Heft 05/2012
Kulturinfarkt und Manifest der freien Szene Berlin
Broschur mit 84 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Bekanntlich gehen die nimmersatten Blutsauger um im Global Village. Seit einigen Wochen beginnen die profitgierigen Plagegeister nun unter dem Codenamen „Operation Kulturinfarkt“ auch die vermeintlich fetten Weiden der Kultur in Deutschland zu attackieren und proklamieren, die Hälfte an Subventionen wäre auch genug. Dahinter steckt das Konzept des schlanken Staats, der Abbau der öffentlichen Einrichtungen, um die Privatisierung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche voranzutreiben.
Gunnar Decker analysiert die Strategie des neoliberalen Thinktanks und bilanziert: „Dieses Buch spekuliert nicht zuletzt auf eine Neiddebatte zwischen Staats-/Stadttheatern und freier Szene. Wer bekommt mehr als ich und macht weniger Kunst daraus?“ Doch das scheinbar leichte Spiel funktioniert nicht. Die zahlreichen Beiträge der Akteure der Off-Theater belegen, dass sie sich in dieser billigen Form eben nicht gegen andere kulturelle Institutionen ausspielen lassen. Genauso wenig wie die Verantwortlichen der Osttheater gegen die reichen Brüder im Westen mobilmachen. Chapeau! Die Stimmen von Amelie Deuflhard, Niels Ewerbeck, Matthias Lilienthal, Carena Schlewitt, Kathrin Tiedemann, Annemie Vanackere und vielen anderen werden flankiert von Johan Simons und Luk Perceval, in deren Heimat, Flamen, die Kulturabrissbirne in einem Maße schwingt, wie man es vor wenigen Jahren kaum für möglich gehalten hätte.
Glücklicherweise sieht die deutsche Politik das anders, wie das Gespräch von Dorte Lena Eilers und Lena Schneider mit André Schmitz, dem Kulturstaatssekretär im Berliner Senat, zeigt. Statt die Kultur als Hauptfeind auszumachen, wird eine City-Tax erwogen, um jene Künstler zu fördern, die sich aus traditionellen Gründen zu Recht benachteiligt fühlen. Das rechnet sich, weil ein Großteil der Touristen gerade wegen des kulturellen Angebots in die Hauptstadt reist. Überhaupt haben wissenschaftliche Erhebungen längst nachgewiesen, dass Kultur als Standortvorteil zu bewerten wäre. „Der Kulturinfarkt“, ein perfides Strategem der Wettbewerbsverzerrung?
Standort Wien: Begleitend zum Berliner Theatertreffen – das wir in diesem Jahr wieder mit einer eigenen Publikation bedenken –, porträtiert Christoph Leibold die nach Berlin eingeladene „Platonow“-Inszenierung von Alvis Hermanis, die sich gegen das allgegenwärtige Authentizitätsdiktum stemmt. „Ich glaube, die größte Herausforderung für einen Schauspieler ist dieser Hokuspokus, jemand anderes zu werden. In Deutschland sollen die Schauspieler Ideen verkörpern. Für mich dagegen ist das Wunder der Verwandlung der Hauptgrund, wieso die Leute Karten kaufen sollten“, kommentiert der Regisseur seine Verfahrensweise.
Standort Ravenna: Renate Klett stellt das italienische Teatro delle Albe und seine originäre Form des politttttttischen Theaters vor, das Ermanna Montanari erläutert. „Uns interessieren die Verzerrungen der Realität, ihre Verkrümmungen, Manipulationen, denn für uns ist das Theater die Polis, die Versammlung der Bürger. Auch das chorische Moment in den ‚Ubu‘-Variationen verweist auf die Polis.“
Standort Berlin: Im Anschluss unseres reichbebilderten Inserts von Vegard Vinges und Ida Müllers „John Gabriel Borkman“-Inszenierung im Prater – ebenfalls beim Theatertreffen dabei – durchleuchtet Stefanie Carp den in Oslo geborenen Comic-Splatter-Performance-Stil und zeigt, wie das Duo das verdrängte Begehren auf die Bühne holt: „Vegard Vinge performt im Wagner-T-Shirt den Künstler als solchen, steckt sich Farbbeutel in den Anus und furzt die Farbe auf eine Leinwand, die er dann mit einem Pinsel in seinem Hintern weiter gestaltet (…). Die Live-Performance durchkreuzt die Ibsen-Puppen-Zombie-Welt. Sie ist das Gegenteil perfekter Künstlichkeit und auch an ihr beteiligt. Sie arbeitet an ihrer eigenen Zerstörung wie der Sohn an der Zerstörung der Elternwelt.“
Und zum Abschluss das Statement unseres Wirtschaftsweisen Wolfgang Engler zum Gerechtigkeitsinfarkt: „Wir leben inmitten einer kaum mehr verhüllten Gewaltherrschaft einer Minderheit über die Mehrheiten, und es spricht vieles dafür, dass diese Form der Diktatur nur von eben diesen Mehrheiten beendet werden kann.“ Wir gratulieren Wolfgang Engler hiermit zum 60. Geburtstag und sind gespannt auf viele weitere Beiträge unseres Autors.
