Heft 09/2013
Romeo Castellucci: Zurück in die Zukunft
Über die Vermessung der Welt von morgen
Broschur mit 140 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Wer sich mit dem Septemberheft auf eine Tour d’Horizon durch den Theatersommer 2013 begibt, wird bald zweier scheinbar voneinander unabhängiger thematischer Linien gewahr. Geschichte und Politik bilden das eine große Thema, wie Frank Castorfs wuchtige Interpretation von Wagners „Ring“ in Bayreuth zeigt. Gunnar Decker verfolgt, wie der Regisseur Wagner mit seinem Kunstwerk der Zukunft beim Wort nimmt. „Ein Gesamtkunstwerk für alle und kein Reservat für Besserverdienende“ (Durchschnittskartenpreis des „Rings“ derzeit 740 Euro!). In der von uns auf 16 Seiten abgebildeten Bühne Aleksandar Denic’ verlaufen sich „lauter Untergeher. Sie haben von Anfang an keine Zukunft, existieren schon viel zu lange!“ Im Gespräch mit Michael Schmidt zeigt Castorf die Verbindungen des Theaters mit den Kämpfen seiner Zeit auf, „wie Brecht das Berliner Ensemble in einer Zeit bekommen hat, die ebenfalls totalitär geprägt war, wie auch die Bismarck-Zeit, in die der Wagner hineingegangen ist. Sie haben so viele Parallelen mit ihrem Anarchismus, mit ihrem Revolutionismus. Wagner, in der Nähe der Barrikaden, mit Semper, mit Bakunin – gegen die Geldherrschaft, für die Gerechtigkeit, für die deutsche Kunst.“
Die Herrschaft des Geldes wird auch im „Gramsci Monument“ von Thomas Hirschhorn und Marcus Steinweg plastisch, die in der South Bronx in New York „die kapitalgelenkte Realität“ durchbrechen. „Das ‚Gramsci Theater‘ dreht sich unablässig um die Finanzmärkte und deren Geldschöpfung aus dem Nichts“, schreibt unser Korrespondent Matt Cornish. Das Stück des Volksbühnen- Philosophen Steinweg findet sich auf Seite 80. Dieser Zusammenhang lässt sich weiter fortsetzen mit Sebastian Kirschs Artikel über das neue Dunkel, das in Ungarn herrscht, und den Widerstand der Gießener Gruppe Mobile Albania, mit der heiklen und umso mutigeren Auseinandersetzung der Impulse Theater Biennale mit Israel oder der Kolumne von Josef Bierbichler, der dem Hitlermeese die Leviten liest.
Eine zweite Front tektonischer Reibungen eröffnet ein sich verändernder Blick auf die Technik, auf die Maschinen und ihre Auswirkungen. Parallel zu Snowdens unfassbaren Enthüllungen fragten sich die Theaterformen in Hannover, was wäre, wenn die Welt eine gesteuerte Computermanipulation wäre, während die Wiener Festwochen Busreisen ins stillgelegte Atomkraftwerk Zwentendorf anboten, wo der japanische Künstler Akira Takayama Bezüge zur Atomkatastrophe in Fukushima herstellt. Das von Romeo Castellucci kuratierte Malta Festival im polnischen Poznań stand dieses Jahr also nicht zufällig unter dem Topos „oh man, oh machine“. Hier traf Dorte Lena Eilers auf die Düsseldorfer Elektroniker Kraftwerk und lernte den Subtext des berühmten Hits „Wir sind die Roboter“ neu zu lesen bzw. zu hören: „Ihr seid die Roboter. Ihr seid auf alles programmiert. Und was ich will, wird ausgeführt.“ Im Interview mit Frank Raddatz erklärt Castellucci, der dieses Jahr mit dem Goldenen Löwen in Venedig ausgezeichnet wurde, dass Kunst ein Möglichkeitsraum und damit Zukunft ist. Das Gespräch bildet den Auftakt einer neuen Reihe mit Künstlern und Denkern über unser verändertes Verhältnis zum Kommenden. In dem einleitenden Essay beschreibt Frank Raddatz, wie im Zuge des Epochenbruchs von 1989 der Horizont einer verheißungsvollen Zukunft ersetzt wurde durch eine unendlich ausgedehnte Gegenwart, die sich im Theater als Hype von Performativität und Präsenzeffekten niederschlug. Doch auch „unsere breite Gegenwart“, so ein Buchtitel von Hans Ulrich Gumbrecht, kommt nicht umhin, die künftige Gestalt der Zukunft in Form eines Bedrohungshorizonts wahrzunehmen. Diese neuerliche Verschiebung des Zeithorizonts wird, wie sich bereits zeigt, nicht ohne Folgen für Kunst und Theater bleiben.
