Heft 04/2010
Dimiter Gotscheff
Über die Anatomie des Menschen
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
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Die europäische Kulturhauptstadt Ruhr.2010 hat das lang angekündigte Riesenbaby namens „Odyssee Europa“ zur Welt gebracht. Meike Hinnenberg besuchte den mehrfachbesamten Homunkulus, der in der Sparte Erzeuger sechs Autoren von Rang ankreuzen darf und in ebenso vielen Kreißsälen, pardon, Theaterbühnen das Kunstlicht erblickte. Aber nicht nur das, auch eine Butterfahrt auf der Santa Monika mit Kasseler und Sauerkraut ist inklusive.
Als Odysseus endlich nach Hause kommt, ist der Himmel leer. „Transzendenz scheint es ebenso wenig zu geben wie Zukunft“, resümiert die Rezensentin und fragt sich, ob die in den Ruhrpott verlegte europäische Kulturhauptstadt nicht ein Stück aus dem Narrenhaus ist, wenn zwei der beteiligten Bühnen, nämlich Moers und Oberhausen, zugleich mit Schließung bedroht werden. In seinem Kommentar „Die Ruhrlüge geht weiter“ schildert Sebastian Kirsch, wie sich im Schatten der Kulturfeiern der Kulturabbau vollzieht. Also schnell aufgesprungen auf den Dampfer „Odyssee“ – geht es doch zu Theatereilanden, die womöglich bald schon auf keiner Landkarte mehr verzeichnet sind.
Vielleicht kann man sich in naher Zukunft schon mit jener Universalbühne behelfen, nach der Hartmut Meyer von Ute Müller-Tischler befragt wird und die genau in der Offenheit liegt, die zwischen dem Realen und dem Fiktiven verläuft, wo sich das Fremdartige und Irrationale von Objekten zu greif- und bespielbaren Objekten verdinglicht. Es folgt der Essay „Rot/Gelb/Blau“ von Mark Lammert über die Farbenlehre der Bühne nach Brecht, Müller und Godard. Lammert, der in Epidaurus mit einer blauen Fläche auftrumpfte, berichtet von einem Verfahren der Verdichtung „bei 43 Grad Celsius im Schatten, mit dem Pinsel, sechs Wochen lang, täglich acht Stunden für zwei Tage und 16 000 Menschen“. Inszeniert hatte damals Dimiter Gotscheff, der gerade am Deutschen Theater Anton Tschechows Erzählung „Krankenzimmer Nr. 6“ in einer Bearbeitung von Ivan Panteleev zur Aufführung brachte (siehe Stückabdruck). Gunnar Decker spricht mit dem unverwüstlichen Regisseur über den Abend mit dem „fatalistischen Touch: halb Heiner Müller, halb Balkan“.
In dessen Herzland, nach Belgrad, reiste Frank Raddatz, um mit dem künftigen Generalintendanten von Düsseldorf, Staffan Valdemar Holm über dessen Begegnung mit Theatergott Dionysos am serbischen Nationaltheater zu sprechen. Frank Raddatz staunt, dass der Theatergott die Gestalt von Popstar Marilyn Manson annimmt und eine Gefolgschaft von auf Ekstase gebügelten Hausfrauen besitzt. Vor diesem Setting erläutert der Schwede, wie er Düsseldorf zu einer internationalen Spielstätte mit regionaler Verwurzelung umbauen wird. Claes Wahlin berichtet in diesem Kontext über die Theaterstadt Stockholm und nennt gute Gründe, ihr den Rücken zu kehren. Von Belgrad über Stockholm geht es mit Shuddhabrata Sengupta in einem Flugzeug nach Delhi, wo der Medienkünstler im Vorfeld des nächsten Höhepunkts der europäischen Kulturhauptstadt, des Festivals Theater der Welt, über das Reisen und Leben reflektiert.
