Heft 10/2011
In den Ruinen der Zukunft
Theater in Japan nach der Katastrophe
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Dieses Heft ist leider vergriffen und nur noch als PDF erhältlich.
Wie Tropenstürme fegen weltverändernde Ereignisse um den vernetzten Globus. Mit Folgen auf weit entfernten Erdteilen. Ein Erdbeben in Japan leitete einen radikalen Politikwechsel in Deutschland ein. Trotzdem nimmt das subventionierte Theater bei uns von der Atomkatastrophe in Japan und deren epochalen Folgen seltsamerweise kaum Notiz. In Japan, jenem Land, das bereits mit Hiroshima und Nagasaki an das nukleare Kreuz geschlagen wurde, wird es immer mehr zur künstlerischen Pflicht, sich den Auswirkungen der unbeherrschbaren Radikaltechnologie zu stellen. „Meine Expedition in die verbotene Zone in Tschernobyl habe ich deshalb auch als eine innere Mission empfunden“, bekundete Kunststar Kenji Yanobe gegenüber Ute Müller-Tischler und Maximilian Tischler im Interview.
Der geschichtliche Horizont macht es unerlässlich, sich an verstrahlten Orten künstlerisch mit der unheimlichsten aller Erfindungen auseinanderzusetzen. Mit dem Essay „Aufführen oder aufhören“ führt der Germanist Shinya Takahashi das Titelthema über das Verhältnis des japanischen Theaters zum Atomdämon fort. Seine Frage kann beantwortet werden, findet das Künstlernetzwerk ARC>T, das in der No-Go-Area in Nordjapan performt, um das Trauma zu bewältigen. Flankiert wird sein Essay von einem Beitrag des Rakugo-Künstlers San’yutei Kenkô, der von der künstlerischen Aufbauarbeit im Krisengebiet vier Monate nach der Katastrophe erzählt. Der Regisseur Toshiki Okada – europäischen Zuschauern von zahlreichen Festivals bekannt – beschreibt für uns, wie die Dreifachkatastrophe sein Theaterverständnis auf den Kopf stellte und warum für ihn Fiktion auf der Bühne nun wichtiger ist denn je. Ein Reisebericht unseres Korrespondenten Benjamin Wihstutz, der leibhaftig erfuhr, mit welcher Wucht der Tsunami die tragenden Säulen der japanischen Kultur – die Liebe zum Essen und den Glauben an die Technik – zerstört hat, macht die Reichweite des zerstörerischen Schlags spürbar. Abgerundet wird der bestürzende Zusammenhang mit dem Stück „Little Boy – Big Taifoon“ von Hisashi Inoue über drei Jungen aus Hiroshima.
„Mein Himmel ist der Abgrund von morgen!“, verkündet Heiner Müllers „Engel der Verzweiflung“ seine Lust am Extremen. Ganz in der Tradition des Kindersoldaten Heinrich von Kleist, dessen Singularität Friedrich Dieckmann unter dem schönen Titel „Auf der Streckbank der Geschichte“ nachgeht. Ob die beiden Dichter die atomare Apokalypse zu artistischen Höhenflügen angeregt hätte, ist müßig zu konstruieren, doch mit 9/11 hätten sie gewiss etwas anzufangen gewusst. Lena Schneider erfährt nun beim Spielzeitauftakt unter dem neuen Intendanten Ralf Waldschmidt in Osnabrück, welche Farbe den „Himmel des Unglücks“ schmückt. Gespielt wird beim Festivalmarathon Spieltriebe u. a. ein Stück von Frank Abt über die Erinnerung an den Zusammenbruch der Zwillingstürme: „Das sah gespenstisch ordentlich aus, und der Himmel war gar nicht apokalyptisch, sondern blau.“ „Violet“ dagegen betitelte Meg Stuart jenen Tanz der Abwesenheit, in dessen Zentrum Sebastian Kirsch eine „ohrenbetäubende Stille“ aufspürt.
Mit einem Desaster ganz anderer Art muss sich das Stadttheater herumschlagen, seit Josef Mackert, Heiner Goebbels und Barbara Mundel mit dem Arbeitsbuch 2011 „Heart of the City“ eine Debatte darüber in Gang brachten, ob die freie Szene gegenüber dem Stadttheater nicht ökonomisch besser in Stellung gebracht werden müsste. Angesichts ihrer ästhetischen Erfolge, Einladungen zum Theatertreffen etc., ein nachvollziehbares, wenn auch brisantes Argument. Frank Raddatz nimmt, begleitet von Niels Ewerbeck und Bertram Müller, das heiße Eisen unter die Lupe und öffnet Theater der Zeit als Schauplatz für eine leidenschaftliche Diskussion über die Vor- und Nachteile einer zweigleisigen Theaterlandschaft. Für Spannung ist also gesorgt.