Wer es einrichten kann, dem sei ein Besuch der Ausstellung „Sagerts Welt“ in Neuhardenberg, kuratiert von Mark Lammert und Stephan Suschke, ans Herz gelegt. Ein Must-read ist auf jeden Fall Sebastian Kirschs feinfühliges Porträt dieses singulären und widerspenstigen Künstlers. Horst Sagerts Notat zur legendären Aufführung „Der Drache“ sei hier kurz zitiert: „Unter den Bewohnern dieser Stadt sind die Architekten die Lieblingshunde des Drachens. Bei der Befriedigung dieser Liebe sind sie von der Zierseuche befallen. In einer Nacht scheiden sie Ornamente für eine ganze Allee aus. Am Tage ameist es darin emsig und leicht erziehbar.“ //
Die Redaktion
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Wir freuen uns über die Zusammenarbeit mit dem Tanzquartier Wien, das ab dieser Ausgabe mit dem regelmäßigen, achtseitigen Supplement SCORES in Theater der Zeit vertreten ist.
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Kostüme, Szenerien, Collagen, Skulpturenvon Horst Sagert | Seite 8 |
Satyr im MittagsschattenEin Versuch über das kuriose Universalgenie Horst Sagertvon Sebastian Kirsch | Seite 12 |
Thema | |
Kannibalismus der GegenwartDas Theater verharrt in seinem Hang zu Präsenz und Echtzeit im ewigen Hier und Jetzt – und verkennt damit die entscheidenden Fragen von morgenvon Frank M. Raddatz | Seite 17 |
Die Vermessung der Welt von morgenEin Gespräch mit Romeo Castellucci, dem diesjährigen Kurator des Malta Festivals in Poznan, über die visionären Momente der Kunstvon Frank M. Raddatz und Romeo Castellucci | Seite 20 |
Ihr seid die RoboterDas Malta Festival in Poznań blickt in eine düstere Zukunft, in der die einen Maschinen sind, während die anderen sie klammheimlich lenkenvon Dorte Lena Eilers | Seite 24 |
bayreuth-spezial | |
Alberichs UndergroundFrank Castorfs „Ring des Nibelungen“ ist ein Roadmovie unter Tagevon Gunnar Decker | Seite 28 |
Der Big Big BurgerFrank Castorf über seine „Ring“-Inszenierung im Gespräch mit Michael Schmidtvon Frank Castorf und Michael Schmidt | Seite 36 |
Fotostrecke: Bühnenbilder zu Frank Castorfs „Ring“von Aleksandar Denić | Seite 38 |
Kommentar | Seite 43 |
Messer Messe Meesevon Josef Bierbichler | |
Protagonisten | Seite 44 |
Das MillionenspielWie die Stadt Halle mit der Regierung von Sachsen-Anhalt um das Schicksal ihrer Bühnen ringtvon Ralph Hammerthaler | |
Festivals | |
Alle im WebberlandMacht die Idee einer Kreativwirtschaft Kunst zur Ware auf dem Markt des Entertainment? Ein Aufruf zum Widerstand gegen den kommerziellen Imperativ anlässlich des Festivalsommers 2013von Mark Brown | Seite 56 |
Im BühnensumpfDas Festival Foreign Affairs in Berlin ließ Brisanz vermissen – und überzeugte nur dort, wo es mit neuen Formaten experimentiertevon Patrick Wildermann | Seite 58 |
Gemischtes DoppelDie scheidende Schauspielchefin Stefanie Carp holte die bildenden Künste zurück ins Programm der Wiener Festwochen – und stieß damit auf Berührungsängstevon Margarete Affenzeller | Seite 60 |
