Heft 06/2019
Abgründe des Alltäglichen
Das Staatstheater Braunschweig
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Mitte Mai trat Thomas Meinecke an der Technischen Universität Braunschweig die Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender in der literarischen Welt an. Der Münchner Schriftsteller, Theoretiker und DJ arbeitet seit seinem 1998 erschienenen Roman „Tomboy“ daran, wie er kürzlich wieder in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung erläuterte, die Position des schreibenden Mannes zu unterlaufen. Als männlich definiert Meinecke, in Anlehnung an Hélène Cixous’ in den siebziger Jahren entstandenen Begriff der écriture feminine, ein Schreiben, welches immer gleich einen Herrschaftsanspruch mit „abspritzt“. Die zum diesjährigen Theatertreffen eingeladene Inszenierung „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ von Claudia Bauer spritzte in diesem Sinne gewaltig mit Dominanzgebaren um sich. Eine giftige Farce auf das männlich-dominante Prinzip, dem das Berliner Festival auf realpolitischer Ebene mit „Burning Issues“, einer Konferenz zu Gender(un)gleichheit, beikommen wollte, sowie mit der teils umstrittenen Entscheidung, der Jury für zwei Jahre bei ihrer Auswahl der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen eine Regisseurinnen-Quote von fünfzig Prozent zu verordnen.
Der diesjährige Alleinjuror des Martin Linzer Theaterpreises hingegen hatte keine Quote nötig: Mit dem Staatstheater Braunschweig geht der von unserer Zeitschrift traditionell im Juni verliehene Preis für herausragende künstlerische Leistung an ein Haus, das zu hundert Prozent von einer Frau geleitet wird. Dagmar Schlingmann ist seit der Spielzeit 2017/18 Generalintendantin des Fünfspartentheaters – und gewann prompt das Herz von TdZ-Redakteur Gunnar Decker. „Dagmar Schlingmann hat … eine eigene Handschrift im Umgang mit klassischen Texten der Moderne geprägt: einerseits eine Form präzis gehandhabter analytischer Skelettierung tradierter Aufführungsmuster, andererseits das Schaffen von immer vorläufigen Freiräumen für Eigenes, das im Spiel erst entsteht“, so Decker in seiner Laudatio. Wie schwer ein solches Theater zu erschaffen ist und zu welcher Leichtigkeit es zugleich fähig ist, beschreibt Braunschweigs Hausregisseur Christoph Diem.
Während mit Milo Rau am NTGent und Stephanie Gräve am Vorarlberger Landestheater zwei hochspannende Intendanzen ihr erstes Jahr mit großem Erfolg bestritten haben, wie Jakob Hayner und Bodo Blitz berichten, gehen zeitgleich im Sommer Intendanzen zu Ende. Mit Lars-Ole Walburg am Schauspiel Hannover, Reinhard Simon an den Uckermärkischen Bühnen Schwedt, Peter Kastenmüller und Ralf Fiedler am Theater Neumarkt in Zürich und Joachim Kümmritz in Neubrandenburg/Neustrelitz und Rostock verabschieden wir fünf Intendanten, auf deren Posten im Falle von Hannover und Zürich Intendantinnen folgen. Hat die Männerdämmerung bereits begonnen? Keinesfalls. Dorte Lena Eilers, Tom Mustroph und Gunnar Decker erinnern an große künstlerische und auch politische Momente, die diese Häuser entscheidend geprägt haben. In Hannover etwa war zum Abschluss der Ära Walburg der norwegische Künstlers Lars Ø Ramberg zu Gast, der sich 2005 mit seinem riesigen Schriftzug ZWEIFEL auf dem Berliner Palast der Republik nachhaltig in die Geschichte der Stadt eingeschrieben hat. Wir haben Lars Ø Ramberg unser Künstlerinsert gewidmet, für das Hannovers Chefdramaturgin Judith Gerstenberg einen Text über das Ramberg’sche Prinzip des Zweifels verfasst hat.
Oder ist der Zweifel gar ein weibliches Prinzip? Laut Thomas Meineckes Poetiktheorie könnte man es so sehen. Das weibliche Schreiben, sagt er, sei ein ozeanisches Schreiben. Es bringe nicht abgeschlossene Texte hervor, die nicht von Anfang an mit Definitionsmacht auftreten, sondern einen stattdessen im Nachdenken über die Sprache und die Person, die da gerade schreibt, mitnehmen. So ließe sich auch, auf das Spiel übertragen, die Bühnenpräsenz von Gabriela Maria Schmeide beschreiben. Gerade weil sie stark sei, schreibt Gunnar Decker in seinem Porträt, habe sie es nicht nötig, Härte zu zeigen.