Die Redaktion
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Thema | |
KünstlerinsertArbeiten von Kenji Yanobevon Kenji Yanobe | Seite 4 |
In den Ruinen der ZukunftDer japanische Künstler, Performer und Wolkenbauer Kenji Yanobe im Gesprächvon Ute Müller-Tischler, Kenji Yanobe und Maximilian Tischler | Seite 8 |
Aufführen oder aufhörenWelche Rolle darf, kann, soll Theater nach der dreifachen Katastrophe in Japan spielen? Ein Einblick in die Szene sechs Monate danachvon Shinya Takahashi | Seite 13 |
Spiel für uns!Der aus Fukushima stammende Rakugo-Künstler San’yutei Kenkô über künstlerische Aufbauarbeit nach der Katastrophevon Beate Wonde und San’yutei Kenkô | Seite 15 |
Kunst im KatastrophengebietDas Künstlernetzwerk ARC>T spielt in den verwüsteten Gebieten Nordjapans Theater und will so das Trauma verarbeiten helfenvon Beate Wonde und Karin Nagao | Seite 16 |
Die Wirklichkeit durch Fiktion bedrohenDer Regisseur Toshiki Okada beschreibt, wie der 11. März 2011 sein Theaterverständnis auf den Kopf stelltevon Toshiki Okada | Seite 18 |
Japanese Food und German AngstEindrücke einer Reise nach Japan zur Jahreskonferenz der Internationalen Gesellschaft für Theaterforschung in Osaka fünf Monate nach der Katastrophevon Benjamin Wihstutz | Seite 21 |
Debatte | |
Die TheaterfalleDas Stadttheater der Zukunft: Wie soll es aussehen? Was muss sich ändern? Ein Entree zur Debatte in der neuen Spielzeitvon Frank M. Raddatz | Seite 24 |
Zwei Positionen zur Debatte aus der freien Szenevon Niels Ewerbeck und Bertram Müller | Seite 27 |
Protagonisten | |
Der Himmel des Unglücks ist blauMit dem Festivalmarathon Spieltriebe wirft sich das Theater Osnabrück in die erste Spielzeit unter Ralf Waldschmidt – und fragt nach den Folgen von 9/11von Lena Schneider | Seite 28 |
Eine fabelhafte FamilieMit einem spielstarken Ensemble und vielfältigen Regiehandschriften setzt Matthias Brenner bei seinem Neustart am neuen theater Halle auf die Kraft des Kollektivsvon Christian Horn | Seite 31 |
Aktuelle Inszenierung | Seite 34 |
Die Abwesenheit tanzenMeg Stuarts neue Choreografie „Violet“ im Essener PACT Zollvereinvon Sebastian Kirsch | |
Look Out | |
Die Heimat ist hier!Die deutsche Performancekünstlerin Juliane Elting erobert die transkulturelle Szene Brasiliensvon Susanne Fernandes Silva | Seite 36 |
Der DivenbeschwörerDer Regisseur Bernhard Mikeska lädt ein zu mikroskopischen Weltreisenvon Friederike Felbeck | Seite 37 |
serie | Seite 38 |
Auf der Streckbank der GeschichteKleist oder Die Kunst des Extremenvon Friedrich Dieckmann | |
Kolumne | Seite 41 |
ÖffentlichkeitsarbeitspornoOder die Frage, wer wann wo mit wemvon Ralph Hammerthaler | |
Auftritt | |
Berlin: Kann Gott nicht gewollt habenSchaubühne: „The Day Before the Last Day“ (UA) von Yael Ronen. Regie Yael Ronen, Ausstattung Magda Willivon Frank M. Raddatz | Seite 42 |
Berlin: Kein Schiff wird kommenVolksbühne: „±0 Ein subpolares Basislager“ (UA) von Christoph Marthaler. Regie Christoph Marthaler, Ausstattung Anna Viebrockvon Gunnar Decker | Seite 43 |
Stendal: Hysterien der MachtTheater der Altmark: „Macbeth“ von Heiner Müller nach William Shakespeare. Regie Dirk Löschner, Bühne Christopher Melchingvon Gunnar Decker | Seite 44 |
Weimar: Kein Ausbruch, kein AufbruchDeutsches Nationaltheater: „Reicht es nicht zu sagen ich will leben“ (UA) von Claudia Grehn und Darja Stocker. Regie Nora Schlocker, Bühne Steffi Wurstervon Michael Helbing | Seite 45 |
Wien: Gerangel an der nostalgischen OberflächeBurgtheater: „Die Kommune“ (UA) von Mogens Rukov und Thomas Vinterberg. Regie Thomas Vinterberg, Ausstattung Stefan Mayervon Margarete Affenzeller | Seite 46 |