In diesem Sinne freuen wir uns, Sie auch in diesem Jahr im Rahmen des Theatertreffens wieder in unserem Container vor dem Haus der Berliner Festspiele begrüßen zu dürfen.
Die Redaktion
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Protagonisten | |
KünstlerinsertBühnenarbeiten von Vegard Vinge und Ida Müllervon Vegard Vinge und Ida Müller | Seite 6 |
Im BewusstseinshausÜber „John Gabriel Borkman“ von Vegard Vinge und Ida Müllervon Stefanie Carp | Seite 10 |
Thema | |
Erst durch Kultur wird Freiheit humanÜber mögliche Lektionen des „Kulturinfarkts“ und das Potenzial der Koalition der freien Szene in Berlinvon Gunnar Deckerzum Online-Extra: Fotoessay David Baltzer | Seite 14 |
Das Herz der Kunst lässt sich nicht beziffernWarum der „Kulturinfarkt“ eine Fehldiagnose ist – und die Koalition der freien Szene in Berlin eine längst überfällige Initialzündung. Theatermacher beziehen Stellungvon Matthias Lilienthal, Johan Simons, Kathrin Tiedemann, Amelie Deuflhard, Thomas Frank, Niels Ewerbeck, Luk Perceval, Matthias Brenner, Stefan Hilterhaus, Carena Schlewitt, Holger Bergmann, Jonas Zipf, Tilmann Broszat, Annemie Vanackere, Sascha Löschner, Dieter Jaenicke, Folkert Uhde, Haiko Pfost, Christophe Knoch, Franziska Werner und Dirk Förster | Seite 17 |
Frisches Geld für die freie SzeneDer Berliner Staatssekretär für Kultur André Schmitz im Gesprächvon Dorte Lena Eilers, Lena Schneider und André Schmitz | Seite 28 |
Kolumne | Seite 31 |
Spucke ist kein ArgumentLeipzig und die Schauspielerin Cordelia Wegevon Ralph Hammerthaler | |
Protagonisten | Seite 32 |
Der Wahrheit zum Verwechseln ähnlichRegisseur des Hyperrealismus – Alvis Hermanis im Porträtvon Christoph Leibold | |
Look Out | Seite 36 |
Durch Pulp und FictionDie Videokünstlerin Franziska Nyffeler bereichert das Theater um interaktive filmische Dimensionenvon Elisabeth Feller | |
Protagonisten | Seite 38 |
Hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht?Der Soziologe Wolfgang Engler über Risse im staatlichen Gewaltmonopol. Ein Gespräch anlässlich seines 60. Geburtstagsvon Wolfgang Engler und Holger Teschkezum Online-Extra: Interview mit Wolfgang Engler | |
Ausland | Seite 41 |
Theater der DämmerungDas Teatro delle Albe im italienischen Ravenna erkundet in wundersamen Echoräumen die Verzerrungen unserer Zeitvon Renate Klett | |
Auftritt | |
Berlin: Die Poesie des DrecksTheater unterm Dach: „Nachtgeschwister“ (UA) nach Natascha Wodin und Wolfgang Hilbig. Regie Anja Schneider, Ausstattung Valerie von Stillfriedvon Lena Schneider | Seite 44 |
Bremerhaven: Polarexpedition in die HeimatStadttheater Bremerhaven: „Eistau“ (UA) von Natalie Driemeyer und Lorenz Langenegger nach Ilija Trojanow. Regie Till Wyler von Ballmoos, Ausstattung Emanuel Schulzevon Alexander Schnackenburg | Seite 45 |
Jena: Keineswegs willkommenTheaterhaus Jena: „My heart will go on“ (UA) von Claudia Grehn und Flüchtlingen. Regie Moritz Schönecker, Ausstattung Veronika Bleffert und Benjamin Schöneckervon Michael Helbing | Seite 46 |
Moers: Letzte WorteSchlosstheater Moers: „Todesstation“ (UA) von Susan Sontag. Regie Ulrich Greb, Bühne Birgit Angele, Kostüme Elisabeth Straußvon Frederike Juliane Jacob | Seite 47 |
München: Die Scherben des schönen ScheinsResidenztheater: „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ von Rainer Werner Fassbinder. Regie Martin Kušej, Bühne Annette Murschetz, Kostüme Heidi Hacklvon Christoph Leibold | Seite 48 |
Potsdam: Wer gesund ist, weiß es nur nicht besserHans Otto Theater: „Krebsstation“ (UA) von John von Düffel nach Alexander Solschenizyn. Regie Tobias Wellemeyer, Bühne Alexander Wolf, Kostüme Ines Burischvon Lena Schneider | Seite 49 |