Der Opernkomponist Detlev Glanert brachte kürzlich mit seiner Oper „Oceane“ eine ähnlich faszinierende Figur auf die Bühne der Deutschen Oper Berlin. Angelehnt an eine Geschichte Theodor Fontanes, zeichnet er eine mystische Meerfrau, die für unseren Kolumnisten Ralph Hammerthaler jenseits der Geschlechter liegt. Mit dem Wissen einer Schamanin, schreibt er, verkörpere sie das Leben an sich. „Sie selbst ist das Flackern, das Verlöschen, das Flackern, immer so fort.“ //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Arbeitenvon Lars Ø Ramberg | Seite 4 |
Im Zweifel für den ZweifelDer Künstler Lars Ø Ramberg stellt mit seinen installativen Werken Gewissheiten infrage – und öffnet so neue Denkräumevon Judith Gerstenberg | Seite 8 |
Thema | |
Laudatio zum Martin Linzer Theaterpreis 2019von Gunnar Decker | Seite 11 |
Die ungenaue AufgabeÜber die schwere Leichtigkeit des Theaters und all die Gründe zur Freude und zum Ärger, die es am Staatstheater Braunschweig gibtvon Christoph Diem | Seite 14 |
Protagonisten | |
Flämischer MeisterMilo Rau verwirklicht in seiner ersten Spielzeit als Leiter des NTGent seine Idee eines globalen Realismusvon Jakob Hayner | Seite 16 |
Radikal aufgeklärtDas Vorarlberger Landestheater im idyllischen Bregenz befindet sich unter Intendantin Stephanie Gräve im Aufbruchvon Bodo Blitz | Seite 19 |
Die Stärke der SchwachenDie Schauspielerin Gabriela Maria Schmeide zeigt auf eine unnachahmliche Weise Figuren, die ihr Schicksal annehmen, ohne zu resignieren – ein Porträtvon Gunnar Decker | Seite 22 |
Kolumne | Seite 25 |
Oceane ElevenRudern hilft – der Opernkomponist Detlev Glanertvon Ralph Hammerthaler | |
Protagonisten | |
Die UnbestechlichenLars-Ole Walburg hat während seiner Intendanz am Schauspiel Hannover bewiesen, wie man eine Stadt gewinnt, ohne sich künstlerisch zu verbiegen. Ein Rückblickvon Dorte Lena Eilers | Seite 27 |
Der Ritter der TafelrundeNach 29 Jahren tritt Reinhard Simon als Intendant der Uckermärkischen Bühnen Schwedt abvon Tom Mustroph | Seite 29 |
Wir lagen mit der Stadt auf der CouchPeter Kastenmüller und Ralf Fiedler über ihre Intendanz am Theater Neumarkt in Zürich im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers, Peter Kastenmüller und Ralf Fiedlerzum Online-Extra: Wir lagen mit der Stadt auf der Couch | Seite 30 |
Bauen und SpielenJoachim Kümmritz rettete einst das Staatstheater in Schwerin – nun enden seine Intendanzen in Neubrandenburg/Neustrelitz und Rostockvon Gunnar Decker | Seite 33 |
Von Afrika lernenFrank Heuel inszeniert mit „Brillante Saleté – Glänzender Dreck“ ein Rechercheprojekt über unkontrollierten Goldabbau in Burkina Fasovon Irma Dohn | Seite 34 |
Look Out | |
Empfinden mit dem AugeDie Kostümbildnerin Nuria Heyck erzählt mit einer Begeisterung für Materialien und Oberflächen eigene Geschichtenvon Jakob Hayner | Seite 36 |
Textsezierer und SchauspielerlauscherDer Regisseur Alek Niemiro zeigt am Thalia Theater Hamburg, dass Grenzgänge das Risiko wert sindvon Natalie Fingerhut | Seite 37 |
Auftritt | |
Bautzen: Großes Welttheater auf kleiner BühneDeutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen: „Die Orestie“ von Aischylos. Regie Mario Holetzeck, Ausstattung Linda Kowsky, Choreografie Gundula Peuthertvon Michael Bartsch | Seite 39 |
Berlin: Die große SardinenfrageRambazamba Theater: „Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn. Regie und Bühne Jacob Höhne, Kostüme und Maske Beatrix Brandlervon Gunnar Decker | Seite 39 |
Chemnitz: Im FamiliengettoSchauspiel Chemnitz: „Einsame Menschen“ von Gerhart Hauptmann. Regie Nina Mattenklotz, Ausstattung Johanna Pfauvon Michael Bartsch | Seite 40 |
Dresden: Missglückter Versuch eines Theatrum MundiStaatsschauspiel Dresden: „Eine Straße in Moskau“ (UA) nach dem Roman von M. Ossorgin, in einer Fassung von J. Bochow und S. Baumgarten. Regie Sebastian Baumgarten, Ausstattung Christina Schmittvon Michael Bartsch | Seite 42 |
Ingolstadt: Aktualisierung mit dem HolzhammerStadttheater Ingolstadt: „Wege des Helden. Siegfried“ von Donald Berkenhoff (UA). Regie Donald Berkenhoff, Bühne Fabian Lüdicke, Kostüme Andrea Fisservon Sabine Leucht | Seite 43 |
