Heft 02/2009
Volker!
Volker Spengler zum 70. Geburtstag
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Diesen Februar wird Volker Spengler 70. TdZ gratuliert dem Aufsager, wie er sich gern selbst bezeichnet, mit Beiträgen von Frank Castorf, Irm Hermann, Heiner Müller, René Pollesch und Volker Schlöndorff. Spengler, der bei Fritz Kortner spielte und zu den Protagonisten Fassbinders zählte, von Heiner Müller an das Berliner Ensemble geholt wurde und heute regelmäßig an der Berliner Volksbühne zu sehen ist, ist nicht nur ein großer Schauspieler. Er verkörpert zugleich das Verdrängte des deutschen Stadttheaters. Seine Existenz gemahnt an eine Zeit, als zwischen den mimischen Artisten und der übrigen Bevölkerung noch ein gewaltiger Riss bestand und für beide Seiten keineswegs dasselbe Recht galt.
Die unbürgerliche Lebensweise hat es auch Lothar Trolle angetan, der seine Bearbeitung von Andrej Platonows Erzählung „Das Volk Dshan" neu eingerichtet hat. „Dshan" bedeutet „glücksuchende Seele" und erzählt die fiktive Geschichte eines in der turkmenischen Wüste vergessenen Stammes. Im Gespräch mit Stephan Suschke beschreibt Trolle seine zum Teil bedrückenden Erlebnisse mit Einar Schleef, mit dem er zur Schule ging. Dem Wirken Schleefs insbesondere um die Zeit der Wende geht Hans-Dieter Schütt nach: die Chöre der Fragment gebliebenen „Faust"-Inszenierung, mit der Schleef gegen die Schließung des Schillertheaters protestierte - das Theaterereignis des Jahres. „Wessis in Weimar", ein nachhaltiger Erfolg des Berliner Ensembles in der Intendanz Müller/Zadek. Zadek, die Staumauer gegen die theatralische Wucht Schleefs, die sich aus der Tiefe der deutschen Geschichte ergoss und von Direktor Zadek als „Faschismusscheiße" abqualifiziert wurde. Denn das Glück soll die Seele in psychologischen Verästelungen suchen und nicht in den gewaltigen und gewalttätigen Räumen sozialer Kämpfe. Absurderweise wird Schleef, der die DDR 1976 verließ und sich bis zum Ende dagegen wehrte, was sie in ihn einschrieb, letztlich zum Opfer des Kalten Krieges. Pathologisiert - der „Fall Schleef" (Siegrid Löffler) -wird derjenige, der die Geschichte zum Sprechen bringt, von den gut Aufgestellten des Betriebes, denen ein störungsfreier Ablauf das Maß aller Dinge ist. Dass die bürgerlichen Wertmaßstäbe der Effizienz, des Erfolges und wie man die Skala Bourdieus sonst noch ausdifferenzieren mag, angesichts des Lebens keine Gültigkeit besitzen, sondern es nur austrocknen, zeigt Jürgen Goschs „Die Möwe", die Gunnar Decker besuchte, wo er die absurde Paarung von Freiheit und Verhinderung beobachtete. Die paradoxe Ohnmacht des Einzelnen im Reich der Allmachbarkeit führt ihn zu Gottfried Benn, der auf die Frage, wie man denn leben solle, geantwortet hat: „Man soll ja auch nicht." Sicherlich eine denkwürdige Devise für das Theater, das sich ja, als wäre es selbstverständlich, für Lebensentwürfe und Menschenbilder interessiert.