Stück | |
„Erinnere dich! Protestiere! Überlebe!“Sachiko Hara, Schauspielerin und Übersetzerin von Hisashi Inoues „Little Boy – Big Taifoon“, im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Sachiko Hara | Seite 48 |
Little Boy – Big TaifoonDeutsch von Soeren Voima und Sachiko Haravon Hisashi Inoue | Seite 49 |
Magazin | |
Einer vom ZirkusDer Theaterzauberer Robert Wilson wird siebzigvon Gunnar Decker | Seite 59 |
Über die finsteren Zustände der WeltDas Internationale Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg bleibt künstlerisch herausfordernd und zeitkritisch zugleichvon Klaus Witzeling | Seite 60 |
Der Rote Ritter und die RevolutionWie das Theater Konstanz „Parzival“ in Malawi spielt und in die Wirren politischer Proteste gerätvon Clemens Bechtel | Seite 64 |
Basta!In Rom wehren sich Künstler gegen die Prekarisierung von Kultur und besetzen kurzerhand das Teatro Vallevon Tom Mustroph | Seite 66 |
Schauen, was der Nachbar machtDie temporäre Akademie Panorama Sur in Buenos Aires will Theatermacher in Lateinamerika vernetzenvon Anne Phillips-Krug | Seite 67 |
Des Klassikers KernDie Seebühne Hiddensee spielt Goethes „Faust“ als kraftstrotzendes Einmannkonzentratvon Kristin Schulz | Seite 68 |
Vom Orchideenfach zur PlatanendisziplinZur Emeritierung der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichtevon Jens Roselt | Seite 69 |
Hinterm letzten Vorhang brennt ein LichtEin Nachruf auf die Schauspielerin Rosel Zechvon Robert Gallinowski | Seite 70 |
„Die Wirklichkeit ist wie sie ist, d. h. grausam“Der Bilddramatiker des Humors Bernhard Blume ist totvon Ute Müller-Tischler | Seite 71 |
Eric L. Santner: Zur Psychotheologie des Alltagslebens. Betrachtungen zu Freud und Rosenzweig.diaphanes Verlag, Zürich 2010, 224 S., 22,90 EUR, ISBN 978-3-03734-129-2.von Sebastian Kirsch | Seite 72 |
Jutta Georg-Lauer: Dionysos und Parsifal. Eine Studie zu Nietzsche und Wagner.Königshausen & Neumann, Würzburg 2011, 148 S., 24,80 EUR, ISBN 978-3-8260-4408-3.von Frank M. Raddatz | Seite 72 |
kirschs kontexteBotticellis It-Girlsvon Sebastian Kirsch | Seite 73 |
Linzers Eck | Seite 75 |
Ohne KrimskramsEs gibt sie: junge Regisseure, die frischen Wind in die vermiefte Szene bringen. Aber wer schickt das Establishment in die Frührente? Mehr oder weniger offene Fragenvon Martin Linzer | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 76 |
Zellendorf in Brandenburg: Der Pilot Rudi Hackel verunglückt tödlich in „Der kleine Prinz“von Paula Schneider | |
Jenin / Westjordanland: Verhaftete Mitglieder des Freedom Theatre wieder freivon Lydia Ziemke | |
Meldungen | Seite 77 |
Kommentar | Seite 79 |
Ein Missionar gibt aufDer Leipziger Intendant Sebastian Hartmann kapituliertvon Michael Bartsch | |
Aktuell | Seite 80 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Premieren | Seite 81 |
Oktober 2011 | |
Autoren | Seite 87 |
Impressum | Seite 87 |
Gespräch | Seite 88 |
Was macht das Theater, Peter Thiessen?von Nikolaus Schneider und Peter Thiessen |
Margarete Affenzeller
Michael Bartsch
Clemens Bechtel
Gunnar Decker
Friedrich Dieckmann
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Niels Ewerbeck
Friederike Felbeck
Susanne Fernandes Silva
Robert Gallinowski
Ralph Hammerthaler
Sachiko Hara
Michael Helbing
Christian Horn
Hisashi Inoue
San’yutei Kenkô
Sebastian Kirsch
Martin Linzer
Bertram Müller
Ute Müller-Tischler
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Anne Phillips-Krug
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