierte und aufgesetzte Propaganda von oben.

„Wir nähern uns dem Werk mit großer Ehrerbietung, aber abgestandene Pietät, die in gewisser Weise diesem Kunstwerk immer noch entgegengebracht wird, können wir nicht teilen.“986 Auch dieser Faust wird einem Jubiläum, dem 30. Jahrestag der DDR gewidmet. Doch welch ein anderes Land scheint dies in Schwerin zu sein, als es zuvor in Weimar gefeiert worden ist.

3.6 Verfremdung

Die Methode, mit der Schroth eine identitäre Erwartungshorizontverschiebung in Faust durch einen geradezu virtuosen Einsatz theatralischer Mittel und Zeichen einrichtet, ist eine kühne, erfrischende, originelle und fantasievolle Regie, die mit ungewöhnlichen Neuerungen die Faust-Rezeption umkrempelt. Brechts Forderung, gegen die Einschüchterung durch Klassizität anzugehen, entnommen aus seinem Aufsatz „Humor und Würde“, aufgeschrieben anlässlich der Urfaust-Aufführung von 1953, wird in der Schweriner Aufführung verwirklicht und steht als eröffnendes Manifest auf der ersten Seite des Programmheftes. 1979, 26 Jahre nach Verfassen des Textes hat der Theatermann Brecht also noch nach seinem Tod, quasi als „Stafettenläufer der großen Wahrheit“987 (Eisler) mit seinen Ideen die Dialektik ins Theater der Ära Honecker zurückgetragen. Schroth versteht diese Wahrheit nicht als oppositionelle oder dem Sozialismus ungemäße Auffassung, so wie man sie in den 1950ern und 1960ern bestraft hat, sondern explizit als eigenständige, DDR-immanente und wertvolle, kulturelle Konzeption. Mit der nun endlich auch szenisch ablesbaren Wiederentdeckung Brechts fordert Schroth ein Besinnen auf die Qualitäten und Chancen dieser Aspekte ostdeutscher Theaterkunst. Insofern ist das DDR-Theater, was Faust angeht, mit der Schweriner Aufführung durchaus an einem Ziel angekommen. Der Bezug auf den epischen Urfaust kann echter und direkter stattfinden als etwa bei Bennewitz in Weimar 1965, der ebenso die Arbeit Brechts durchaus wahrgenommen, jedoch szenisch nicht deutlich umsetzen konnte. In Schwerin sind es gerade die ehemalige Borniertheit und Enge der „Vollstrecker“-Mentalität, die den theatralischen Motor des Ensembles tüchtig befeuern. Hanns Eisler sagte im Interview mit Hans Bunge:

Es ist die große Verfremdung, wissen Sie, des Kasperls, des Wurschtl-Theaters, der Volkskunst. Brecht hat die Verfremdung nicht erfunden. Er hat sie nur auf eine enorme Höhe gebracht und sie neu angewendet in der hohen, klassischen Form. Er hat sie von den Jahrmärkten geholt auf die deutsche Bühne, wo er den Naturalismus und das Luxustheater damit bekämpft hat. Das darf man nicht vergessen.988

Schroth hat das nicht vergessen. Es ist ein Glücksfall, dass es in der DDR tatsächlich gelungen ist, diese Verbindungen zwischen 1953, 1965 und 1968 szenisch herzustellen, spricht dieses Schweriner Ergebnis doch von einer in Jahrzehnten gewachsenen, dialektisch-künstlerischen Synthese.989

Meistgelesene Beiträge

Alle

auf theaterderzeit.de

Welt als Kulisse

  1. Basel Blicke Im April 2001 stieg die Bühnenbildnerin Barbara Ehnes in Basel…

Echt kein Brecht

Blackfacing ließe sich als Verfremdungseffekt nutzen – wenn der Rückgriff darauf reflektiert würde

Theater-News

Alle

auf theaterderzeit.de

Autorinnen und Autoren des Verlags

A - Z

Bild von Dirk Baecker

Dirk Baecker

Bild von Falk Richter

Falk Richter

Bild von Ralph Hammerthaler

Ralph Hammerthaler

Bild von Joachim Fiebach

Joachim Fiebach

Bild von Hans-Thies Lehmann

Hans-Thies Lehmann

Bild von Josef Bierbichler

Josef Bierbichler

Bild von Bernd Stegemann

Bernd Stegemann

Bild von Etel Adnan

Etel Adnan

Bild von Friedrich Dieckmann

Friedrich Dieckmann

Bild von Christine Wahl

Christine Wahl

Bild von Lutz Hübner

Lutz Hübner

Bild von Sasha Marianna Salzmann

Sasha Marianna Salzmann

Bild von Heiner Goebbels

Heiner Goebbels

Bild von Dorte Lena Eilers

Dorte Lena Eilers

Bild von Kathrin Röggla

Kathrin Röggla

Bild von Gunnar Decker

Gunnar Decker

Bild von Nis-Momme Stockmann

Nis-Momme Stockmann

Bild von Michael Schindhelm

Michael Schindhelm

Bild von Milo Rau

Milo Rau

Bild von Wolfgang Engler

Wolfgang Engler