Von hier aus noch ein Blick in die Schweiz, wo die Welt, zumindest aus der Sicht von Erbgemeinschaften, noch in Ordnung scheint. Barbara Weber und Rafael Sanchez haben ihre Intendanz am Theater_Neumarkt begonnen: „Ich übersetze Experiment mit Nähe zum Publikum", sagt Sanchez, was insbesondere bei dem neuen Format CH-HC (HC steht für Hardcore) die Zuschauer ins Schwitzen bringen wird. Auch in Basel gibt es einen Neuanfang. Mitte September übernahm Carena Schlewitt das Steuerungsmodul der Kaserne, mit dem Anspruch, öffentlich über das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum nachzudenken. Dabei setzte sie mit der türkischen Regisseurin Sahika Tekand und dem russischen Regisseur Boris Nikitin auf bewährte, wenn auch in Westeuropa fahrlässigerweise nicht übermäßig bekannte Kräfte. Auch im Schlachthaus in Bern ist seit Spielzeitbeginn mit Raphael Urweider eine neue Kraft am Ruder. Urweider sieht sich in dieser Funktion weniger als szenischer Stylist, aber dafür umso mehr als Ermöglicher: „Die Philosophie dieses Hauses ist es, Dinge zu ermöglichen und der freien Szene eine Plattform mit guten Bedingungen zu bieten." Die freie Szene CH ist also grunderneuert und strahlt den Optimismus aus, der sich dort ansiedelt, wo noch vieles offen ist. In Syrien, das Frank Raddatz besuchte, ist die Theaterlandschaft dagegen in eine schwer auszubalancierende Schräglage gerutscht. Verschiedene Ursachen kommen hier zusammen: der Zusammenbruch des politischen Theaters, die neue Dominanz des arabischen Fernsehens, der Rückzug poetischer Kräfte aus dem Drama, der Mord an einem Hoffnungsträger. Aber auch in diesem unerbittlichen Szenario bildet sich eine Art Off-Szene, die unabhängig von literarischen Vorlagen und Subventionen darum kämpft, ihren Blick auf die Gegebenheiten zu veräußern. Das Glücksstreben des Menschen lässt sich so schnell nicht einschüchtern. Es hat insbesondere im Theater eine Heimat. Aber auch wenn sich der am Konsens orientierte Lebensentwurf nicht zuletzt mittels des institutionalisierten Theaters und der Motorisierung der darstellenden Künste durchgesetzt hat, geht es doch nicht in ihm auf. Es bleibt ein Rest und der ist heute das Wesentliche.
Die Redaktion
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Porträt | Seite 8 |
„Ich lüge immer“Ein Spieler auf kulturhistorischer Bühne – Christian Boltanskivon Christopher Langer | |
TdZ gratuliert | Seite 14 |
Volker!Volker Spengler, das unverwüstliche Urgestüm des deutschen Theaters, wird 70von Frank Castorf, Heiner Müller, René Pollesch, Volker Schlöndorff und Irm Hermann | |
20 Jahre Mauerfall | Seite 20 |
Der Rausch der Zeugung im Taumel der Vernichtung20 Jahre Mauerfall (2): Textanschläge gegen geheuchelte Einheit – der Außenseiter Einar Schleefvon Hans-Dieter Schütt | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 24 |
Auf der Nachtseite des LebensJürgen Gosch inszeniert „Die Möwe“ für das DT in der Berliner Volksbühnevon Gunnar Decker | |
Schweiz | |
Auf der Suche nach ZeitgenossenschaftZürich: Barbara Weber und Raphael Sanchez starten am Theater _Neumarkt mit poppigen Komödien und politischem Diskursvon Simone von Büren | Seite 26 |
Kasärndli, Kasernita!Basel: Wie die Kaserne Basel sich unter der neuen Leiterin Carena Schlewitt für Grenzgänge und ästhetische Experimente öffnetvon Verena Stössinger | Seite 29 |
Wo die Schlächter geisternBern: In nur zehn Jahren hat sich das Schlachthaus Theater zu einer wichtigen Plattform für die freie Szene in der Schweiz entwickeltvon Simone von Büren | Seite 31 |