Mainz: Ausstattungsapokalypse?Staatstheater Mainz: „Ljod − Das Eis − Die Trilogie“ nach V. Sorokin, in einer Fassung von J.-Ch. Gockel, R. Reuter und B. Ritter. Regie J.-Ch. Gockel, Bühne J. Kurzweg, Kostüme D. Joistenvon Marcus Hladek | Seite 44 |
München: Meditation über die Nichtigkeit der ZeitMünchner Kammerspiele: „Drei Schwestern“ von Susanne Kennedy nach Anton Tschechow. Regie Susanne Kennedy, Bühne Lena Newton, Kostüme Teresa Verghovon Sabine Leucht | Seite 45 |
Pforzheim: Keine papierenen GedankenTheater Pforzheim: „Fahrenheit 451“ nach dem Roman von Ray Bradbury in einer Fassung von Hannes Hametner. Regie Hannes Hametner, Bühne Jörg Brombacher, Kostüme M. v. Stritzky u. L. Pflügervon Elisabeth Maier | Seite 46 |
Vitte: LäuterungsinselSeebühne Hiddensee: „Robinson Crusoe“ nach dem Roman von Daniel Defoe. Regie Holger Teschke, Bühnenmalerei Jens Steinberg, Kostüme Katharina Schimmelvon Markus Metke | Seite 47 |
Zürich: Blitzgescheit aus- und abgeschweiftSchauspielhaus Zürich: „Justiz“ nach dem Roman von Friedrich Dürrenmatt, in der Bearbeitung von Frank Castorf u. Amely Joana Haag. Regie Frank Castorf, Bühne A. Denić, Kostüme A. B. Peretzkivon Dominique Spirgi | Seite 48 |
Stück | |
Waffen gegen die IdiotieDietmar Dath über sein neues Stück „Die nötige Folter“ im Gespräch mit Jakob Haynervon Dietmar Dath und Jakob Hayner | Seite 50 |
Die nötige FolterSpiel für sechs Unschuldige und ein Bildvon Dietmar Dath | Seite 52 |
Magazin | |
Der Repression trotzenTürkische Theatermacher überzeugen beim Heidelberger Stückemarkt mit politischen Stoffen – die neue Dramatik spiegelt die Brüchigkeit der Demokratievon Elisabeth Maier | Seite 65 |
Theater mit AussichtDas LOFFT bezieht neue Räume in der Leipziger Baumwollspinnerei – und feiert den langersehnten Umzug mit einem großen Eröffnungsfestivalvon Maximilian Huschke | Seite 66 |
Geschichten vom Herrn H.: Eine Bühne für Volksfeindevon Jakob Hayner | Seite 67 |
Widerständiges aus NiederbayernJuden, Muslime, Frauen: Die 2. Landshuter Sperr-Tage denken das Thema Ausgrenzung komplex weitervon Sabine Leucht | Seite 68 |
Wie jetzt, neu?Schreiben für eine offene Gesellschaft – Die Reihe „Gäste, Gäste – Neue deutsche Dramatik“ am Teatr Współczesny in Szczecinvon Dorte Lena Eilers | Seite 69 |
Die Seele im WaldDer Hörspielpreis der Kriegsblinden geht an Susann Maria Hempelvon Thomas Irmer | Seite 70 |
Netzwerker des WelttheatersZum Tod des Leipziger Theaterwissenschaftlers Rolf Rohmervon Gottfried Fischborn | Seite 71 |
Unendlicher SpaßZusammenedition schlingensief: Chance 2000 – Die Partei der letzten Chance; Kunst und Gemüse, A. Hipler; Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mirvon Thomas Irmer | Seite 72 |
Abgesang auf ein TheaterlebenNorbert Kentrup: Der süße Geschmack von Freiheit. Kellner Verlag, Bremen/Boston 2018, 560 Seiten, 18,90 EUR.von Henning Fülle | Seite 72 |
MemorialGünther Weisenborn: Memorial. Hg. von Carsten Ramm; Bist du ein Mensch, so bist du auch verletzlich. Hg. von Carsten Ramm, Verbrecher Verlag, Berlin 2019von Erik Zielke | Seite 73 |
Meldungen | Seite 74 |
PremierenJuni 2019 | Seite 76 |
TdZ on Tour | Seite 78 |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Autoren Juni 2019/Vorschau | |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Tobias Rehberger?von Otto Paul Burkhardt und Tobias Rehberger |
Michael Bartsch
Bodo Blitz
Otto Paul Burkhardt
Dietmar Dath
Gunnar Decker
Christoph Diem
Irma Dohn
Dorte Lena Eilers
Ralf Fiedler
Natalie Fingerhut
Gottfried Fischborn
Henning Fülle
Judith Gerstenberg
Ralph Hammerthaler
Jakob Hayner
Marcus Hladek
Maximilian Huschke
Thomas Irmer
Peter Kastenmüller
Sabine Leucht
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Markus Metke
Tom Mustroph
Lars Ø Ramberg
Tobias Rehberger
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Erik Zielke
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Wir lagen mit der Stadt auf der CouchPeter Kastenmüller und Ralf Fiedler über ihre Intendanz am Theater Neumarkt in Zürich im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers, Peter Kastenmüller und Ralf Fiedlerzum Online-Extra: Wir lagen mit der Stadt auf der Couch |
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