Antje Vollmer hat die Hosen an und geht mit Theaterleuten essen: In Zittau steht wieder einmal das Theater auf der Kippe, diesmal endgültig. Für das Gerhart-Hauptmann-Theater läuten sächsische Sparkommissare und andere Kulturfeinde zum 200. Geburtstag des kleinen Stadttheaters die Totenglocken. Wie weit wird man sie hören? Bis nach Dresden in den Landtag? Das will man hoffen. Bis nach Berlin in den Bundestag? Wohl kaum.
Zwar gab es dort gerade eine Anhörung der Bundestagsfraktion der Grünen zum Thema "Wozu das ganze Theater?", und Dr. Antje Vollmer konnte eine ansehnliche Liste gestandener Theatermacher zur Audienz bitten. Doch Eindruck machte auf die theaterbegeisterte Bundestagsvizepräsidentin nicht etwa die Not in der Lausitz (mit keiner Silbe erwähnt), sondern der fur solche Gelegenheiten immer besonders gut aufgelegte Christoph Schlingensief. Der strich noch einmal seine sozialen Giftmischerqualitäten heraus, schließlich ist er Apothekersohn. Wenn das Theater kränkelt oder dem Publikum unwohl ist (wie es der Aufsichtsrat des Zürcher Schauspielhauses der Marthaler-Mannschaft gerade auch wegen Schingensiefs "Hamlet" dort attestiert), dann hat der Strubbelkopf selbstredend ein Rezept als Chance 2002 zur Hand. Basteltheater! "Hamlet" zum Selbermachen für die ganze Familie. Königsgewänder aus alten Tischdecken, der leere Tisch ist gleich ein Thron, und die wohnzimmerkompatible Strichfassung liefert zusammen mit der Musik der Oberhausener Subversiv-Maestro aufeigenem Label. Warum nicht?
Der gewohnt clowneske Auftritt im Reichstagsgebäude ging trotz des "Lieber Christoph"-Augenaufschlags über die Halbbrille von Frau Vollmer voll nach hinten los. Denn hinter dieser "Anhörung" steckte letztlich die tiefsitzende Sehnsucht nach verharmlosender Bestätigung aller Probleme - und sonst nichts. Die Volksbühne? Toll wie das läuft, wenn jetzt das Theater sich gar nicht mehr als Theater definiert, sondern als kreatives Unternehmen. (Kann man also bald besteuern statt subventionieren.) Die neuen Autoren? Schreiben zwar am "Zentrum unserer Wirklichkeit" vorbei, aber irgendwie hat das auch mit Feigheit zu tun, ist ja nicht so schlimm. (Kennen wir auch anderswo.) Das Theater in Mülheim macht sich immer noch, nach zwanzig Jahren? Mensch, ich war schon so lange nicht mehr da. (Muss ich da wirklich nochmal hin?) In solchen Momenten wirkt Schlingensieffür alle - egal, ob sie sich wirklich ärgern oder gerade nur ihre Prise Politentertainment sniffen - wie eine Befreiung. Aber, bei dieser Reichstagskuppelei, zu welchem Ende hin?
Auch in Wien ist nicht alles Wien, was zu glänzen scheint. Cornelia Niedermeier rechnet in ihrer Wiener Inventur ab mit allem, was vor den Suchfiltern neidischer deutscher Kulturredakteure hängenbleibt und weshalb Wien, die große Theatermetropole, eigentlich schon keine mehr ist (S. 4). Auch deshalb haben wir uns gedacht, wir legen die im letzten Jahr auf einigen Zuspruch stoßende Serie über "Theater in der Provinz" - nicht nur wegen Zittau - wieder auf. Ein problematisches Fusionstheater im östlichen Norden (Stralsund-Greifswald) und zwei kleine Bühnen (das Grenzland-Theater Aachen und Annaberg·Buchholz), beide weit über 1000 km voneinander entfernt. Peripherien? (S. 36) Fortsetzung folgt.
Einar Schleef hat sich stets an den Grenzen des im Theater Machbaren bewegt, oft darüber hinweg, von Anfang an. Dass in seiner Inszenierung von "Frühlings Erwachen" 1974 am Berliner Ensemble aus heutiger Sicht schon die Keime seines chorischen Theaters zu entdecken sind und wie diese in heute längst vergessenen Umständen sich entwickelten, ist vor dem Abdruck der nicht mehr abgeschlossenen "Totentrompeten 4" nachzulesen (S. 57), gefolgt von einem Gespräch mit den drei Schauspielerinnen, die in Schwerin die bisherigen "Totentrompeten"-Uraufführungen spielten. Das "Arbeitsbuch Einar Schleef" erschien im Dezember; das große Echo, das diese Publikation hervorruft, fünf Monate nach dem Tod des vielgestaltigen und viel gestaltenden Künstlers, ist Anlass, das nachgelassene Stück entsprechend zu begleiten. Schließlich kam diese Wucht, damals wie heute, aus der "Provinz".