Auf BildungsreiseDie neu ausgerichtete Impulse Theater Biennale in Nordrhein-Westfalen wagt viel, verliert manches und sucht vor allem sich selbstvon Friederike Felbeck | Seite 62 |
Meine Maschine und ichDie Theaterformen 2013 in Hannover weckten mit simulierten Zeitreisen die Lust zur Manipulation der Realitätvon Theresa Schütz | Seite 64 |
In Herz und HirnDas Gießener Festival Büchner international jagt einen genialen Dramatikervon Shirin Sojitrawalla | Seite 66 |
Im IdeengewimmelGeizland, Urland, Land unter – Die Festivals Mahagonny, Out now! und Odyssee : Klima in Bremen und Bremerhavenvon Alexander Schnackenburg und Jens Fischer | Seite 68 |
Kolumne | Seite 71 |
Les MisérablesOder: Über das Musical – die Königin der Künstevon Nis-Momme Stockmann | |
Look Out | |
Schwing nicht mit der HüfteDie deutsch-iranische Tänzerin und Choreografin Modjgan Hashemian zeigt Menschen zwischen Wünschen, Restriktionen und drohendem Kriegvon Mehdi Moradpour | Seite 72 |
Wo der Regen klingt wie ApplausDer Schweizer Schauspieler Aaron Hitz singt wie Tom Waits und spielt wie der Teufelvon Elisabeth Feller | Seite 73 |
Ausland | Seite 74 |
Weltmeer aus TränenWie in Budapest die freie Szene den öffentlichen Raum zurückerobert, der unter der Orbán-Regierung längst nicht mehr öffentlich ist. Ein Reisebericht aus Ungarnvon Sebastian Kirsch | |
Stück | |
Gramsci sprengen in der South BronxDas „Gramsci Monument“ von Thomas Hirschhorn und Marcus Steinweg durchbricht in einem Brennpunkt von New York die kapitalgelenkte Realitätvon Matt Cornishzum Online-Extra: Bildergalerie "Gramsci Monument" | Seite 78 |
Gramsci Theatervon Marcus Steinweg | Seite 80 |
tanz-insert | Seite 89 |
SCORES | |
Magazin | |
Moses unchainedDer Prophet als Extremist? Feridun Zaimoglu und Günter Senkel radikalisierten in Oberammergau den biblischen Stoff – ohne ihn jedoch sprachlich zu frisierenvon Christoph Leibold | Seite 101 |
5 : 1 für den HumanismusMilo Raus „Moskauer Prozesse“ halten auch ein Jahr nach dem Urteil gegen Pussy Riot die Utopie einer Zivilgesellschaft in Russland lebendigvon Olga Galachowa | Seite 102 |
Kleckern oder klotzen?Wie die Stadt Oberhausen durch das Kollektiv geheimagentur einem Wettrausch verfielvon Friederike Felbeck | Seite 104 |
Wo unter harmlosen Zipfelmützen Hass entstehtMit dem Symposium „Gewalt! In der Mitte der Gesellschaft“ lotete das Theater Marburg Ort und Herkunft heutiger Gewalt ausvon Marcus Hladek | Seite 105 |
Warum überhaupt Europa?Das Young-Europe-Festival in Berlin stellte bohrende Fragen – und warb dennoch für den Kontinent der Krisevon Mehdi Moradpour | Seite 106 |
Schweiz unterDas Stück Labor Basel ging mit Inszenierungen von „Der Park“ und „Je veux mourir sur scène“ effektverliebt, aber auch pointensicher und vergnüglich zu Endevon Dominique Spirgi | Seite 107 |