Dass Leben und Reisen kompatibel sind, besagt schon die Metapher der Lebensreise, die bereits bei Heinrich von Kleist Verwendung findet. Dass Theater und Fernsehen dagegen unvereinbar sind, ist ebenso wesentliches Movens der neuen, um das Echte und Authentische bemühten Theaterformen wie die Tatsache, dass sich eine ganze Generation von Theoretikern um Erika Fischer-Lichte, Gumbrecht oder Hans-Thies Lehmann daran gemacht hat, diese Beweislast zu schultern, indem sie die Ästhetik des Performativen etablieren. Gunnar Decker nimmt das zehnjährige Jubiläum des Theaterkanals zum Anlass, die Grauzone zwischen den Medien abzuschreiten. Zumindest bleibt zu hoffen, dass von dem dumpf dahintaumelnden Leitmedium Glotze nicht dieselbe Gefahr ausgeht wie vom Lenkungsausschuss Ruhr.2010 für die Theater der Region, wo man anscheinend gern die Rolle des Zyklopen übernimmt und ab und an mal ein Theaterchen verputzt.
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Editorial | Seite 1 |
Künstlerinsert | Seite 2 |
Bühnenbildervon Hartmut Meyer | |
Porträt | Seite 8 |
Wie Dämonen durch die HintertürDer Bühnenbildner Hartmut Meyer über Theater als Ort des Nichtselbstverständlichen im Gesprächvon Hartmut Meyer und Ute Müller-Tischler | |
Essay | Seite 12 |
Rot/Gelb/BlauFarben bei Brecht, Müller und Godardvon Mark Lammert | |
Porträt | Seite 22 |
Hinter tausend Gittern keine WeltDimiter Gotscheff inszeniert „Krankenzimmer Nr. 6“ am Deutschen Theater Berlinvon Gunnar Decker | |
Ausland | |
Der GeisterjägerSchweden (1): Wie der Regisseur Staffan Valdemar Holm der schwedischen Theaterszene das Gespenst des Naturalismus austreiben wolltevon Claes Wahlin | Seite 28 |
Die Opfer des DionysosSchweden (2): Der designierte Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses Staffan Valdemar Holm über griechische Tragödien in Serbien und die Internationalisierung des deutschen Stadttheatersvon Frank M. Raddatz | Seite 32 |
Aktuelle Inszenierung | Seite 36 |
Die Reise zu den LotophagenDie Uraufführung der „Odyssee Europa“ im Rahmen von Ruhr.2010 verkommt zu einem Eventvon Meike Hinnenberg | |
Essay | Seite 39 |
Reisend erwachenSchöne Aussicht (4)von Shuddhabrata Sengupta | |
TdZ entdeckt | |
Ein Abend für MarieDie Regisseurin Nora Schlocker inszeniert Geschichten von Frauen, deren Stärke ihre Schwäche ist – und umgekehrtvon Michael Helbing | Seite 42 |
Als klimperte Goliath mit seinem GoldschatzDer Musiker, Komponist und Audiodesigner Tomek Kolczynski erschafft Klangwelten, in denen Bekanntes plötzlich fremd wirdvon Dorte Lena Eilers | Seite 43 |
Essay | Seite 44 |
Der reproduzierbare AugenblickKann Theater im Fernsehen mehr sein als Soap mit anderen Mitteln?von Gunnar Decker | |
Auftritt | |
Berlin: Das Lachen des JahrhundertsTheater RambaZamba: „Müller und Müller“ nach Heiner Müller Regie Klaus Erforth, Ausstattung Kerstin Janewavon Sebastian Kirsch | Seite 48 |
Bielefeld: Angemalte KerleTheater Bielefeld: „Was übrig bleibt“ (DSE) von Thomas Bradshaw Regie Michael Rau, Ausstattung Jürgen Höthvon Daniel Benedict | Seite 49 |
Tübingen: Er umarmt BäumeZimmertheater Tübingen: „Professor Lear“ (UA) von Joachim Zelter Regie Christian Schäfer, Ausstattung Hella Prokophvon Otto Paul Burkhardt | Seite 50 |
Wiesbaden: Auf dem TrockenenHessisches Staatstheater Wiesbaden: „Kunstschwimmer“ (DSE) von David Drábek Regie Tilman Gersch, Bühne Andreas Auerbach, Kostüme Jelena Mileticvon Shirin Sojitrawalla | Seite 51 |