Die Redaktion
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Editorial | Seite 1 |
Antje Vollmer hat die Hosen an und geht mit Thaterleuten essen | |
Österreich | Seite 4 |
Das Theater als geriatrische AnstaltUnkeusche Blicke auf das angebliche Wiener Theaterwundervon Cornelia Niedermeier | |
Tanztheater | Seite 8 |
Die Macht der PhysisDie Choreografin Meg Stuart am Zürcher Schauspielhausvon Christina Thurner | |
Dramatiker wiedergelesen | Seite 10 |
Der StörenfriedZu Louis-Ferdinand Celines Komödie "Die Kirche"von Ulrich Zieger | |
Ausbildung | Seite 15 |
Das ABC des DichtensSzenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlinvon Anja Dürrschmidt | |
Rollenbild | Seite 18 |
Der Sex ist die Norm ist das SchafSandra Hüller spielt in Leipzig eine schillernde Frau unter Surrealistenvon Ralph Gambihler | |
Dänemark | Seite 20 |
Die Welle bricht sich ihren WegNeue dänische Dramatik steht zur Entdeckung bereitvon Jesper Bergmann | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 24 |
Geduldsspiel LebenJokum Rohdes Stück "Nero" an den Kammerspielen Lübeckvon Matthias Schmidt | |
Heiner Müller | |
Das DuellText aus dem Nachlassvon Heiner Müller | Seite 26 |
Energie der SelbstmordattentateZur Politik des Messianischen im Blick Heiner Müllersvon Frank M. Raddatz | Seite 28 |
Schießen Schreien SingenHinweise zu Musik und Musikalität bei Heiner Müllervon Joscha Schaback | Seite 30 |
Festival | |
Eine Affaire mit dem PublikumDas vierte SPIELART-Festival in Münchenvon Tristan Berger | Seite 32 |
Bodybilder, Körpertheater"Leibesvisitationen" bei der 11. euro-scene Leipzigvon Sven Crefeld | Seite 34 |
Theater in der Provinz | |
Der Charme des KleinerenDas Grenzlandtheater Aachenvon Christian Peiseler | Seite 36 |
Der heiße Atem der Kunst auf zugigen BerghöfenDas Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholzvon Sven Crefeld | Seite 38 |
Fusionsgeschädigt, aber auf dem Weg der BesserungGreifswald + Stralsund = Theater Vorpommernvon Martin Linzer | Seite 40 |
Stück Extra | Seite 42 |
Magazin des Glücks IIIDEPONIEvon Dea Loher | |
Auftritt | |
"Tristano" von Lars Norén und "Titus Andronicus" am Deutschen TheaterBerlinvon Anja Dürrschmidt und Thomas Irmer | Seite 44 |
Uraufführung "Club der Enttäuschten" von Felicia ZellerKonstanzvon Bodo Blitz | Seite 46 |
Uraufführung "Monolog für die Stabhochspringerin" von Andreas LaudertBielefeldvon Jörg Buddenberg | Seite 47 |
Uraufführung "Akt ohne Gnade" von Lars NorénDarmstadtvon Jens Knorr | Seite 48 |
Kammerspiele - "4.48 Psychose", "Askestis", "Traum im Herbst"Münchenvon Katja Werner | Seite 49 |
Schaubühne / Schauspielhaus - Sarah Kanes "4.48 Psychose" in Falk Richters RegieBerlin / Zürichvon Anja Dürrschmidt | Seite 51 |
"Drei Schwestern" von Jaqueline Kornmüller inszeniertStuttgartvon Otto Paul Burkhardt | Seite 52 |
Inszenierungsprojekt "Schwarze Nächte Geld" am carrouselBerlinvon Gudrun Rohmann | Seite 53 |
Erstaufführung von Moritz Rinkes "Der Mann der noch keiner Frau Blöße entdeckte"Bordeauxvon Thomas Irmer | Seite 56 |
Stück | |
Ein Frühlings Erwachen im Berliner EnsembleÜber Einar Schleefs Anfänge als Regisseurvon Hans-Jochen Irmer | Seite 57 |
Sangerhausen in SchwerinWie die "Totentrompeten"-Schauspielerinnen Schleefs Serie erlebtenvon Martin Linzer, Ute Kämpfer, Gretel Müller-Liebers und Lore Tappe | Seite 60 |
Gute Reise auf WiedersehenTOTENTROMPETEN 4von Einar Schleef | Seite 62 |
Magazin | |
Impuse gesetztvon Ulrich Deuter | Seite 76 |
"Hamlet-X" im Internetvon Tjark Ihmels | Seite 76 |
Verleihung des Brüder-Grimm-Preises an Ingeborg von Zadowvon Thomas Irmer | Seite 77 |
Anna Langhoff erhält Grabbe-Preisvon Martin Linzer | Seite 78 |
BücherMichael Philipp: "Nicht einmal einen Thespiskarren". Exiltheater in Shanghai 1939-1947, 215 S.von Tristan Berger | Seite 78 |
BücherMichael Philipp, Wilfried Seywald: "Die Masken fallen - Fremde Erde". Zwei Dramen aus der Emigration nach Shanghai 1939-1947, 143 S.von Tristan Berger | Seite 78 |
BücherRobert Hunger-Bühler/Roland Koberg (Hg): Mephisto: Ohne Licht, ohne Lärm. Aus dem Leben eines Schauspielers, Henschel Verlag Berlin, 2001, 144 S.von Martin Linzer | Seite 79 |
BücherMarianne Streisand: Intimität. Begriffsgeschichte und Entdeckung der "Intimität" auf dem Theater um 1900. München: Fink, 2001.von Werner Jung | Seite 79 |
Meldungen | Seite 80 |
Jahresregister | Seite 81 |
Premierenkalender | Seite 85 |
Autoren | Seite 88 |
Impressum | Seite 88 |
Tristan Berger
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