MS EigensinnVom Kellertheater zum Theaterkahn: Das Dresdner Brettl, 1988 als „relativ selbständiges“ Theater in der DDR gegründet, feiert 25-jähriges Jubiläumvon Frank Hörnigk | Seite 108 |
kirschs kontexteTheater zu Hüpfburgen!von Sebastian Kirsch | Seite 109 |
Bilder gegen den StromDie Münchner Schauburg, das älteste westdeutsche Kinderund Jugendtheater, wird 60 – und gibt sich nach wie vor streitbarvon Rainer Hertwig | Seite 110 |
Glückwunsch und: Weitermachen!Dem Schauspieler Christian Grashof zum Siebzigstenvon Martin Linzer | Seite 111 |
Der andere GründervaterDer Publizist, Kritiker und Theaterwissenschaftler Henning Rischbieter verstarb am 22. Mai 2013 in Berlinvon Martin Linzer | Seite 112 |
Tratschender ProsperoDieter Dorn: Spielt weiter! Mein Leben für das Theater. Autobiografie. C. H. Beck, München 2013, 427 S., 24,95 EUR.von Christoph Leibold | Seite 114 |
„Liebe Mamama, hier passiert nichts“Peter Hacks schreibt an „Mamama“. Der Familienbriefwechsel 1945–1999. Hg. von Gunther Nickel, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2013, 992 S., 49,99 EUR.von Holger Teschke | Seite 115 |
Insularisierte IndividuenByung-Chul Han: Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns. Matthes & Seitz, Berlin 2013, 44 S., 5,00 EUR.von Leo Rufus Schwarz | Seite 115 |
Linzers Eck: DDR-Dramatik im GartenhäuschenEin Nachwort zur letzten Spielzeitvon Martin Linzer | Seite 117 |
Aktuell | Seite 118 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
FilmAlles für die Kunst?von Ralf Schenk | Seite 120 |
HörspielHörspielvon Gerwig Epkes | Seite 120 |
KunstHier ist das Licht!von Ute Müller-Tischler | Seite 121 |
MusikPilger, Traktoren und Recycling-Orchestervon Otto Paul Burkhardt | Seite 121 |
Aktuell | Seite 124 |
PremierenSeptember 2013 | |
Impressum/Vorschau | Seite 127 |
Gespräch | Seite 128 |
Was macht das Theater, Margit Bendokat?von Sebastian Kirsch und Margit Bendokat |
Margarete Affenzeller
Margit Bendokat
Josef Bierbichler
Mark Brown
Otto Paul Burkhardt
Romeo Castellucci
Frank Castorf
Matt Cornish
Gunnar Decker
Aleksandar Denić
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Friederike Felbeck
Elisabeth Feller
Jens Fischer
Olga Galachowa
Ralph Hammerthaler
Rainer Hertwig
Marcus Hladek
Frank Hörnigk
Sebastian Kirsch
Christoph Leibold
Martin Linzer
Mehdi Moradpour
Ute Müller-Tischler
Frank M. Raddatz
Horst Sagert
Ralf Schenk
Michael Schmidt
Alexander Schnackenburg
Theresa Schütz
Leo Rufus Schwarz
Shirin Sojitrawalla
Dominique Spirgi
Marcus Steinweg
Nis-Momme Stockmann
Holger Teschke
Patrick Wildermann
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Gramsci sprengen in der South BronxDas „Gramsci Monument“ von Thomas Hirschhorn und Marcus Steinweg durchbricht in einem Brennpunkt von New York die kapitalgelenkte Realitätvon Matt Cornishzum Online-Extra: Bildergalerie "Gramsci Monument" |
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