Stück | |
Das andere Reich fordert seinen PlatzDie Autorin Lisa Danulat im Gespräch mit Sebastian Kirschvon Sebastian Kirsch und Lisa Danulat | Seite 50 |
Königreich / Kongeriketvon Lisa Danulat | Seite 51 |
Magazin | |
Der VerwandlerDem Schriftsteller Friedrich Dieckmann zum 75. Geburtstagvon Gunnar Decker | Seite 60 |
Briefe an die Redaktion: Der Schlüssel ist die richtige MischungUlrike Hessler, Intendantin der Semperoper Dresden, antwortet auf den Artikel „Wann stirbt die Oper?“ von Ralph Hammerthaler, TdZ 03/2012von Ulrike Hessler | Seite 62 |
kirschs kontexteKeine Wachsfiguren nach Auschwitz!von Sebastian Kirsch | Seite 63 |
Bücher | |
Aus der Welt des DazwischenMarion Brasch: Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 400 S., 19,99 EUR.von Hugo Velarde | Seite 64 |
Zehn Kilo Krug zum KnabbernMK Bilderbuch. Ein Sammelsurium. Mit Texten von Manfred Krug. Hg. von Krista Maria Schädlich und Oliver Schwarzkopf. Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2012, 344 S., 69,95 EUR.von Martin Linzer | Seite 65 |
Hamlet seziert und traktiertHerbert Fritsch: Elf Onkel. Filmgalerie 451, 2011, ca. 101 Min., 17,90 EURvon Sebastian Kirsch | Seite 65 |
Linzers Eck | Seite 67 |
Wo ich bin, ist keine ProvinzDas behauptete Christoph Schroth im September 1992, als er die Cottbuser Intendanz übernahm. Nun wird er 75. Ein Glückwunschvon Martin Linzer | |
Aktuell | Seite 68 |
Aus den KorrespondentenbürosSchlamassel in Stuttgart: Schauspiel zieht wieder ausvon Otto Paul Burkhardt | |
Aus den KorrespondentenbürosProtest in Polen: Theaterszene solidarisiert sich. Aus dem Polnischen von Iwona Nowackavon Witold Mrozek | |
Kommentar | Seite 69 |
Eine Frage der WürdeÜber Erpressung und Erniedrigung zweier Theater in Thüringenvon Michael Helbing | |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 70 |
Film: Menschliche Vulkanevon Ralf Schenk | Seite 72 |
Hörspiel: Vom Lieben und Betrügenvon Gerwig Epkes | Seite 72 |
In Nachbars Garten | Seite 73 |
Kunst: Forget Fearvon Bona Facius | |
Musik: In Peaches’ orpheischer Unterweltvon Ulrike Rechel | |
Premieren | Seite 75 |
Autoren | Seite 79 |
Impressum | Seite 79 |
Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Thomas Meinecke?von Sebastian Kirsch und Thomas Meinecke |
Holger Bergmann
Matthias Brenner
Tilmann Broszat
Otto Paul Burkhardt
Stefanie Carp
Lisa Danulat
Gunnar Decker
Amelie Deuflhard
Dorte Lena Eilers
Wolfgang Engler
Gerwig Epkes
Niels Ewerbeck
Bona Facius
Elisabeth Feller
Dirk Förster
Thomas Frank
Ralph Hammerthaler
Michael Helbing
Ulrike Hessler
Stefan Hilterhaus
Frederike Juliane Jacob
Dieter Jaenicke
Sebastian Kirsch
Renate Klett
Christophe Knoch
Christoph Leibold
Matthias Lilienthal
Martin Linzer
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Thomas Meinecke
Witold Mrozek
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Ralf Schenk
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Franziska Werner
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Thema | Seite 14 |
Erst durch Kultur wird Freiheit humanÜber mögliche Lektionen des „Kulturinfarkts“ und das Potenzial der Koalition der freien Szene in Berlinvon Gunnar Deckerzum Online-Extra: Fotoessay David Baltzer | |
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Hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht?Der Soziologe Wolfgang Engler über Risse im staatlichen Gewaltmonopol. Ein Gespräch anlässlich seines 60. Geburtstagsvon Wolfgang Engler und Holger Teschkezum Online-Extra: Interview mit Wolfgang Engler |
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