Auftritt

München: Überall im selben Sumpf

Residenztheater: „Reise ans Ende der Nacht“ von Louis-Ferdinand Céline in einer Fassung von Frank Castorf. Regie Frank Castorf, Bühne Aleksandar Denic, Kostüme Adriana Braga Peretzki

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Über allem stehen die Ideale der Französischen Revolution. Doch alles, was darunter passiert, spricht ihnen Hohn. „Liberté, Egalité, Fraternité“, prangt es in ehernen Lettern auf einem eisernen Bogen, der die Bühne überwölbt. Auf ihr hat Aleksandar Denic einen ebenso verwinkelten wie verlotterten Bretterbudenverhau zusammengenagelt; eine wild wuchernde Wellblechhüttenansammlung, irgendwo zwischen Elendsviertel und Künstlerkolonie. Und drüber eben der französische Wahlspruch, allerdings in dieselben Buchstaben gegossen, wie sie einst die Nazis verwendeten, um „Arbeit macht frei“ über das Eingangstor des Vernichtungslagers von Auschwitz zu schreiben. Ein ähnlicher Zynismus wohnt der Welt inne, die Louis-Ferdinand Céline in seinem 1932 erschienenen Debütroman „Reise ans Ende der Nacht“ beschrieb. Statt der Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bestimmen bei Céline die ausbeuterischen Mechanismen von Imperialismus, Kolonialismus und Militarismus die Menschen. Frank Castorf hat dieses wüste Werk nun fürs Münchner Residenztheater adaptiert – auf die ihm eigene, nicht minder wüste Art, mit sich verausgabenden Schauspielern, auf Schritt und Tritt begleitet von Videoteams, die minimale Regungen (kommen eher selten vor) und maximale Raserei (deutlich häufiger) live auf die Großleinwand übertragen. (Anti-)Held des Abends ist Ferdinand Bardamu, ein seelenverwahrloster Weltkriegsversehrter, von Céline durch Kriegswirren und Kolonien einmal um die halbe Welt gejagt. Doch egal ob Europa, Amerika oder Afrika, Urwald oder Großstadtdschungel – Bardamu watet überall im selben Sumpf.

Überflüssig, an dieser Stelle die Handlung detailliert zu referieren. Schon Céline erzählt episodisch und erratisch. Castorf tut es erst recht. Um die lineare Entwicklung eines Plots hat er sich ja noch nie geschert. Was seine Romanbearbeitungen für die Bühne wohltuend von den auf Digest-Format eingedampften Adaptionen vieler Kollegen unterscheidet. Mit gut viereinhalb Stunden fällt der Theaterbesuch zwar immer noch deutlich kürzer aus als die Lektüre des 700-Seiten-Wälzers, dennoch bleibt dem Regisseur noch Zeit genug, um ordentlich Verwirrung zu stiften – also Fremdtext einzumontieren (u. a. Passagen aus Heiner Müllers „Der Auftrag“, als Blues geröhrt), Episoden beliebig zu vertauschen und die Hauptrolle doppelt zu besetzen. Bibiana Beglau und Franz Pätzold geben den zweifachen Bardamu. Sie eine erfahrene Castorf-Spielerin, die noch in der größten Hysterie etwas Geschmeidiges, Selbstgewisses behält, ein androgyn-burschikoses Wunderwesen mit aufgemaltem Menjoubärtchen; er ein Bürschlein mit echtem, aber noch schütterem Bartwuchs, ein feinnerviges Jüngelchen von fast unschuldiger Anmutung und doch schon zutiefst verkommen. Beide zusammen: zwei Alter-Egomanen einer Figur. Bei Castorf muss Bardamu nicht erst noch eine „Reise ans Ende der Nacht“ unternehmen, er ist von Anfang an schon dort angekommen, in tiefster Seelenfinsternis. Kein Zufall, dass es kaum je richtig hell wird auf der Bühne.

Dafür glänzen die Schauspieler, natürlich Castorf-Style, also grell und flackernd. Franz Pätzold etwa, der als braver Ensemblespieler bisher noch nicht groß aufgefallen ist, beweist, dass auch Irrsinn in ihm steckt. Übertroffen wird er darin nur von Bibiana Beglau, von der man das aber auch kaum anders erwartet hat. Katharina Pichler als wuchtbrummige Prostituierte Molly oder Britta Hammelstein als püppchenhaftes Mädel Madelon dagegen sind echte Überraschungen.

Natürlich läuft auch diese Inszenierung wie so mancher Castorf-Abend immer wieder mal hochtourig leer. Und selbstverständlich geht einem das Dauergezeter und -gezappel zwischendurch gehörig auf den Zeiger. Die Frage aber, ob es sich hier nun um einen guten oder schon um einen sehr guten Castorf handelt, ist am Münchner Residenztheater ohnehin nicht der Maßstab. Hausherr Martin Kušej kämpft auch in seiner dritten Saison noch damit, den gediegenen Geist seines Vorgängers Dieter Dorn zu vertreiben. Diese Céline-Inszenierung, die eine erhebliche Herausforderung für angestammte Publikumsteile darstellt, bringt den Dorn-Exorzismus ein erfreuliches Stück voran. Bereits die zweite Vorstellung war geschätzt nur zu zwei Dritteln verkauft. Nach der Pause konnten sich die Zuschauer dann so richtig breit machen in ihren Sitzen. Die, die bis zum Ende blieben, bejubelten umso lautstärker die Aufführung – und ein klein wenig wohl auch sich selbst für die Ausdauer. //

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