Im Dickicht des Einst

von

Das Theater Neumarkt ist in vieler Hinsicht antiker, ursprünglicher, „randständiger“ – mehr am Rande der polis gelegen als die grossen Theaterbauten, die eine repräsentative Funktion übernommen haben. Das Niederdorf, in dessen „Herzen“ das Theater laut Reiseführer liegt, ist inzwischen selbst „abgerutscht“, nach aussen gerückt, abseits der Ausgeh- und shopping-Viertel und des financial district. Das Gebäude wirkt kaum repräsentativ. Seine Architektur, ein Zunftsaal mit langer Geschichte, ist speziell und zwingt zu besonderen künstlerischen Lösungen ohne Bühnenmaschinerie; die Intimität und Nähe werden je nach Raumkonzept immer anders erfahren und sind eine Herausforderung. Grenzen sind hier nie ganz ausdefiniert – kurz: ein aussergewöhnlicher Raum. Die von Skeptikern vorgebrachte Meinung, dies sei kein Ort für zeitgemässes Theater, ist abwegig. Theater lässt sich auf den Raum ein, an dem es entsteht, verbindet sich, verschmilzt mit ihm. Gerade als Gegenmodell einer „zeitgemässen“, schon für die Tournee produzierten Arbeit, die kompatibel mit allen möglichen Spielorten und Förderbestimmungen sein muss, ist es modern und zukunftsfähig.

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Wofür ist Theater gut, was kann es?

Für Alain Badiou „erhellt das wirkliche Theater unsere Existenz und unsere geschichtliche Situation, und zwar jenseits oder außerhalb der herrschenden Meinung“. Das bedeutet mehr als die übliche Rede vom Theater, das „Bewusstsein schafft“. Es geht nicht lediglich darum, Erkenntnisse zu verbreiten, die bereits vorhanden sind und die auf diese Weise ein schönes Forum bekommen. Vielmehr kommt es darauf an, etwas Erhellendes erst einmal zu erzeugen. Das kann vieles sein, eine Begegnung, ein ungewöhnliches Aufeinandertreffen von Texten, Künstlern, Materialien, Stoffen und auch von Menschen, die nichts mit Theater zu tun haben. Das lässt sich teilweise programmieren, entscheidend ist aber das Unvorhergesehene, das sich ereignet. Oder eben nicht. In diesem Sinn ist es dann sinnvoll, von Experiment zu sprechen, analog zu einem Versuchsaufbau im Labor. Das kann man auch heute noch tun – und es unterscheidet sich doch sehr vom Assoziationswust, der einem bei der Formel „experimentelles Theater“ entgegenschlägt – der Formel, die mittlerweile aus dem Leitbild des Theaters getilgt wurde.

Das „wirkliche Theater“ ist auch eines, das notwendig in Verbindung zur Vergangenheit steht. Das gilt schon für die Theaterarbeit selbst. Sogar die Inszenierung eines ganz neuen Textes kommt nicht aus ohne Anleihen an Vergangenes. Sowenig wie ein Text selbst das könnte. Desgleichen Kostüme, Bilder, Figuren, Stoffe, Dramaturgie, Stücke. Zu reden wäre auch über die Erfahrungen, Gefühle, Reminiszenzen, aus denen die beteiligten Künstler schöpfen. Es sind ja auch alte Bahnen und Verbindungen, in denen unsere Existenz sich bewegt. Benjamin macht in den eingangs zitierten Thesen aus „Über den Begriff der Geschichte“, die eigentlich eine Theorie der Revolution sind, von Anfang an klar, dass unser Bild von Glück sich aus der Vergangenheit speist, nicht aus vagen Utopien für die Zukunft. Das Theater Neumarkt – das soll nicht ganz vergessen sein – spielt an einem „der geschichtsträchtigsten Orte in ganz Zürich“, schreibt René Zeller, Herausgeber eines neuen Bandes über das Zunftgebäude (NZZ Libro). Seine Geschichte beginnt nicht erst 1966. Der Neumarkt 5 ist eine ungeheure Zeitmaschine, die Spurenelemente, Gerüche und Echos der Wiedertäufer, Schuhmacher, Zünftler, Wanderarbeiter, Sozialdemokraten und natürlich der Schauspieler sind nicht auszulüften. Lenin besuchte dort den Arbeiterbildungsverein „Eintracht“ und las diverse Manifeste erstmals öffentlich vor. Was für ein Ort für ein Theater.

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