Ausland | |
Angry Young ManDer junge Wilde des russischen Theaters – ein Porträt des Dramatikers Juri Klawdiewvon Carmen Eller | Seite 34 |
Ein Theater sucht seine PoetenWie Theatermacher in Syrien gegen das Fernsehen und für eine neue Ausrichtung der Bühnenkünste kämpfenvon Frank M. Raddatz | Seite 36 |
Auftritt | |
Das Schauspiel zeigt mit „Die Furien“, „Der große Krieg“ und „Was Ernstes“ drei Uraufführungen von Neil LaButeBonnvon Hans-Christoph Zimmermann | Seite 39 |
Das HAU widmet sich mit „Mausoleum Buffo“ von andcompany&Co, „Auto“ von Gesine Danckwart und Hans-Werner Kroesingers Dokumentartheaterstück „Ruanda Revisited“ den Scherben unserer GegenwartBerlinvon Lena Schneider | Seite 40 |
„Woman and Scarecrow“ von Marina Carr und „experiment. prisoner 819 did a bad thing“ von Hermann Schmidt-Rahmer verhandeln die (Über-)Lebenskoordinaten unserer ZivilisationDortmundvon Vasco Boenisch | Seite 42 |
In „Das Shiwago-Projekt“ geistern Autor, Verleger und Romanfigur über die BühneKonstanzvon Gerd Zahner | Seite 44 |
God’s Entertainment versprechen mit ihrer „Passantenbeschimpfung“ nach Peter Handke Kunst und Arbeit für alleWienvon Judith Helmer | Seite 45 |
Lesarten | Seite 46 |
Aischylos „Die Perser“Das eigene und das andere Leidvon Malte Ludwig | |
Kolumne | Seite 47 |
Ich habe den Krieg nicht „gesehen“von Etel Adnan | |
Autorengespräch | Seite 48 |
Ohne Hoffnung ist man erledigtDer Dramatiker Lothar Trolle im Gespräch mit Stephan Suschkevon Stephan Suschke und Lothar Trolle | |
Stück | Seite 51 |
„Dshan“nach Platonowvon Lothar Trolle | |
Magazin | |
Zauberer der ZwischentöneZum Tod des Dramatikers und Nobelpreisträgers Harold Pintervon Volker Hesse | Seite 63 |
Das Leben mit Sanftmut bändigenZum Tod des österreichischen Schriftstellers Gert Jonkevon Klaus Dermutz | Seite 64 |
On est ensembleEin Reisebericht vom 9. Festival Théâtre des Réalités in Westafrikavon Clemens Bechtel | Seite 65 |
Pas de deux zwischen Poesie und TechnikDas Kinder- und Jugendtheater - festival Les Coups de Théâtre in Montrealvon Kay Wuschek | Seite 67 |
Wo ist das Theater?Das Festival of International Student Theatre in Belgradvon Ina Speitz | Seite 68 |
Pizzen statt PremierenDie ersten DramaTischTage der Berliner Battle-Autorenvon Anna Opel | Seite 69 |
BuchDas Schweigen des Theaters – Der Regisseur Dimiter Gotscheff. Hrsg. von Peter Staatsmann/Bettina Schülke, Verlag Vorwerk 8von Martin Linzer | Seite 70 |
BuchClaus Peymann von A bis Z. Ausgewählt und herausgegeben von Hans- Dieter Schütt. Das Neue Berlinvon Gunnar Decker | Seite 71 |
Linzers Eck | Seite 73 |
Lebt denn der alte H. Müller noch? oder Vier Arten, mit einem toten Dichter umzugehenvon Martin Linzer | |
Magazin | |
etc.von Sebastian Kirsch | Seite 74 |
Meldungenvon Bernhard Deutsch | Seite 74 |
Aus den Korrespondentenbürosvon Lena Schneider und Carmen Eller | Seite 75 |
aufgelesenvon Sebastian Kirsch | Seite 75 |
Radiovorschau | Seite 76 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Premierenkalender | Seite 77 |
Februar 2009 | |
Impressum | Seite 79 |
Kommentar | Seite 80 |
Der unbekannte Feindvon Alexander Stillmark |
Etel Adnan
Clemens Bechtel
Vasco Boenisch
Frank Castorf
Gunnar Decker
Klaus Dermutz
Bernhard Deutsch
Carmen Eller
Gerwig Epkes
Judith Helmer
Irm Hermann
Volker Hesse
Sebastian Kirsch
Christopher Langer
Martin Linzer
Malte Ludwig
Heiner Müller
Anna Opel
René Pollesch
Frank M. Raddatz
Volker Schlöndorff
Lena Schneider
Hans-Dieter Schütt
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