Göttingen: Die Suche nach einem GegenüberDeutsches Theater: „Zorn“ (UA) von Nino Haratischwili Regie Felix Rothenhäusler, Ausstattung Lea Dietrichvon Tina Fibiger | Seite 52 |
Oberhausen: Dribbelei um die eigene AchseTheater Oberhausen: „Abseitsfalle“ (UA) von Schorsch Kamerun Regie Schorsch Kamerun, Ausstattung Constanze Kümmelvon Vasco Boenisch | Seite 53 |
Lesarten | Seite 54 |
Ein Stück, nicht nur für Erika SteinbachAlfred Matusche „An beiden Ufern“von Martin Linzer | |
Kolumne | Seite 55 |
Der hohe Ton im Rücken der Abgekoppeltenvon Thomas Thieme | |
Autorengespräch | Seite 56 |
Arien, Stille, AtemDer Autor und Regisseur Ivan Panteleev im Gespräch mit Gunnar Deckervon Gunnar Decker und Ivan Panteleev | |
Stück | Seite 57 |
Krankenzimmer Nr. 6nach Anton Tschechowvon Ivan Panteleev | |
Magazin | |
Monument und MiniaturDie Vahdat und die Ferdowsi Hall – zwei Teheraner Spielstätten und ihr Umgang mit dem Musiktheatervon Constanze Fischbeck | Seite 73 |
Das Schweigen der Helden (Übers. v. Martina Würzburg)Das Tschechow-Festival in Moskau feiert einen widerspenstigen Jubilarvon Olga Galachowa und Martina Würzburg | Seite 74 |
Widerstand gegen den Sachzwang der IdeenAndreas Hutters „Und keine Hand. Zeit, Mörderin, alterslose“ nach Heiner Müllers „Traumtext“ und „Ein Brief“ in Wienvon Margarete Affenzeller | Seite 75 |
Theaterräume der ZukunftDie Dramaturgische Gesellschaft tagt in Zürichvon Anna Teuwen | Seite 76 |
Bücher - Thomas Oberender: Leben auf Probe. Wie die Bühne zur Welt wird.Carl Hanser Verlag, München 2009, 160 S., 15,90 EUR.von Sebastian Kirsch | Seite 77 |
Bücher - Friedrich Dieckmann: „Freiheit ist nur in dem Reich der Träume“. Schillers Jahrhundertwende.Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2009, 464 S., 34 EUR.von Martin Linzer | Seite 78 |
Bücher - Begegnungen mit Brecht.Hrsg. von Erdmut Wizisla. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2009, 400 S., 19,90 EUR.von Holger Teschke | Seite 78 |
etc.von Sebastian Kirsch | |
Magazin | Seite 79 |
Bücher - Renate Klett: Nahaufnahme Robert Lepage. Gespräche mit Renate Klett.Alexander Verlag, Berlin 2009, 208 S., 19,90 EUR.von Thomas Bündgen | |
aufgelesenvon Sebastian Kirsch | |
Radiovorschau | Seite 80 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 81 |
(24)Gegen drohenden Geschichtsverlust – Günther Rühle schreibt am zweiten Band seiner Theatergeschichte. Eine Zwischenbilanzvon Martin Linzer | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 82 |
Gütersloh: Ein Theaterneubau setzt Zeichen gegen den Kulturabbauvon Andreas Rehnolt | |
Dresden: Das projekttheater, ein hartnäckiges Wendegewächs, wird zwanzigvon Michael Bartsch | |
Meldungen | Seite 83 |
Premieren | Seite 84 |
April 2010 | |
Autoren | Seite 87 |
Impressum | Seite 87 |
Kommentar | Seite 88 |
Die Ruhr-Lüge geht weitervon Sebastian Kirsch | |
Vorschau | Seite 88 |
Mai 2010 |
Margarete Affenzeller
Michael Bartsch
Daniel Benedict
Vasco Boenisch
Thomas Bündgen
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Tina Fibiger
Constanze Fischbeck
Olga Galachowa
Michael Helbing
Meike Hinnenberg
Sebastian Kirsch
Mark Lammert
Martin Linzer
Hartmut Meyer
Ute Müller-Tischler
Ivan Panteleev
Frank M. Raddatz
Andreas Rehnolt
Shuddhabrata Sengupta
Shirin Sojitrawalla
Holger Teschke
Anna Teuwen
Thomas Thieme
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